Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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der Name Staat Anwendung finden kann, und 
etwas anderes, die Anforderungen festzusetzen, 
welche man von dem jeweils eingenommenen und 
durch mannigfache Erwägungen bestimmten Stand- 
punkt aus an einen Staat stellen zu sollen glaubt. 
Um beides reinlich auseinanderzuhalten, kann man 
sagen, daß es sich dort um den Begriff, hier um 
die Idee des Staats handle, dort also um die 
Subsumierung des geschichtlich Gewordenen unter 
einen das Gemeinsame und gleichmäßig Wieder- 
kehrende, das Gattungsmäßige herausstellende 
Abstraktion, hier um die Gewinnung eines Maß- 
stabs, an welchem der Wert des Gewordenen be- 
messen wird, oder auch von Zielpunkten, welchen 
die absichtlich geleitete staatliche Entwicklung nach- 
zustreben hat. Dabei kann sehr wohl die objektive 
Würdigung des geschichtlich Gewordenen und tat- 
sächlich Geschehenden eine Bestätigung abgeben für 
das, was von andern Erwägungen her als das 
Seinsollende erkannt wurde. 
Unter den Gattungsmerkmalen des Staats tritt 
als das stets und am meisten in die Augen Fal- 
lende das heraus, daß in ihm eine Vielheit von 
Menschen zur Einheit verbunden ist. Sogleich 
aber fragt es sich dann, welcher Art diese Einheit 
ist, und worauf sie beruht. Eine Anzahl von 
Menschen, welche zu bestimmtem Zweck oder aus 
besonderem Anlaß für längere oder kürzere Zeit in 
Verbindung miteinander gebracht sind, ein Kriegs- 
heer im Feld, die durch einen Eisenbahnbau zu- 
sammengeführte Arbeiterschar, eine Reisegesellschaft 
bilden noch keinen Staat. Staatliche Zusammen- 
gehörigkeit ist eine dauernde, über das Leben der 
einzelnen Mitglieder hinausgehende, und sie schließt 
eine umfassende, durch dauerndes Zusammenleben 
bedingte Interessengemeinschaft ein. Zusammen- 
gehörigkeit des bewohnten Gebiets bildet hierzu 
die in der Natur der Sache gründende Voraus- 
setzung, aber bloßes Nebeneinanderwohnen auf 
einem solchen, auch wenn seine Zusammengehörig- 
keit eine geographische ist und natürliche Grenzen 
dasselbe von andern bewohnten Gebieten trennen, 
macht allein noch keinen Staat aus. Es ist denk- 
bar, daß auf einem geographisch zusammengehö- 
rigen Gebiet zerstreute Gruppen von Ansiedlern 
wohnen, welche keine staatliche Gemeinschaft mit- 
einander bilden. Auch gemeinsame Abstammung, 
Blutsverwandtschaft ist nicht das, was die Staats- 
einheit begründet; Staat und Volk fallen nicht 
zusammen. Es kann eine Volksgemeinschaft, wie 
die flawische, an verschiedene Staatsgebilde zerteilt 
sein, es kann umgekehrt ein und derselbe Staat — 
man denke nur an Osterreich-Ungarn — verschie- 
dene nationale Bestandteile umfassen. Das Ent- 
scheidende ist vielmehr dies, daß die vielen einer 
Obrigkeit unterworfen sind, welche die Normen 
ihres geordneten Zusammenlebens handhabt. Staat 
ist hiernach seinem allgemeinsten Begriff nach die 
dauernde und geordnete Verbindung einer Viel- 
heit von Menschen unter einer gemeinsamen Ob- 
rigkeit. 
  
Staat. 
  
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II. Arsprung des Staats. Durch das Vor- 
hergehende ist die Frage nach dem Ursprung des 
Staats unmittelbar nahegelegt. Dieselbe wird 
heute nicht mehr mit dem leidenschaftlichen Partei- 
eifer behandelt, mit welchem insbesondere die Hal- 
lersche Schule die Lehre Rousseaus von dem Ur- 
sprung des Staats aus Vertrag bekämpfte. Immer- 
hin bildet diese letztere auch jetzt noch einen be- 
quemen Ausgangspunkt der Erörterung. Dabei 
ist aber vor allem eine Verständigung über den 
Sinn der Fragestellung erforderlich. Die Frage 
nach dem Ursprung des Staats kann die Mei- 
nung einschließen, daß alle Staaten im Grunde 
auf dieselbe Weise entstehen müßten, so daß von 
dieser Weise des Entstehens der staatliche Charakter 
abhängig wäre. Alsdann handelt es sich nicht 
sowohl um den tatsächlichen Hergang bei der Be- 
gründung eines bestimmten oder der uns bekannten 
Staaten als vielmehr um den Rechtsgrund des 
Staats überhaupt. Gesucht wird nicht so sehr ein 
historisches Faktum als vielmehr die philosophische 
Rechtfertigung der Existenz des Staats und der 
Grund der verpflichtenden Kraft staatlicher Nor- 
men. Nur in diesem Sinn wollte Rousseau selbst 
seine Lehre verstanden wissen, wenn er erklärt: 
Je cherche le droit et la raison et ne dis- 
pute pas des faits. Diese Seite der Frage er- 
fordert eine besondere Untersuchung, welche später 
angestellt werden soll. Hat man dagegen den wirk- 
lichen Hergang im Sinn, durch welchen die Staaten 
zustande gekommen sind, und erblickt denselben aus- 
schließlich in dem Eingehen eines Vertrags, so 
muß man notwendig einen dem Abschluß dieses 
Vertrags vorausgehenden staatlosen Zustand an- 
nehmen, und dies ist in der Tat die in der Staats- 
philosophie des 17. und 18. Jahrh. mehrfach ver- 
tretene Auffassung. Um dem staatlosen Zustand 
zu entgehen, schließen nach derselben die bis dahin 
isoliert gebliebenen Menschheitsatome einen Ver- 
trag oder auch eine Reihe von Verträgen ab, 
welche das ältere Naturrecht als pactum unionis, 
Pactum societatis, pactum ordinationis sive 
lex fundamentalis und pactum subiectionis 
unterschied. Sie treten zu einem Verband zu- 
sammen, unterwerfen sich einer Obrigkeit, geben 
sich eine monarchische oder republikanische Ver- 
fassung, alles auf Grund gegenseitiger Überein- 
kunft; der Staat wird somit zu einer Erfindung 
des Menschen, einem Produkt seiner Willkür. 
Gegen die so verstandene Lehre ist nun aber vor 
allem einzuwenden, daß sie von der Geschichte keine 
Bestätigung erhält. Der Ursprung der meisten 
Staaten ist uns unbekannt; er geht in das Dunkel 
prähistorischer Zeiten zurück. Aber nicht nur das. 
Was wir aus der Geschichte der Staaten und der 
Menschheit wissen, spricht gegen die Lehre. Auch 
durch die oft angeführte Begründung der Kolonie 
New Plymouth wird sie nur scheinbar bestätigt. 
Denn wenn auch die 41 „Pilgrimsväter“ an Bord 
des Schiffs „Mayflower“ sich am 12. Nov. 1620 
durch einen Vertrag zu einem bürgerlichen Ge-
	        
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