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Naturzustand (Spinoza stimmt hierin mit Hobbes
überein) die Menschen einander Feinde (Tr. pol.
2, 14; 8, 12). — Ob Spinoza diesen vom
Kampf beherrschten Naturzustand (status natu-
ralis, Gegensatz status eivilis, ebd. 3, 3) als
eine historische Tatsache, als eine der Staaten-=
gründung wirklich voraufgegangene Vorstufe denkt,
oder ob er damit eine bloße begriffliche Konstruk-
tion dessen, was aus der ungeregelten Natur des
Menschen als eines Affektenwesens folgen würde,
erblickt, erfahren wir nicht; aber alles weist doch
auf die erste Auffassung hin.
Durch den im Naturzustand herrschenden Kampf
wird das Naturrecht illusorisch, da ihm die Sicher-
heit fehlt und darum jeder in steter Furcht leben
muß. Aus dieser Furcht kann nur die Garantie
des Rechts durch die Gemeinschaft, den Staat,
befreien. Mit diesem Hobbes entnommenen Motiv
verbindet Spinoza auch die herkömmlichen Über-
legungen über die Schwäche des Menschen, der
für sich allein ein elendes Leben führen würde,
sowie über seine gesellige Natur, die ihn zur Ge-
meinschaft treibt; weshalb denn auch Spinoza,
inkonsequent genug, wenigstens in der späteren
Schrift mit dem Hobbesschen homo homini
hostis auch die aristotelisch-scholastische Auffas-
sung vom Menschen als animal sociale verbindet
(Tr. pol. 2, 15; 6, 1). — Die gesellschaftliche
Ordnung ist eine Vernunft ordnung, ein Leben
unter der Herrschaft der Vernunft (ex solo rationis
dictamine: Tr. theol.-pol. 16, p. 554). Denn
nur soweit die Menschen der Vernunft folgen, stim-
men sie überein (Eth. 4, 35). Darum ist auch das
Recht des Staats, wie es durch die Gesetzgebung
bestimmt wird, nur dann ein dauerndes und hat
nur dann die Macht, sich durchzusetzen, wenn es
ein vernünftiges ist (Tr. pol. 8, 2. 7). Im
Staat tritt nach Spinozas Auffassung der Mensch
gewissermaßen aus dem Zustand des Aufgehens in
die Allnatur, die alles Natürliche in gleicher Weise
billigt, heraus, um ein der besondern menschlichen
Vollkommenheit, dem vernünftigen Denken, ent-
sprechendes engeres Reich zu begründen. Die
naturalistische Betrachtung macht einer rationalen
Platz. Nichtsdestoweniger läßt Spinoza, ab-
weichend von Hobbes, die „Staatengründung“
nicht direkt aus der menschlichen Vernunft ent-
springen, sondern (besonders deutlich im späteren
Tractatus politicus) aus dem Affekte. Dazu
nötigt ihn sein Prinzip, daß der Affekt nicht durch
die Vernunft überwunden werden kann, sondern
nur durch einen andern Affekt (der als geordneter
freilich aus der Vernunft soll stammen können).
Die Ursache der Staatengründung sieht er darum
nicht unmittelbar in der Vernunft, sondern in den
Affekten der Furcht, Hoffnung und des Begehrens;
nicht aber in diesen Affekten, sofern sie verschieden
gerichtet sind, sondern in einem gemeinsamen
Fürchten, Hoffen und Begehren (Tr. pol. 6, 1).
Als vernünftige Ordnung begründet die staat-
liche Gemeinschaft zugleich die Freiheit. Denn
Spinoza.
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die Freiheit in Spinozas Sinn besitzt der Mensch,
unbeschadet der allseitigen Determination des
menschlichen Handelns, wenn er allein dem Zug
der Vernunft folgt (ebd. 6, 7. 11). So erhält
die Staatstheorie Spinozas von vornherein — im
Gegensatz zu der des Hobbes — eine Richtung auf
die Freiheit, die am entschiedensten in dem Satz
des älteren Werks sich ausspricht, daß das Ziel
des Staats die Freiheit sei (Finis reipublicae
revera libertas est: Tr. theol.-pol. 20, p. 604).
Mit dem unhistorischen und individualistischen
Naturrecht seiner Zeit, insbesondere an Hobbes
sich anschließend, führt Spinoza die Vereinigung
zum Staat auf einen Vertrag (pactum) zurück,
den die einzelnen schließen (ebb. 16. Im Trac-
tatus politicus wird, wie schon oben bemerkt,
die Sache nicht berührt). Derselbe kann ein still-
schweigender oder ein ausdrücklicher (pactum
tacitum vel expressum, ebd. p. 560) sein. In
diesem Pakt kommen alle überein, das Recht, das
jeder von Natur auf alles hat, gemeinschaftlich zu
besitzen und von Gemeinschafts wegen festzusetzen,
und es übertragen die einzelnen alle ihre Macht
auf die Gemeinschaft (societas). Insofern also
der Vertrag nicht nur Rechte, sondern auch Macht
überträgt, ist er nicht nur ein Rechtsakt, sondern
zugleich ein Tatakt (als Vergesellschaftung der
Macht); wobei aber zu bemerken ist, daß bei
Spinoza Recht und Macht zusammenfallen. —
Durch diese Übertragung erhält die Gemeinschaft
das Naturrecht auf alles, welches vorher den Ver-
tragschließenden selbst eigen war. Sie hat die
Oberherrschaft (summum imperium), und alle
Glieder der Gemeinschaft sind gehalten, ihr zu ge-
horchen, mögen sie nun willig folgen oder durch
Strafen dazu gezwungen werden.
Wie Hobbes und später Rousseau (s. d. Art.
Rousseau Sp. 731) unterscheidet also auch Spi-
noza im Tractatus theologico-politicus nicht,
gleich Grotius, Pufendorf und der damals ver-
breiteten Theorie überhaupt, zwischen dem Eini-
gungsvertrag, der das Volk entstehen läßt, und
dem Herrschaftsvertrag, durch den vom Volk die
Herrscherrechte der Herrscherpersönlichkeit über-
tragen werden. Nur beiläufig und in mehr histo-
rischem Zusammenhang spricht er im theologisch-
politischen Traktat von der Möglichkeit, daß das
Volk einem König die Herrschaft übertrage (Tr.
theol.-pol. 20, p. 589 f). Vielmehr schafft bei Spi-
noza derselbe Vertrag, der die Gemeinschaft her-
stellt, zugleich die Staats= und Herrscherpersönlich-
keit. Diese Staats= und Herrscherpersönlichkeit
aber ist, wie bei Rousseau, dessen Vorgänger Spi-
noza hier ist, das Volk selbst. Ihm kommt die
Souveränität zu; denn das summum imperium,
von welchem Spinoza spricht (ebd. 16, p. 556),
das ius supremae maiestatis (ebd. 18, p. 591)
oder ius summae potestatis (ebd. 16, p. 560)
ist die Souveränität im staatsrechtlichen (nicht
im völkerrechtlichen) Sinn (vgl. oben Sp. 736).
So geht hier aus der Vertragstheorie nicht, wie