Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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meinwesen, a eivil body, verbanden, so hatten sie 
doch damit den Staat nicht erst erfunden, und sie 
kamen nicht von einem staatlosen Zustand her, 
sondern die aus dem englischen Mutterland aus- 
wandernden Puritaner brachten von dort die Be- 
griffe von sozialer Gliederung und staatlicher Ord- 
nung und zugleich die gewohnheitsmäßig ver- 
festigte Uberzeugung von der sittlichen Notwendig- 
keit einer Unterordnung des einzelnen unter die 
Gesamtheit mit sich. Zudem handelt es sich hier 
um ganz vereinzelte Vorkommnisse. Ebenso sind 
wohl größere Staatengebilde durch den vertrags- 
mäßigen Zusammentritt kleinerer zustande ge- 
kommen, aber dies bedeutet nur eine Phase in der 
Weiterentwicklung des schon bestehenden, nicht das 
erstmalige Aufkommen staatlichen Lebens an Stelle 
des bis dahin vorhandenen staatlosen Zustands. 
Ganz besonders aber muß die unwissenschaftliche 
Abstraktion abgetan werden, welche an eine erst- 
malige Staatsbegründung durch isolierte Einzel- 
wesen denkt. Der Mensch hat seinen Bestand nur 
in der menschlichen Familie und durch die Fa- 
milie. Er ist, wie schon Aristoteles geltend machte, 
von Natur für das Leben in der Gemeinschaft be- 
stimmt und angelegt; nur in ihr gewinnt er die 
Befriedigung seiner Bedürfnisse und die Entfal- 
tung seiner Fähigkeiten. Wenn es also irgend- 
wann und irgendwo menschheitliches Leben ohne 
Staat gibt oder gegeben hat, so gibt und gab es doch 
kein menschheitliches Leben ohne Familienverband 
als die in der Natur unmittelbar begründete Form 
menschlicher Gemeinschaft. An die Familie mußte 
also auf alle Fälle das erstmalige Entstehen des 
Staats anknüpfen. 
Unter Familie ist hier ausdrücklich die Zu- 
sammengehörigkeit von Mann, Frau und Kindern 
verstanden. Eine Zeitlang ist allerdings mit großer 
Zuversicht auf Grund ethnogr phisch s zi l gisch 
Forschungen die Behauptung aufgestellt worden, 
daß die Familie in diesem Sinn erst eine späte 
Staat. 
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nur halb richtig. Wenn in der patriarchalischen 
Familie der Vater das Haupt ist, dem Frau und 
Kinder unterworfen sind, und wenn man sich vor- 
stellen mag, daß die Familien der Söhne und 
Enkel in gleicher Weise dem Stammvater unter- 
worfen bleiben, so wurzelt dieses Verhältnis und 
mit ihm das einigende Band in dem natürlichen 
Schutzbedürfnis und den natürlichen wechselseitigen 
Neigungen. Die staatliche Einheit dagegen geht 
über die Familienbande hinaus und ist von ihnen 
unabhängig. Die Frage muß somit lauten: 
wann ist diejenige Einheit der vielen Familien 
und Einzelpersonen vorhanden, welche gleich an- 
fangs als das am meisten in die Augen sprin- 
gende Merkmal des Staats bezeichnet wurde, und 
durch welche Ursachen wird sie herbeigeführt? 
Einheit des Vielen offenbart sich überall nur in 
der Einheitlichkeit der Wirkung, in der gemein- 
schaftlichen Tätigkeit; aber staatliche Einheit ist da 
noch nicht gegeben, wo getrennte Kräfte vorüber- 
gehend zu gemeinsamer Arbeit verbunden sind. 
Staatliche Einheit schließt dauernde Interessen- 
gemeinschaft ein und betätigt sich in allen den 
Wirkungen, welche durch die letztere gefordert sind. 
Der Natur der Sache nach lassen sich darin zwei 
Richtungen unterscheiden: nach außen die Wah- 
rung der gemeinsamen Interessen gegen dritte, 
nach innen die geordnete Befriedigung der Inter- 
essen auf seiten der zum Staat Verbundenen. In 
beiden Fällen gilt die Betätigung dem, was alle 
angeht, wenn auch nicht alle bei der Ausführung 
beteiligt sind. Möglich aber ist sie nur unter Vor- 
aussetzung einer anerkannten Obrigkeit, welche im 
Namen aller und für alle tätig ist, nach außen als 
oberster Befehlshaber, nach innen als Gesetzgeber 
und Richter. Nimmt man an dem Wort Obrig- 
keit Anstoß, weil darin eine Hindeutung auf eine 
höhere, aus den natürlichen Verhältnissen allein 
nicht abzuleitende Autorität enthalten sei, so kann 
statt dessen vorläufig von einem anerkannten Or- 
  
Stufe der Entwicklung darstelle und derselben gan des Gemeinschaftslebens gesprochen werden, 
andere Verbandsformen vorausgegangen seien, durch welches eine einheitliche Betätigung der vielen 
wobei insbesondere der sog. „Mutterrechtszustand“ zustande kommt. Auch wo man sich den Staat 
als die niedrigste Stufe jener Entwicklung an= allmählich aus der zum Stamm erweiterten Fa- 
gesehen wurde. Inzwischen ist die Ernüchterung milie hervorgewachsen denkt, ist der Patriarch 
nicht ausgeblieben. Man hat einsehen gelernt, daß " Staatsoberhaupt, weil und insofern er dieses Or- 
alle jene Entwicklungsstufen, für welche zudem die gan, nicht weil er Stammvater des Geschlechts ist. 
Annahme eines tierischen Urzustands die Voraus- Nur in ganz primitiven Verhältnissen, bei klein- 
setzung bildet, nicht wissenschaftlich begründete Tat- stem Umfang des Staats aber werden die sämt- 
sachen, sondern in der Luft schwebende Konstruk- 
tionen sind; daß Verhältnisse, wie man sie in der 
Gegenwart mit mehr oder weniger Recht bei den 
sog. Naturvölkern gefunden zu haben glaubt, nicht 
ohne weiteres generalisiert werden dürfen und 
wir schlechterdings kein Recht haben, von allgemein 
für die gesamte Menschheit gültigen Entwicklungs- 
gesetzen zu reden. 
Eine Vielheit von Familien also ist die Vor- 
lichen Funktionen, die aus der Interessengemein- 
schaft resultieren, in einer Hand vereinigt sein. 
Die Zunahme der Bevölkerung, der Fortschritt 
der Kultur, die Erweiterung und Verwicklung der 
Bedürfnisse werden ganz von selbst zu der Bil- 
dung verschiedener Organe führen, die aber, soll 
die Einheit des Gemeinwesens gewahrt bleiben, 
in Unterordnung unter ein oberstes wie immer 
geartetes Organ tätig sein müssen. Und so läßt 
aussetzung des Staats. Dagegen ist das Wort sich jetzt genauer sagen, daß da ein Staat besteht, 
Dahlmanns: „Die Urfamilie ist der Urstaat; jede # wo eine zu dauernder Interessengemeinschaft ver- 
Familie, unabhängig dargestellt, ist Staat" — bundene Vielheit menschlicher Familien ein solches
	        
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