Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

1275 
gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Fabrik- 
arbeiter, Einführung gewerblicher Schiedsgerichte 
usw. forderte, nicht anders denn „als eine Pro- 
vokation der Regierung, als ein sehr schwerer An- 
griff gegen die Wirtschaftspolitik der verbündeten 
Regierungen und des Reichstags selbst“ aufgefaßt 
werden könne; jede Beschränkung des Großbetriebs 
zugunsten des Kleinbetriebs „würde eine solche 
Schädigung unseres Nationalwohlstands sein, daß 
man die Verarmung der Nation und die Ent- 
völkerung Deutschlands als Resultat erwarten 
müßte“ (J. Wenzel a. a. O. 28). 
Erst im Lauf des folgenden Jahrzehnts gewann 
die Überzeugung von der Notwendigkeit eines ge- 
setzlichen Arbeiterschutzes nach und nach 
auch in den konservativen und liberalen Parteien 
mehr oder weniger entschiedene Anhänger. Und 
als endlich im Jahr 1890 — hauptsächlich unter 
dem Eindruck des ausgedehnten rheinisch-west- 
fälischen Bergarbeiterstreiks — die Februarerlasse 
Wilhelms II. kamen, als Fürst Bismarck, der bis 
zuletzt auf seinem ablehnenden Standpunkt be- 
harrte, zurücktrat und die verbündeten Regierungen 
eine Novelle zur Gewerbeordnung, bekannt unter 
dem Namen Arbeiterschutzgesetz, einbrachten, da 
fand dieses die Zustimmung aller Parteien mit Aus- 
nahme der Sozialdemokratie. (Über deren Hal- 
tung zur sozialpolitischen Gesetzgebung s. d. Art. 
Sozialdemokratie.) Schon vor Verabschiedung 
des Arbeiterschutzgesetzes war ein anderer wichtiger 
sozialpolitischer Fortschritt durch die gesetzliche 
(fakultative) Einführung der Gewerbegerichte (Ge- 
setz vom 29. Juli 1890) erfolgt (s. Bd II, 
Sp. 715). 
Diesem sozialpolitischen Aufschwung in der 
Reichsgesetzgebung folgte im Verlauf der 1890er 
Jahre freilich ein starker Rückschlag. Gegnerische 
Einflüsse erlangten wieder die Oberhand, das 
Interesse der konservativen und liberalen Parteien 
an einer Fortführung der Arbeiterschutzgesetzgebung 
erlahmte; auch in Regierungskreisen schlug der 
Wind völlig um, und statt auf weitere positive 
Reformen arbeitete eine mächtige Strömung, 
glücklicherweise ohne Erfolg, auf Schaffung neuer 
Repressivmaßregeln nach dem Muster des Bis- 
marckschen Sozialistengesetzes hin (Umsturz= und 
Zuchthausvorlage). Auf energischen Widerstand 
stießen dieselben aber bei der Zentrumspartei, 
welche auch nicht aufgehört hat, auf einen weiteren 
Ausbau der sozialpolitischen Gesetzgebung hinzu- 
drängen. „Unter den politisch stark ins Gewicht 
fallenden großen Parteien“, sagt H. Herkner (Die 
Arbeiterfrage (1897) 586 u. 588), „ist zweifels- 
ohne das Zentrum noch am nachdrücklichsten für 
eigentliche Arbeiterinteressen aufgetreten.“ Und: 
„Bei der allgemeinen sozialpolitischen Fahnen- 
flucht, welche unter den bürgerlichen Parteien 
gelegentlich der Bäckereiverordnung (1896) aus- 
brach, hat das Zentrum wacker standgehalten, und 
Adolf Wagner (Die Zeit II, Nr 37) hat ganz 
recht, wenn er erklärte, daß das Zentrum auf 
Sozialpolitik. 
  
1276 
sozialpolitischem Gebiet weitaus die verdienteste 
und rührigste der bürgerlichen Parteien sei.“ 
Eine günstigere Zeit für die Fortführung der 
Sozialpolitik setzte wieder ein, als der Staats- 
sekretär des Reichsamts des Innern, Graf Posa- 
dowsky, nach längerem Schwanken sich zu Anfang 
des neuen Jahrhunderts (1901/07) als entschie- 
denen, zielbewußten Sozialpolitiker bekannte (ogl. 
L. v. Wiese, Posadowsky als Sozialpolitiker, 
1909). Als Früchte seiner Ara sind vornehmlich 
zu nennen die Reform der Invalidenversicherung 
1899 und des Krankenversicherungsgesetzes 1903, 
die Ausdehnung der Arbeiterschutzbestimmungen 
auf alle Angestellten und Arbeiter in offenen Ver- 
kaufsstellen 1900, das Kinderschutzgesetz 1903, 
Novelle zum Gesetz über die Gewerbegerichte 1901, 
Berggesetznovelle 1905.Wertvolle Errungenschaften 
der nächsten Jahre sind die Novelle zur Gewerbe- 
ordnung vom 28. Dez. 1908, in Kraft getreten 
am 1. Jan. 1900, die im wesentlichen eine Er- 
weiterung des Arbeiterinnenschutzes (Zehnstunden- 
tag) sowie die Ausdehnung der Schutzbestim- 
mungen für weibliche und jugendliche Arbeiter 
auf alle Betriebe gewerblicher Art, die mindestens 
zehn Arbeiter beschäftigen, brachte, die Berg- 
arbeiterschutzuovelle vom 28. Juli 1909 (Ein- 
führung der Sicherheitsmänner) sowie das Stellen- 
vermittlergesetz vom 1. Okt. 1910 zur Bekämpfung 
der Mißstände in der gewerblichen Stellenvermit- 
lung. Der Entscheidung des Reichstags und der 
verbündeten Regierungen unterliegen noch das 
umfangreiche Werk einer Reichsversicherungsord- 
nung (Hinterbliebenenversorgung), die Entwürfe 
eines Arbeitskammergesetzes und eines Haus- 
arbeitsgesetzes. 
Die Forderung eines einheitlichen Vereinsrechts 
hat ihre Erfüllung gefunden durch das Reichs- 
vereinsgesetz vom 15. Mai 1908, nachdem bereits 
durch Reichsgesetz vom 11. Dez. 1899 das Ver- 
bindungsverbot für politische Vereine (einziger 
Paragraph: Inländische Vereine jeder Art dürfen 
miteinander in Verbindung treten. Entgegen- 
stehende landesgesetzliche Bestimmungen sind auf- 
gehoben) aufgehoben worden war. Noch unerfüllt 
sind die Forderungen der Sicherung und des 
weiteren Ausbaus des Koalitionsrechts der Arbeiter 
(( 152 Gew.O.) sowie einer auf freiheitlicher 
Grundlage aufgebauten Reglung der privatrecht- 
lichen Verhältnisse der Berufsvereine. Gerade 
letztere Forderungen, deren Verwirklichung eine 
wirksame Betätigung der Selbsthilfe ermöglichen 
sollen, gehören zu den wichtigsten, welche eine ziel- 
bewußte Sozialpolitik zu erfüllen hat. 
„Unsere ganze Zeit steht unter der Herrschaft 
des genossenschaftlich-sozialen Gedankens. Reich, 
Staat, Gemeinde leben und arbeiten in ihm, alle 
Berufe und Stände sind ihm in ihren gesellschaft- 
lichen und wirtschaftlichen Außerungen untertan, 
wir stehen mitten in einem Umbildungsprozeß, 
der die überkommenen Formen des Staats, der 
Gesellschaft und der Wirtschaft nicht zerstört, son-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.