Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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z. B. das Eindringen des Arbeiterschutzes in die 
Familie, wird jetzt als eine Selbstverständlichkeit 
hingenommen, weil es als Notwendigkeit erkannt 
wird“ (E. Francke, Soziale Praxis XI, Nr 36). 
Bei einer richtigen Bewertung des Gangs der so- 
zialpolitischen Gesetzgebung ist zu bedenken, daß 
ein Teil der Aufgaben, deren Lösung man von 
der staatlichen Gesetzgebung erwartete, von der 
Gewerkschaftsbewegung bzw. Tarifbewegung über- 
nommen worden ist. Hier ist z. B. unter anderem 
zu nennen die Einschränkung der Sonntags= und 
Uberarbeit, die Einrichtung der Betriebs= und 
Arbeitsräume, die Reglung des Lehrlingswesens, 
der Lohnzahlung usw. 
Gegen eine Fortführung unserer Sozialpolitik 
wird neuerdings vielfach eingewandt, sie belaste 
in ungebührlicher Weise die Industrie und des- 
halb müsse mit der sozialpolitischen Gesetzgebung 
endlich einmal Schluß gemacht werden. Daß die 
deutsche Industrie eine Reihe schwerer Lasten trägt, 
soll auch an dieser Stelle nicht geleugnet werden; 
aber diese dürften zu ihrem wesentlichsten Teil in 
den öffentlichen Abgaben an Staat und Gemein- 
den und viel weniger in den finanziellen Opfern, 
die unsere Sozialpolitik fordert, zu erblicken sein, 
und letztere höchstens einen kleinen Bruchteil der 
ersteren darstellen. Dazu aber muß man berück- 
sichtigen, daß die Kosten unserer sozialen Gesetz- 
gebung zu einem großen Teil auch von den Ar- 
beitern in der Gestalt deren Beiträge aufgebracht 
werden. Und endlich ist festzuhalten, daß die so- 
zialen Lasten bereits seit langem zu einem feststehen- 
den Produktionsfaktor geworden sind, auch in den 
Preisen ihren Ausdruck gefunden haben und in 
dieser Form nicht bloß von der Industrie und 
deren Arbeiterschaft, sondern der Gesamtheit der 
Konsumenten getragen werden. Wenn man weiter 
einwendet, durch die soziale Gesetzgebung werde 
unserer Industrie namentlich auch die Konkurrenz 
mit dem Ausland erschwert, die eine solche Gesetz- 
gebung in unserem Umfang nicht kenne, so muß 
dem gegenüber gehalten werden, daß es recht 
schwer fallen dürfte, hier exakte Vergleiche zu ziehen. 
Außerdem ist zu beachten, daß auch das Ausland 
(vgl. die neue allgemeine Staatsbürgerversorgung 
in England, die jüngste Altersversicherung in 
Frankreich u. a.) immer mehr dazu übergeht, dem 
Beispiel Deutschlands zu folgen, und daß dort, wo 
durch Versicherung für die Arbeiter nicht gesorgt 
ist, diese das Bestreben haben, durch höhere Löhne 
sich dafür schadlos zu halten, wie dies in Nord- 
amerika tatsächlich der Fall ist. Für die Bewertung 
unserer Sozialpolitik bzw. sozialen Gesetzgebung 
und die Beurteilung der durch sie erwachsenden 
Kosten darf im übrigen nicht vergessen werden, 
daß sie für die körperliche und geistige Gesunder- 
haltung unserer Arbeiter- und Angestelltenschaft 
und damit indirekt für die Leistungsfähigkeit der 
deutschen Industrie von entscheidender Bedeutung 
gewesen ist; und man darf gewiß wohl die Frage 
stellen, ob überhaupt der letzteren ihr Siegeszug in 
Staatslexikon. IV. 3. u. 4. Aufl. 
Sozialpolitik. 
  
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den jüngsten beiden Jahrzehnten wohl möglich ge- 
wesen wäre, wenn ihr die Sozialpolitik nicht zu 
einer leistungsfähigen Arbeiterschaft mitverholfen 
hätte. Gerade dieser große Gesichtspunkt erscheint 
für die Beurteilung der ganzen Frage so wesent- 
lich, daß kleinlichere Bedenken dahinter zurücktreten 
müssen. 
Eine gründliche Sozialreform erfordert aber 
neben der sozialpolitischen Gesetzgebung auch eine 
soziale Verwaltungspolitik. Auch die 
öffentliche Verwaltung muß von sozialen Grund- 
sätzen durchdrungen und getragen sein. Das ist 
in mancher Hinsicht schon erforderlich, wenn die 
von der Gesetzgebung aufgestellten Grundsätze in 
der Praxis voll zur Wirkung kommen sollen. 
UÜberdies hat sich die Verwaltungspolitik selb- 
ständig auf dem Gebiet der Sozialreform zu be- 
tätigen; für sie ist es noch weniger wie für die 
Gesetzgebung möglich, etwa ein bestimmtes sozial- 
politisches Ressort abzugrenzen, denn die soziale 
Frage greift heute so ziemlich in alle Ressorts der 
Verwaltungspolitik hinein und heischt Berücksich- 
tigung. „Das Eintreten sozialer Gesichtspunkte 
in die Verwaltung hat zur Folge, daß man die 
einzelne Maßregel (in volkswirtschaftlicher Hin- 
sicht) nicht mehr bloß darauf prüft, wie sie auf die 
Vermehrung des Wohlstands im ganzen, sondern 
auch, wie sie auf die einzelnen Schichten des Volks 
wirkt... Unbewußt wirken Rücksichten auch auf 
einzelne soziale Schichten zu allen Zeiten mit. 
Jede Verwaltung ist beherrscht von den sozialen 
Anschauungen der Gesellschaftsklasse, aus der ihre 
leitenden Kräfte hervorgegangen sind und täglich 
neu hervorgehen. Hier zeigt sich der Einfluß der 
Sozialpolitik gerade darin, daß die Einseitigkeit 
der eignen Anschauung zum Bewußtsein kommt 
und neben den Interessen der herrschenden Klasse 
die der andern zur Berücksichtigung sich melden“ 
(J. Jastrow, Sozialpolitik und Verwaltungs- 
wissenschaft 43). 
Wie sehr es freilich noch vielfach an genügendem 
sozialpolitischem Verständnis fehlt, offenbart sich 
nirgends deutlicher wie zeitweilig in dem Verhalten 
von Behörden, Gerichten und Polizeiorganen zur 
Arbeiterbewegung, insbesondere zum Koalitions= 
recht der Arbeiter. Die Klagen über Engherzig- 
keit und Willkür, über Mangel an Gerechtigkeit 
und Unterdrückung berechtigter Selbsthilfe sind 
leider oft nur zu begründet. In zahlreichen Amts- 
stuben und Kabinetten herrscht noch — vielleicht 
weniger in bewußter Absicht als infolge tief ein- 
gewurzelter Vorurteile — ein der heutigen Ar- 
beiterbewegung feindlicher Geist, der in jeder, auch 
der berechtigtsten Außerung dieser Bewegung eine 
Gefahr für den Staat wittert und zu Maßregeln 
führt, durch welche eine gedeihliche soziale Ent- 
wicklung keineswegs gefördert, sondern im Gegen- 
teil gehemmt wird. Dabei mag zugestanden werden, 
daß die unselige Verquickung des größten Teils der 
organisierten Arbeiterbewegung mit der politischen 
Sozialdemokratie die Arbeiterbewegung überhaupt 
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