Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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vielfach in Mißkredit gebracht und mit dazu bei- 
getragen hat, Vorurteile gegen sie zu nähren, die 
aber in keiner Weise zu Recht bestehen. — Ander- 
seits fehlt es in neuester Zeit doch nicht an Bei- 
spielen dafür, daß die Verwaltungsorgane des 
Staats, insbesondere die höheren, sich die oben 
gekennzeichnete soziale Anschauungsweise anzu- 
eignen und danach zu handeln bestrebt sind. Be- 
lege hierfür liefern so manche Verwaltungsmaß- 
nahmen, z. B. zur Hebung des Handwerker= und 
Gewerbestands durch zweckmäßigere Reglung des 
Submissionswesens, Verbesserung des gewerblichen 
Unterrichts, Verbreitung technischer Hilfsmittel 
bei Vergebung öffentlicher Arbeiten und Liefe- 
rungen u. dgl. In dieser Richtung ist man na- 
mentlich in Osterreich und in süddeutschen Bundes- 
staaten vorgegangen, und auch in Preußen hat 
man begonnen, im Sinn dahingehender Forde- 
rungen des Abgeordnetenhauses (Antrag Trim- 
born, 1902, der ein vollständiges, systematisch 
aufgebautes Gewerbeförderungsprogramm enthält, 
das heute übrigens schon zu einem großen Teil 
verwirklicht ist) auf eine wirksamere Unterstützung 
des Handwerkerstands Bedacht zu nehmen. Hier 
kommen ferner in Betracht z. B. die Maßnahmen 
zur Förderung der landwirtschaftlichen Genossen- 
schaften, des ländlichen Versicherungs= und Bil- 
dungswesens, zur Ausgestaltung des allgemeinen 
öffentlichen Arbeitsnachweises und der Arbeits- 
losenversorgung, zur Unterstützung von Spar= und 
Bauvereinen, Maßnahmen der sozialen Hygiene 
zur Bekämpfung derjenigen Krankheiten, welche 
vorwiegend in sozialen Mißständen ihren Nähr- 
boden finden, wie die Tuberkulose, Alkoholismus, 
Säuglingssterblichkeit, oder Maßnahmen zur He- 
bung der allgemeinen Volksbildung, dieser not- 
wendigen Grundlage für eine durchgreifende So- 
zialreform. Über Anfänge ist man indes meist noch 
nicht besonders weit hinausgekommen; es bleibt 
noch ein weiter Weg bis zu jenem Ziel zurück- 
zulegen, daß die Staatsverwaltung von sozial- 
politischen Grundsätzen durchdrungen und ge- 
tragen ist. 
Gleiches wie von der Staatsverwaltung gilt 
endlich von der Kommunalverwaltung, 
welche sogar besonders befähigt erscheint, Sozial- 
politik zu treiben. Nicht nur können die Gemeinde- 
behörden in mancher Hinsicht einen viel besseren 
Einblick in die sozialen Verhältnisse gewinnen 
als die Organe des Staats, sie vermögen auch 
ihre Hilfe mehr den örtlichen Bedürfnissen an- 
zupassen, daher vielfach selbst da einzugreifen, 
wo die staatliche Sozialpolitik mehr oder weniger 
versagen muß. Nirgends fehlt es in der kom- 
munalen Verwaltung an der Gelegenheit, aber 
auch nirgends an der Verpflichtung zu sozialer 
Betätigung, sei es im Wohnungswesen oder in der 
öffentlichen Gesundheitspflege, im Volksschulwesen 
oder in der allgemeinen Bildungsfürsorge (Fort- 
bildungsunterricht, Volksbibliotheken, Lesehallen 
usw.), im Steuerwesen oder in einer dem Gemein- 
Sozialpolitit. 
  
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wohl dienlichen Einrichtung und Verwaltung kom- 
munaler Betriebe (Wasser-, Gas-, Elektrizitäts- 
werle, Straßenbahnen usw.) und gemeinnütziger 
Anstalten (Arbeitsnachweis, Sparkasse, Volks- 
bureau), der Reglung der wirtschaftlich-sozialen 
Verhältnisse für Arbeiter und Beamten wie be- 
sonderer Schichten ihrer Bürger, z. B. des Mittel- 
stands usw. Erst im letzten Jahrzehnt beginnt sich 
auch in Deutschland allmählich die Erkenntnis 
Bahnzr brechen, wie notwendig eine kommunale 
Sozialpolitik ist. Nach dem Vorbild großer 
ausländischer, insbesondere englischer Kommunal= 
verwaltungen sind eine Reihe von bedeutenden 
Stadtgemeinden, vor allem in Süd= und West- 
deutschland, vorgegangen; indes haben bereits auch 
kleinere Städte, sogar Landgemeinden erfreuliche, 
von echt sozialer Gesinnung zeugende Leistungen 
aufzuweisen. Im großen und ganzen allerdings, 
das muß auch hier wieder gesagt werden, handelt 
es sich vielfach noch um Anfänge, wenn anderseits 
auch die bedeutsamen Fortschritte namentlich in 
einer Reihe von Großstädten nicht übersehen wer- 
den sollen; noch findet bei weitem nicht überall 
und nicht in jeder Hinsicht der Grundsatz praktische 
Anerkennung, daß nicht eine eigensüchtige Inter- 
essenpolitik, die nur einer beschränkten Minderheit 
zugute kommt, in der Gemeindeverwaltung das 
Wort führen darf, sondern die Interessen aller, 
auch derjenigen, die auf der sozialen Stufenleiter 
am tiefsten stehen, hier gleichmäßige Berücksich- 
tigung finden sollen. „Wenn man in den Glie- 
dern des Gemeinwesens nicht Herrschende und 
Beherrschte unterscheidet, sondern alle Gemeinde- 
angehörigen als Genossen in dem guten alten Sinn 
betrachtet, so denkt man sozial, und eine Gemeinde, 
die die ihr obliegenden Aufgaben in dieser Gesin- 
nung ausführt, wird damit kommunale Sozial- 
politik treiben“ (E. Münsterberg, Soziale Praxis, 
VII. Jahrg.). 
Es ist endlich noch derjenigen Bestrebungen zu 
gedenken, welche sich außerhalb der Organe der 
Gesetzgebung und Verwaltung geltend machen, 
um auf die Entwicklung der Sozialpolitik einen 
fördernden Einfluß auszuüben, welche da- 
mit also in gewissem Sinn auch Sozialpolitik 
treiben. Wenn man von den wissenschaftlichen 
Vorarbeiten absieht, welche der Sozialpolitik die 
Wege ebnen, wie es in Deutschland durch den 
Verein für Sozialpolitik in so hervorragender 
Weise geschieht, so ist unter den praktischen Bestre- 
bungen in erster Linie die Internationale 
Vereinigung fürgesetzlichen Arbeiter- 
schutz zu nennen. Von den Gegnern der Sozial- 
reform wird oft als Hindernis für die Fortführung 
der Arbeiterschutzgesetzgebung die sozialpolitische 
Rückständigkeit der meisten auf dem Weltmarkt 
konkurrierenden Industriestaaten bezeichnet. So 
wurde die Aufmerksamkeit der Freunde der So- 
zialreform immer nachdrücklicher auf die Notwen- 
digkeit internationaler Arbeiterschutzbestrebungen 
gelenkt. Die Folge hiervon war die Bildung einer
	        
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