Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

1347 
Naturzustand (Spinoza stimmt hierin mit Hobbes 
überein) die Menschen einander Feinde (Tr. pol. 
2, 14; 8, 12). — Ob Spinoza diesen vom 
Kampf beherrschten Naturzustand (status natu- 
ralis, Gegensatz status eivilis, ebd. 3, 3) als 
eine historische Tatsache, als eine der Staaten-= 
gründung wirklich voraufgegangene Vorstufe denkt, 
oder ob er damit eine bloße begriffliche Konstruk- 
tion dessen, was aus der ungeregelten Natur des 
Menschen als eines Affektenwesens folgen würde, 
erblickt, erfahren wir nicht; aber alles weist doch 
auf die erste Auffassung hin. 
Durch den im Naturzustand herrschenden Kampf 
wird das Naturrecht illusorisch, da ihm die Sicher- 
heit fehlt und darum jeder in steter Furcht leben 
muß. Aus dieser Furcht kann nur die Garantie 
des Rechts durch die Gemeinschaft, den Staat, 
befreien. Mit diesem Hobbes entnommenen Motiv 
verbindet Spinoza auch die herkömmlichen Über- 
legungen über die Schwäche des Menschen, der 
für sich allein ein elendes Leben führen würde, 
sowie über seine gesellige Natur, die ihn zur Ge- 
meinschaft treibt; weshalb denn auch Spinoza, 
inkonsequent genug, wenigstens in der späteren 
Schrift mit dem Hobbesschen homo homini 
hostis auch die aristotelisch-scholastische Auffas- 
sung vom Menschen als animal sociale verbindet 
(Tr. pol. 2, 15; 6, 1). — Die gesellschaftliche 
Ordnung ist eine Vernunft ordnung, ein Leben 
unter der Herrschaft der Vernunft (ex solo rationis 
dictamine: Tr. theol.-pol. 16, p. 554). Denn 
nur soweit die Menschen der Vernunft folgen, stim- 
men sie überein (Eth. 4, 35). Darum ist auch das 
Recht des Staats, wie es durch die Gesetzgebung 
bestimmt wird, nur dann ein dauerndes und hat 
nur dann die Macht, sich durchzusetzen, wenn es 
ein vernünftiges ist (Tr. pol. 8, 2. 7). Im 
Staat tritt nach Spinozas Auffassung der Mensch 
gewissermaßen aus dem Zustand des Aufgehens in 
die Allnatur, die alles Natürliche in gleicher Weise 
billigt, heraus, um ein der besondern menschlichen 
Vollkommenheit, dem vernünftigen Denken, ent- 
sprechendes engeres Reich zu begründen. Die 
naturalistische Betrachtung macht einer rationalen 
Platz. Nichtsdestoweniger läßt Spinoza, ab- 
weichend von Hobbes, die „Staatengründung“ 
nicht direkt aus der menschlichen Vernunft ent- 
springen, sondern (besonders deutlich im späteren 
Tractatus politicus) aus dem Affekte. Dazu 
nötigt ihn sein Prinzip, daß der Affekt nicht durch 
die Vernunft überwunden werden kann, sondern 
nur durch einen andern Affekt (der als geordneter 
freilich aus der Vernunft soll stammen können). 
Die Ursache der Staatengründung sieht er darum 
nicht unmittelbar in der Vernunft, sondern in den 
Affekten der Furcht, Hoffnung und des Begehrens; 
nicht aber in diesen Affekten, sofern sie verschieden 
gerichtet sind, sondern in einem gemeinsamen 
Fürchten, Hoffen und Begehren (Tr. pol. 6, 1). 
Als vernünftige Ordnung begründet die staat- 
liche Gemeinschaft zugleich die Freiheit. Denn 
Spinoza. 
  
  
1348 
die Freiheit in Spinozas Sinn besitzt der Mensch, 
unbeschadet der allseitigen Determination des 
menschlichen Handelns, wenn er allein dem Zug 
der Vernunft folgt (ebd. 6, 7. 11). So erhält 
die Staatstheorie Spinozas von vornherein — im 
Gegensatz zu der des Hobbes — eine Richtung auf 
die Freiheit, die am entschiedensten in dem Satz 
des älteren Werks sich ausspricht, daß das Ziel 
des Staats die Freiheit sei (Finis reipublicae 
revera libertas est: Tr. theol.-pol. 20, p. 604). 
Mit dem unhistorischen und individualistischen 
Naturrecht seiner Zeit, insbesondere an Hobbes 
sich anschließend, führt Spinoza die Vereinigung 
zum Staat auf einen Vertrag (pactum) zurück, 
den die einzelnen schließen (ebb. 16. Im Trac- 
tatus politicus wird, wie schon oben bemerkt, 
die Sache nicht berührt). Derselbe kann ein still- 
schweigender oder ein ausdrücklicher (pactum 
tacitum vel expressum, ebd. p. 560) sein. In 
diesem Pakt kommen alle überein, das Recht, das 
jeder von Natur auf alles hat, gemeinschaftlich zu 
besitzen und von Gemeinschafts wegen festzusetzen, 
und es übertragen die einzelnen alle ihre Macht 
auf die Gemeinschaft (societas). Insofern also 
der Vertrag nicht nur Rechte, sondern auch Macht 
überträgt, ist er nicht nur ein Rechtsakt, sondern 
zugleich ein Tatakt (als Vergesellschaftung der 
Macht); wobei aber zu bemerken ist, daß bei 
Spinoza Recht und Macht zusammenfallen. — 
Durch diese Übertragung erhält die Gemeinschaft 
das Naturrecht auf alles, welches vorher den Ver- 
tragschließenden selbst eigen war. Sie hat die 
Oberherrschaft (summum imperium), und alle 
Glieder der Gemeinschaft sind gehalten, ihr zu ge- 
horchen, mögen sie nun willig folgen oder durch 
Strafen dazu gezwungen werden. 
Wie Hobbes und später Rousseau (s. d. Art. 
Rousseau Sp. 731) unterscheidet also auch Spi- 
noza im Tractatus theologico-politicus nicht, 
gleich Grotius, Pufendorf und der damals ver- 
breiteten Theorie überhaupt, zwischen dem Eini- 
gungsvertrag, der das Volk entstehen läßt, und 
dem Herrschaftsvertrag, durch den vom Volk die 
Herrscherrechte der Herrscherpersönlichkeit über- 
tragen werden. Nur beiläufig und in mehr histo- 
rischem Zusammenhang spricht er im theologisch- 
politischen Traktat von der Möglichkeit, daß das 
Volk einem König die Herrschaft übertrage (Tr. 
theol.-pol. 20, p. 589 f). Vielmehr schafft bei Spi- 
noza derselbe Vertrag, der die Gemeinschaft her- 
stellt, zugleich die Staats= und Herrscherpersönlich- 
keit. Diese Staats= und Herrscherpersönlichkeit 
aber ist, wie bei Rousseau, dessen Vorgänger Spi- 
noza hier ist, das Volk selbst. Ihm kommt die 
Souveränität zu; denn das summum imperium, 
von welchem Spinoza spricht (ebd. 16, p. 556), 
das ius supremae maiestatis (ebd. 18, p. 591) 
oder ius summae potestatis (ebd. 16, p. 560) 
ist die Souveränität im staatsrechtlichen (nicht 
im völkerrechtlichen) Sinn (vgl. oben Sp. 736). 
So geht hier aus der Vertragstheorie nicht, wie 
 
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.