Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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bei Hobbes, die absolute Monarchie, sondern, wie 
bei Rousseau (wenigstens wenn wir bei Rousseau 
ums an die Sache, nicht an die Worte halten; 
s. oben Sp. 740), die Demokratie hervor. 
Diese — er definiert sie als coetus universus 
hominum, qui collegialiter summum ius ad 
omnia, quae potest, habet — ist ihm die allein 
vernunstgemäße Regierungsform, nach ihrer Ent- 
stehung aus dem Vertrag und weil sie die einzige 
Regierungsform ist, welche wegen des in ihr statt- 
findenden gegenseitigen Ausgleichs der Interessen 
keine absurden, d. h. die Vernunft unterdrückenden 
Gesetze aufkommen lassen soll. Weil die Demokratie 
soweit wie möglich die ursprüngliche Gleichheit 
und Freiheit wahrt (ebd. 5, p. 437; 16, p. 558), 
so bleibt sie zugleich dem Naturzustand am nächsten. 
So ist der Vernunftstaat für Spinoza die De- 
mokratie, und darum spricht er über die andern 
Staatsformen im Tractatus theologico-politi- 
cus nur beiläufig und nur, um von ihnen abzu- 
raten (z. B. p. 589 f). Im späteren Tractatus 
politicus ist das — wohl nicht ohne Zusammen- 
hang mit den praktischen politischen Erfahrungen 
des Verfassers — nun freilich anders. Hier finden 
auch die Monarchie und die Aristokratie eine aus- 
führliche Behandlung — letztere sogar mit beson- 
derer Vorliebe —; und wenn Spinoza dort (2, 
ex communi consensu einen, mehrere oder 
alle die Herrschaft innehaben läßt, so kehrt er hier 
offenbar zu dem besondern Herrschaftsvertrag zu- 
rück. Dafür ist aber jetzt hinsichtlich der Begrün- 
dung des Staats eine theoretische Unsicherheit bei 
ihm eingetreten, indem er zwar noch von den Be- 
dürfnissen spricht, die psychologisch zur Entstehung 
der staatlichen Vereinigung führen, die Entstehung 
des Staats durch Vertrag und die darauf gebaute 
juristische Konstruktion aber ganz übergeht. Viel- 
mehr nimmt er hier auch Monarchie und Aristo- 
kratie als gegebene Staatsformen und beschränkt 
sich darauf, zu zeigen, wie diese vor tyrannischer 
Entartung bewahrt und in ihrer Eigenart gesichert 
werden können. — Ubrigens ist der letztere Ge- 
danke auch dem älteren Werk nicht so völlig fern, 
wie man übertreibend wohl behauptet hat. Auch 
dort wird die Monarchie nicht nur als gegebene 
Staatsform, wenigstens beiläufig, berücksichtigt, 
sondern es wird auch vor einem übereilten Umsturz 
gewarnt. Trotz seines abstrakten Doktrinarismus 
ist Spinoza schon dort kein Freund gewaltsamer 
Staatsumwälzungen. Soweit die Staatsordnung 
auf einem ausdrücklichen oder doch stillschweigen- 
den Vertrag beruht, begeht derjenige ein Maje- 
stätsverbrechen, welcher die Souveränität an sich 
zu reißen oder auf einen andern zu übertragen 
sucht (Tr. theol.pol. 16, p. 560). Die geivalt- 
same Entfernung eines tyrannischen Herrschers ber- 
wirft auch Spinoza und weist auf die englische 
Revolution als abschreckendes Beispiel hin, die 
nach der Ermordung Karls I. in dem Lord Pro- 
tektor Cromwell wohl den Namen, aber nicht die 
Sache geändert habe (ebd. 20, p. 590). 
Spinoza. 
  
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Das freilichbleibt seineprinzipielle Uberzeugung, 
daß der Staat nur so lang und nur so weit sein 
Herrschaftsrecht behält, als er die Macht hat, dieses 
Recht durchzuführen. Die Gleichsetzung von Recht 
und Macht hält Spinoza auch beim Staatsrecht 
aufrecht. Auch dieses teilt den Charakter alles 
Rechts, daß es nur so weit geht, als die Macht zu 
seiner Verwirklichung besteht (ebd. 20, p. 556). So 
kommt er denn auch auf den Hobbesschen Satz 
zurück, daß das aus dem Vertrag hervorgegangene 
Recht des Herrschers hinfällig werde, wenn dieser 
dem neuausbrechenden Kampf aller gegen alle zu 
wehren nicht mehr die Macht habe und den Staat 
in Anarchie versinken lasse (ebd. 20, p. 557). 
Da im Naturzustand jeder jedem Begehren 
nachzugehen das Recht hat, so sind Gebote und 
Übertretungen von Geboten, überhaupt der Unter- 
schied von recht und unrecht, erst im Staat da. 
Dieser gibt durch seine Gesetzgebung die Richt- 
schnur, nach der die einzelnen zu einer vernunft- 
gemäßen Zusammenstimmung des Lebens und 
ihrer Interessen gelangen können. Denn da die 
Menschen auch im Staat nicht zu reinen Ver- 
nunftwesen werden, sondern den Leidenschaften 
und dem egoistischen Begehren unterworfene Wesen 
bleiben, so muß der Staat Gesetze als Vernunft- 
regeln aufstellen und deren Befolgung durch seine 
Befehls= und Strafgewalt, also durch Nutzbar= 
machung der Affekte von Furcht und Hoffnung, 
sicherstellen (ebd. 5, p. 436). Die Befolgung dieser 
Staatsgesetze, in denen die Regeln der Ver- 
nunft formuliert sind oder doch formuliert sein 
sollen, ist recht, ihre Ubertretung unrecht. Natür- 
liche Sittengesetze dagegen, die auch unabhängig 
von der staatlichen Sanktionierung als Ausfluß 
der sittlichen Vernunft den Menschen verpflichten, 
konnte Spinoza von seinem naturalistischen Stand- 
punkt aus so wenig als eigentliche Gebote aner- 
kennen, wie eine nicht erst durch die Staatsgewalt 
deklarierte göttliche Moralgesetzgebung. So hoch 
er auch die vernünftige Erkenntnis der Dinge, die 
Überwindung des Affekts durch die Erkenntnis, 
die Betrachtung aller Dinge unter der Form der 
Ewigkeit und die daraus entspringende intellek- 
tuelle Liebe zu Gott, d. h. zu dem ewigen Natur- 
grund, wertet (worauf er dann Eth. 5 eine deskrip- 
tive Ethik aufbaut), so liegt doch für ihn in alle- 
dem nicht ein Gebot, ein Gesetz oder eine Norm, 
die im eigentlichen Sinn übertreten werden 
könnte (Tr. pol. 2, 18/20). Nur im uneigent- 
lichen Sinn kann man das Vernunftwidrige an 
sich und abgesehen von den durch den Staat 
sanktionierten Normen als eine Übertretung (pec- 
catum) bezeichnen (ebd. 2, 21). — Wieder sind 
es Hobbessche Sätze von befremdlichstem Inhalt, 
in die Spinozas Deduktionen ausmünden. 
Eine nähere Besprechung der einzelnen rechts- 
und staatsphilosophischen Lehren Spinozas, ins- 
besondere auch seiner Behandlung der Monarchie, 
Aristokratie und Demokratie, kann hier nicht ge- 
geben werden. Scharfe staatsrechtliche Begriffe 
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