Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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wofür sie andere Grundstücke erhalten. Aber das 
alles ist nur unter Verhältnissen möglich, die 
höchst primitiver Natur sind. Der russische Bauer 
ist ein sehr einfacher, anspruchsloser Mensch, der mit 
der ursprünglichsten Lebensweise vorlieb nimmt. 
Die Landwirtschaft Rußlands ist meist noch auf 
einer sehr niederen Stufe. Von Meliorationen ist 
so gut wie gar nicht die Rede. Die Lebens- 
anschauungen des Landvolks sind zudem sehr ein- 
heitlich. Mit Resignation fügt man sich in alles. 
Auf einer solchen Kulturstufe ist ein Familien= 
kommunismus denkbar, wie er bis vor einigen 
Jahren noch in den südflawischen Regionen, in 
Kroatien, Bulgarien und Serbien, in der Form 
der Zadruga bestand, in welcher mehrere patri- 
archalisch beisammen lebende, zusammen hausende 
und essende Familien einen Komplex von Grund- 
stücken gemeinsam bebauen und bewirtschaften. 
Aber wäre selbst in so einfachen Verhälktnissen 
unter Menschen von geringer Geistesbildung eine 
derartige Agrarverfassung möglich gewesen, wenn 
nicht die starke und häufig so harte Hand des 
Grundherrn, dessen Leibeigene die Bauernfamilien 
waren und der das Fett vom Arbeitsertrag der 
Bauern abschöpfte, selbst aber im Besitz freien 
Eigentums war, alles zusammengehalten und über- 
wacht hätte?: Die Mitteilungen Tolstojs und an- 
derer über die russischen Eigentumsverhältnisse und 
die traurige Lage der Bauern des großen slawi- 
schen Reichs lassen nur zu sehr erkennen, wie wenig 
die Agrarorganisation desselben den Menschen 
genützt hat. 
Trot alledem ist die Menschheit von der sozia- 
listischen Doktrin nicht befreit worden, vielmehr 
hat diese in den letzten Jahrzehnten an Verbreitung 
gewonnen, obgleich sich die materielle Lage des 
Arbeiterstandes in den meisten Ländern im großen 
und ganzen nicht nur infolge der staatlichen Schutz- 
gesetze, sondern auch infolge des humaneren Ent- 
gegenkommens der Unternehmer und besonders 
infolge der kräftigen Selbsthilfe und Organisation 
der Arbeiter bedeutend günstiger gestaltet hat. 
Die Kritik der Institution des Privateigen- 
tums an den Produktionsmitteln ist im Gegen- 
teil durch Karl Marx und seine Schüler mit wohl 
noch nie dagewesener Schärfe geübt worden. Die 
Darstellung der gegen sie ins Feld geführten Tat- 
sachen ist aber eine durchaus einseitige, welche alles 
Schlimme aufzählt und das Gute, den Bestand 
der auf das Privateigentum gegründeten Gesell- 
schafts= und Produktionsordnung vollständig 
Rechtfertigende unbeachtet läßt. Es ist die bekannte, 
den sozialistischen Versuchen einer Geschichts- und 
insbesondere einer Kulturgeschichtsschreibung eigen- 
tümliche Manier. Marx, sein langjähriger Freund 
und Mitarbeiter Friedrich Engels, K. Kautsky und 
der Engländer Hyndman u. a. sind die Proto- 
typen der Tendenzschriftstellerei auf sozialem und 
wirtschaftlichem Gebiet. 
Die Eigenart dieser neuen Ausprägung des so- 
zialistischen Gedankens, des sog. „wissenschaft- 
Sozialismus. 
  
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lichen“ Sozialismus (Marxismus), ergibt sich am 
klarsten aus ihrer Gegenüberstellung zum älteren, 
namentlich französischen Sozialismus. Während 
der ältere Sozialismus die Einrichtungen der 
bürgerlichen Gesellschaft als unvernünftig und un- 
gerecht bekämpfte, begnügt sich der „wissenschaft- 
liche“ Sozialismus mit der bloßen Feststellung 
der in der kapitalistischen Gesellschaft sich häufen- 
den Widersprüche, die mit Naturnotwendigkeit zur 
Auflösung der bestehenden Ordnung führen müssen. 
Die äälteren (,kritisch-utopistischen“) Sozialisten 
konstruierten den Zukunftsstaat aus dem Kopf. 
Der Marristische Sozialismus findet die Elemente 
und Keime der zukünftigen Gesellschaft in dem vor 
unsern Augen sich vollziehenden Auflösungsprozesse 
der gegenwärtigen, kapitalistischen Gesellschaft. 
Die „Utopisten“ machten Propaganda für ihre 
Ideen, Musterexperimente, appellierten an den 
Staat, die höheren Klassen der Gesellschaft. Marx 
und Engels erwarten nichts von den höheren 
Klassen, sondern alles von der Naturnotwendigkeit 
der geschichtlichen Entwicklung, von der Organi- 
sation der Arbeiterklasse, vom Klassenkampf des 
Proletariats. 
Die Weltanschauung, zu der die neue Lehre 
sich bekennt, entsteht aus einer Verbindung der 
Hegelschen Dialektik mit dem Feuerbachschen Ma- 
terialismus. Alles Sein ist Materie, die Daseins- 
weise der Materie aber Bewegung. Nicht die 
Idee ist der Demiurg des Wirklichen, wie bei 
Hegel, — die Gedankenwelt vielmehr der bloße 
Reflex der Bewegung im Stofflichen, alle Wissen- 
schaft somit Entwicklungslehre, der Sozialismus 
als „Wissenschaft“ die Entwicklungsgeschichte der 
Erscheinungen des sozialen Lebens, die Erforschung 
und Darlegung der immanenten Gesetze der so- 
zialen Evolution. 
Die materialistische Geschichtsauffas- 
sung belehrt uns über diese Gesetze zunächst im all- 
gemeinen. Die Geschichte einer jeden Epoche wird 
hiernach bestimmt durch ihre ökonomischen Verhält- 
nisse, durch die Art und Weise, wie die Menschen 
ihren Lebensunterhalt produzieren, die Güter aus- 
tauschen und verteilen. Während in der ursprüng- 
lichen kommunistischen Gesellschaft vollkommene 
Gleichheit herrschte, führte das Privateigentum 
zur Verschiedenheit des Besitzes, zu Klassenunter- 
schieden, Gegensätzen, Klassenkämpfen. Der Klassen- 
kampf bildet das die gesellschaftliche Entwicklung 
vollziehende Moment. Sein Ziel ist jedesmal die 
Emanzipation einer unterdrückten Klasse, das Ziel 
des gegenwärtigen Klassenkampfes zwischen Bour- 
geoisie und Proletariat: die Beseitigung aller 
Klassen. Mit der ökonomischen Unterlage ändert 
sich bei allen großen Wandlungen in der Geschichte 
der gesamte soziale und politische Uberbau. Aber 
auch die Prinzipien und Ideen folgen als ideo- 
logischer Uberbau dem Wechsel der ökonomischen 
Unterlage, die für alles das bestimmende Moment 
der Entwicklung darstellt. Recht, Moral, Reli- 
gion sind daher ebenso rein historische, veränder-
	        
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