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gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Fabrik-
arbeiter, Einführung gewerblicher Schiedsgerichte
usw. forderte, nicht anders denn „als eine Pro-
vokation der Regierung, als ein sehr schwerer An-
griff gegen die Wirtschaftspolitik der verbündeten
Regierungen und des Reichstags selbst“ aufgefaßt
werden könne; jede Beschränkung des Großbetriebs
zugunsten des Kleinbetriebs „würde eine solche
Schädigung unseres Nationalwohlstands sein, daß
man die Verarmung der Nation und die Ent-
völkerung Deutschlands als Resultat erwarten
müßte“ (J. Wenzel a. a. O. 28).
Erst im Lauf des folgenden Jahrzehnts gewann
die Überzeugung von der Notwendigkeit eines ge-
setzlichen Arbeiterschutzes nach und nach
auch in den konservativen und liberalen Parteien
mehr oder weniger entschiedene Anhänger. Und
als endlich im Jahr 1890 — hauptsächlich unter
dem Eindruck des ausgedehnten rheinisch-west-
fälischen Bergarbeiterstreiks — die Februarerlasse
Wilhelms II. kamen, als Fürst Bismarck, der bis
zuletzt auf seinem ablehnenden Standpunkt be-
harrte, zurücktrat und die verbündeten Regierungen
eine Novelle zur Gewerbeordnung, bekannt unter
dem Namen Arbeiterschutzgesetz, einbrachten, da
fand dieses die Zustimmung aller Parteien mit Aus-
nahme der Sozialdemokratie. (Über deren Hal-
tung zur sozialpolitischen Gesetzgebung s. d. Art.
Sozialdemokratie.) Schon vor Verabschiedung
des Arbeiterschutzgesetzes war ein anderer wichtiger
sozialpolitischer Fortschritt durch die gesetzliche
(fakultative) Einführung der Gewerbegerichte (Ge-
setz vom 29. Juli 1890) erfolgt (s. Bd II,
Sp. 715).
Diesem sozialpolitischen Aufschwung in der
Reichsgesetzgebung folgte im Verlauf der 1890er
Jahre freilich ein starker Rückschlag. Gegnerische
Einflüsse erlangten wieder die Oberhand, das
Interesse der konservativen und liberalen Parteien
an einer Fortführung der Arbeiterschutzgesetzgebung
erlahmte; auch in Regierungskreisen schlug der
Wind völlig um, und statt auf weitere positive
Reformen arbeitete eine mächtige Strömung,
glücklicherweise ohne Erfolg, auf Schaffung neuer
Repressivmaßregeln nach dem Muster des Bis-
marckschen Sozialistengesetzes hin (Umsturz= und
Zuchthausvorlage). Auf energischen Widerstand
stießen dieselben aber bei der Zentrumspartei,
welche auch nicht aufgehört hat, auf einen weiteren
Ausbau der sozialpolitischen Gesetzgebung hinzu-
drängen. „Unter den politisch stark ins Gewicht
fallenden großen Parteien“, sagt H. Herkner (Die
Arbeiterfrage (1897) 586 u. 588), „ist zweifels-
ohne das Zentrum noch am nachdrücklichsten für
eigentliche Arbeiterinteressen aufgetreten.“ Und:
„Bei der allgemeinen sozialpolitischen Fahnen-
flucht, welche unter den bürgerlichen Parteien
gelegentlich der Bäckereiverordnung (1896) aus-
brach, hat das Zentrum wacker standgehalten, und
Adolf Wagner (Die Zeit II, Nr 37) hat ganz
recht, wenn er erklärte, daß das Zentrum auf
Sozialpolitik.
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sozialpolitischem Gebiet weitaus die verdienteste
und rührigste der bürgerlichen Parteien sei.“
Eine günstigere Zeit für die Fortführung der
Sozialpolitik setzte wieder ein, als der Staats-
sekretär des Reichsamts des Innern, Graf Posa-
dowsky, nach längerem Schwanken sich zu Anfang
des neuen Jahrhunderts (1901/07) als entschie-
denen, zielbewußten Sozialpolitiker bekannte (ogl.
L. v. Wiese, Posadowsky als Sozialpolitiker,
1909). Als Früchte seiner Ara sind vornehmlich
zu nennen die Reform der Invalidenversicherung
1899 und des Krankenversicherungsgesetzes 1903,
die Ausdehnung der Arbeiterschutzbestimmungen
auf alle Angestellten und Arbeiter in offenen Ver-
kaufsstellen 1900, das Kinderschutzgesetz 1903,
Novelle zum Gesetz über die Gewerbegerichte 1901,
Berggesetznovelle 1905.Wertvolle Errungenschaften
der nächsten Jahre sind die Novelle zur Gewerbe-
ordnung vom 28. Dez. 1908, in Kraft getreten
am 1. Jan. 1900, die im wesentlichen eine Er-
weiterung des Arbeiterinnenschutzes (Zehnstunden-
tag) sowie die Ausdehnung der Schutzbestim-
mungen für weibliche und jugendliche Arbeiter
auf alle Betriebe gewerblicher Art, die mindestens
zehn Arbeiter beschäftigen, brachte, die Berg-
arbeiterschutzuovelle vom 28. Juli 1909 (Ein-
führung der Sicherheitsmänner) sowie das Stellen-
vermittlergesetz vom 1. Okt. 1910 zur Bekämpfung
der Mißstände in der gewerblichen Stellenvermit-
lung. Der Entscheidung des Reichstags und der
verbündeten Regierungen unterliegen noch das
umfangreiche Werk einer Reichsversicherungsord-
nung (Hinterbliebenenversorgung), die Entwürfe
eines Arbeitskammergesetzes und eines Haus-
arbeitsgesetzes.
Die Forderung eines einheitlichen Vereinsrechts
hat ihre Erfüllung gefunden durch das Reichs-
vereinsgesetz vom 15. Mai 1908, nachdem bereits
durch Reichsgesetz vom 11. Dez. 1899 das Ver-
bindungsverbot für politische Vereine (einziger
Paragraph: Inländische Vereine jeder Art dürfen
miteinander in Verbindung treten. Entgegen-
stehende landesgesetzliche Bestimmungen sind auf-
gehoben) aufgehoben worden war. Noch unerfüllt
sind die Forderungen der Sicherung und des
weiteren Ausbaus des Koalitionsrechts der Arbeiter
(( 152 Gew.O.) sowie einer auf freiheitlicher
Grundlage aufgebauten Reglung der privatrecht-
lichen Verhältnisse der Berufsvereine. Gerade
letztere Forderungen, deren Verwirklichung eine
wirksame Betätigung der Selbsthilfe ermöglichen
sollen, gehören zu den wichtigsten, welche eine ziel-
bewußte Sozialpolitik zu erfüllen hat.
„Unsere ganze Zeit steht unter der Herrschaft
des genossenschaftlich-sozialen Gedankens. Reich,
Staat, Gemeinde leben und arbeiten in ihm, alle
Berufe und Stände sind ihm in ihren gesellschaft-
lichen und wirtschaftlichen Außerungen untertan,
wir stehen mitten in einem Umbildungsprozeß,
der die überkommenen Formen des Staats, der
Gesellschaft und der Wirtschaft nicht zerstört, son-