Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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sucht man bei ihm vergebens. Seine Ausführungen 
über die Verfassungsformen (im Tractatus poli- 
ticus) sind überhaupt größtenteils nicht staats- 
rechtlicher, sondern politischer Art und wollen 
zeigen, durch welche zweckmäßigen Einrichtungen 
und Veranstaltungen die Sicherheit des Staats 
und im Staat die Freiheit gewahrt werden könne. 
Ebensowenig findet das Völkerrecht durch 
Spinoza nach der staatsrechtlichen Seite hin eine 
Förderung. Die Ansätze zu einem solchen beie 
Hugo Grotius sind ohne Einfluß auf Spinoza 
geblieben. Im Verhältnis der Staaten unter- 
einander herrscht das ursprüngliche Recht der 
Natur, nach dem jeder so weit Recht hat, sein 
Verlangen und Begehren zu verwirklichen, als 
seine Macht reicht. Bündnisse helfen diesem na- 
türlichen Zustand der Feindschaft unter den Staa- 
ten nur zeitweilig ab, da sie nur so lang gelten, 
wie ihre egoistische Entstehungsursache dauert (ebd. 
3, 12/14). 
Etwas eingehender müssen wir dagegen mit 
Spinozas Versuch uns beschäftigen, die Aus- 
dehnung zu bestimmen, welche der staatlichen Ge- 
setzgebungsgewalt und Regierungsgewalt zukommt. 
Er gibt darin zugleich die Grundlegung für seine 
kirchenpolitische Theorie. 
Für die Grenzbestimmung der staatlichen 
Zwangsgewalt kommen bei Spinoza zwei ver- 
schiedene Gesichtspunkte in Betracht. Einerseits 
erscheint der Staat als Erbe des ursprünglichen 
unbeschränkten Naturrechts der Individuen. Von 
diesem Gesichtspunkt aus gibt es für den Staat, 
seinen Bürgern gegenüber, keine Schranken seines 
Bestimmungsrechts. Solange Spinoza an diese, 
dem Naturalismus seines Gesamtsystems ent- 
sprechende Betrachtungsweise sich hält, betont er 
die staatliche Allgewalt. Auch den absurdesten Be- 
fehlen der Obrigkeit soll der Untertan Gehorsam 
schulden (Tr. theol.-pol. 16, p. 557). Unter einem 
andern Gesichtspunkt dagegen, dem spezifisch 
menschlichen, faßt er den Staat als Vernunft- 
organisation, die ihre Mitglieder nicht wie Tiere 
dressieren, sie nicht zu Automaten machen, sondern 
sie dahin bringen soll, daß sie frei von Leiden- 
schaften der Vernunft folgen (ebd. 20, p. 604). Jetzt 
stehen sich der Vernunftstaat, dessen „Zweck die 
Freiheit ist“ (ebd.), und der Gewaltstaat (im- 
perium violentum: ebd. 20, p. 602) gegenüber. 
Von diesem Standpunkt aus ist das Interesse 
nicht so sehr auf die Betonung der staatlichen All- 
gewalt als auf die Sicherung der Freiheit in- 
mitten der Befehlsmacht des Staats gerichtet. 
Beides wirklich organisch zu vereinen, war eine 
unmögliche Aufgabe. Daß der ideale Vernunft- 
staat trotz seines Zwangs die Freiheit nicht aus- 
schließe, konnte Spinoza immerhin behaupten, weil 
er unter der Freiheit nichts anderes verstand als 
die vernunstgemäße Ordnung des Lebens. Denn 
in diesem Sinn frei zu sein, könnte der Wider- 
strebende allenfalls gezwungen werden, wie später 
Rousseau forderte (s. oben Sp. 730). — Aber 
Spinoza. 
  
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wie will Spinoza auch gegenüber einer unver- 
nünftigen und tyrannischen Staatsgewalt noch 
ein Recht auf eine individuelle Freiheitssphäre 
aufrecht erhalten und diese als eine unter allen 
Umständen gültige Forderung erweisen? Hier muß 
ihm eine Unterscheidung zwischen Theorie und 
Praxis einen Ausweg bereiten. In der Theorie 
soll der Staat das Recht haben, alles, auch das 
Absurdeste, zu befehlen, und sollen die Untertanen 
gehalten sein, ihm darin zu folgen. Aber nicht jeder 
solcher Befehl läßt sich praktisch durchführen (Tr. 
theol.-pol. 17 u. 20). Er scheitert an dem Wider= 
stand der Individuen, die zwar, soweit sie Staats- 
bürger sind, ihr Naturrecht aufgegeben haben, es 
als Naturwesen aber immer noch behalten, inso- 
fern als sie auch im Staat nach den Gesetzen ihrer 
Natur handeln müssen (Tr. pol. 3, 3). Was aber 
in jedem Fall aus der Natur des Menschen not- 
wendig folgt, wie z. B. daß man den Wohltäter 
liebe, den Feind hasse, durch Schmähungen sich 
beleidigt fühle und von der Furcht frei zu werden 
strebe, kurz das Recht des individuellen Fühlens, das 
kann kein staatlicher Zwang durch Drohung oder 
Furcht verhindern und darum auch nicht rechtlich 
verbieten (Tr. theol.-pol. 17, p. 564; 20, p. 602; 
Tr. pol. 3, 8). Das gleiche gilt, wie wir noch sehen 
werden, hinsichtlich des innern Urteilens, insbeson- 
dere desjenigen auf religiösem und philosophischem 
Gebiet und hinsichtlich der Außerung dieses Ur- 
teilens. Da nun das Recht nur so weit geht wie 
die Macht, so muß auch das Recht des Staats 
aufhören, wenn das Gebot nicht mehr durchführ- 
bar ist. Versucht der Staat es dennoch, so ge- 
fährdet er seine eigne Existenz (Tr. theol.-pol. 20, 
p. 603). Deshalb schränkt denn Spinoza auch 
nachträglich seine Vertragstheorie wieder ein. Nicht 
alle ihre Naturrechte haben die Vertragschließen- 
den dem Staat übertragen; das Unübertragbare — 
eben das, was aus der menschlichen Natur not- 
wendig folgt — haben sie sich reserviert (ebd. 
20, p. 564. Dazu vgl. auch Spinozas Außerung 
über seinen Unterschied von Hobbes im Brief an 
Jarig Jelles vom 2. Juni 1674, ep. 50). 
2. Staatskirchenrecht und Toleranz. 
Derselbe Widerstreit entgegenstehender Tendenzen: 
der auf eine absolutistische Allgewalt nicht zwar 
des Herrschers über den Staat, wohl aber des 
Staats selbst über seine Glieder gerichteten Ten- 
denz und der entgegengesetzten auf die individuelle 
Freiheit gehenden, macht sich in Spinozas Staats- 
kirchenrecht geltend. Mit der prinzipiellen Durch- 
führung eines unbeschränkten ius circa sacra 
verbindet sich die Forderung der Toleranz für das 
individuelle Denken und Lehren. Die Erörterung 
dieser kirchenpolitischen Fragen bildet das eigent- 
liche Ziel des zu Lebzeiten von Jan de Witt ver- 
faßten und auf eine Rechtfertigung seiner politi- 
schen Stellung gerichteten Tractatus theologico- 
politicus und liegt auch noch im Tractatus 
politicus dem Verfasser nicht wenig am Herzen. 
Jande Witt, politisch tolerant, soweit im 17. Jahrh.
	        
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