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Staat sich nicht mehr lange aufhalten lasse, hatte
auch Maura erkannt und im Juni 1904 eine Re-
vision des Konkordats mit dem Heiligen Stuhl
abgeschlossen, die aber im spanischen Senat schei-
terte. Canalejas führte anfangs die Verhand-
lungen in Rom weiter, setzte jedoch gleichzeitig eine
Reihe kirchenpolitischer Maßnahmen ins Werk.
Das Dekret vom 30. Mai 1910, das allerdings
das vom Heiligen Stuhl gebilligte Dekret vom
9. April 1902 nur erneuerte, unterwarf alle Orden
außer den drei im Konkordat vorgesehenen dem
Vereinsgesetz vom 30. Juni 1887, wonach ihre
Niederlassungen die staatliche Genehmigung nach-
zusuchen, Statuten, Personen= und Vermögens-
stand einzureichen und Gewerbesteuer zu bezahlen
haben. Ein Dekret vom 11. Juni 1910 erlaubte
auch den Akatholiken, ihren Kirchen ein kirchliches
Außeres zu geben. Ein vom Senat am 4. Nov.
1910 mit 149 gegen 85 Stimmen, am 23. Dez.
1910 in der Zweiten Kammer mit 174 gegen
54 Stimmen angenommenes Sperrgesetz (ley del
candado) besagt: „Keine neue Vereinigung, welche
den religiösen Orden oder Korporationen angehört,
die durch die kanonischen Gesetze anerkannt werden,
wird errichtet werden, bis ihre rechtliche Lage end-
gültig geregelt ist, außer mit Genehmigung des
Justizministers durch königliches Dekret. Diese
Genehmigung wird nicht erteilt, wenn mehr als
ein Drittel der Mitglieder der neuen Vereinigung
Ausländer sind. Dieses Gesetz tritt außer Kraft,
wenn innerhalb der nächsten zwei Jahre ein neues
Vereinsgesetz verkündigt worden ist.“ Die Kar-
listen und Integristen versuchten eine längere Ob-
struktion in der Kammer; diese aber tagte in
Nachtsitzungen, weil Canalejas das Gesetz unbe-
dingt durchsetzen wollte, und so ermüdete die Ob-
struktion des verhältnismäßig kleinen Haufens
ziemlich schnell, da das Gros der Konservativen
sich neutral verhielt. Die Art des Vorgehens, der
Ton, der vom Ministerium gegenüber den Pro-
testen des Heiligen Stuhls angeschlagen wurde,
die Beurlaubung des Botschafters beim Vatikan
und nicht zuletzt die Unterstützung des Ministe-
riums durch die äußerste Linke lassen voraussehen,
daß sich eine Trennung von Kirche und Staat
vorbereitet (ogl. Sp. 1308). Uberhaupt sind die
Republikaner und Sozialisten in letzter Zeit noch
weiter angewachsen und durch den Sturz der
Monarchie in Portugal (5. Okt. 1910) ermutigt
worden.
In der äußern Politik hat Spanien die lange
beobachtete Isolierung in den letzten Jahren auf-
gegeben und sich der Entente Englands und Frank-
reichs angeschlossen. Den Anfang dazu bildeten
die Geheimverträge mit Frankreich über Marokko
vom 3. Okt. 1904 und 1. Sept. 1905, worin
Spanien das Rif als Interessensphäre zugesprochen
wurde. Auf der Algeciraskonferenz 1906 unter-
stützte Spanien, die französische Politik und be-
teiligt sich seitdem an der Hafenpolizei in Marokko.
Am 31. Mai 1906 vermählte sich der König mit
Spanien.
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der dem englischen Hof nahestehenden Prinzessin
Viktoria von Battenberg. Wiederholte Besuche der
Staatsoberhäupter, Verträge über zwei neue
Pyrenäenbahnen, das Mittelmeerabkommen Eng-
lands, Frankreichs und Spaniens vom 16. Mai
1907, das den Besitzstand der drei Mächte im
westlichen Mittelmeer garantierte, bekräftigten die
Freundschaft. Nach einem Geheimabkommen von
1907 zwischen Spanien und England soll die
spanische Seemacht mit englischer Hilfe verstärkt
und jedenfalls in gewissem Grad England zur
Verfügung gestellt werden; demgemäß bewilligten
die Cortes im Nov. 1907: 200 Mill. Pesetas zum
Bau eines neuen Geschwaders und zur Instand-
setzung der Kriegshäfen und Arsenale von Cädiz,
Cartagena und Ferrol. Dank dem Wohlwollen
Frankreichs und Englands gelang es Spanien,
1909/10 seine Stellung im marokkanischen Rif zu
verstärken. Während der Herrschaft eines Präten-
denten im Rif hatten sich von ihm zwei spanische
Gesellschaften Bergbaukonzessionen erteilen lassen
und mit Bahnbauten zur Ausbeutung der Erzlager
bei Melilla begonnen. Die Angriffe der Kabylen
auf diese Unternehmungen veranlaßten Spanien zu
einem förmlichen Feldzug (Juli 1909 bis Jan.
1910) um Melilla. Am 15. Nov. 1910 kam ein
Vertrag mit Marokko zustande, wonach Marokko
die spanischen Kriegskosten, 65 Mill. Pesetas,
binnen 75 Jahren bezahlt und bis dahin den
Spaniern Verwaltungs= und Polizeirechte in der
Umgebung seiner Presidios zusichert.
II. Fläche und Bevölkerung. Das Gebiet
des spanischen Staats umfaßt 504 536 qkm;
davon entfallen auf die Provinzen des Festlands
492 432, auf die Balearen 5014, auf die Ka-
narischen Inseln, die zum Mutterland gezählt
werden, 7273 qkm, auf die zur Provinz Cäadiz
gerechnete Stadt Ceuta in Nordafrika samt Ge-
biet 6 qkm. Neben der Einteilung in Pro-
vinzen zu Verwaltungszwecken (s. unten III) hat
sich im Volksbewußtsein die ältere geschichtlich er-
wachsene Einteilung in die Landschaften (ehe-
malige Königreiche und Fürstentümer) Galicien,
Asturien, Leön, Altkastilien, Neukastilien, Estre-
madura, Andalusien, Murcia, Valencia, Kata-
lonien, Aragonien, Navarra und die Baskischen
Provinzen erhalten. Die ortsanwesende Bevöl-
kerung betrug 1900;: 18618 086 Einwohner
(9087 821 männliche, 9 530 265 weibliche), die
gesetzliche 18 831 574 Seelen (einschließlich der
nordafrikanischen Presidios). Für Anfang 1900
wird die Bevölkerung auf 20 068 400 Seelen
berechnet. Die Dichtigkeit (39 auf 1 qkm)
nimmt im allgemeinen vom Zentrum des Landes
nach der Peripherie hin zu; die schwächste Be-
völkerung haben die Provinzen Soria (15) und
Cuenca (16 auf 1 qkm), die dichteste Biscaya
(175), Barcelona (153), Pontevedra (111),
Guipüzcoa (103), Madrid (108), Coruna (90)
und Alicante (88). Großstädte sind (nach der
Zählung von 1900) nur 5 vorhanden: Madrid