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oberstes Organ ihres Gemeinlebens besitzt. Die
Ursachen, welche einen Staat entstehen lassen, sind
somit die gleichen, welche das Aufkommen oder die
Bestellung eines solchen obersten Organs be-
wirken. Denkt man sich den Staat auf die oben
bezeichnete Weise aus der Familie hervor-
gewachsen, so kann man sagen, daß Gewöhnung
dasselbe entstehen läßt. Es ist da, längst ehe die
Reflexion es als solches erkennt, wenn die Nach-
gebornen, die mit scheuer Ehrfurcht auf den ihnen
ferner gerückten Patriarchen blicken, sich seinem
Richterspruch unterwerfen oder seinen Weisungen
für die Schlacht nachkommen. Es wird deutlich,
wenn nach dem Tod des Patriarchen, weil das
selbstverständlich ist, ein anderer seine Stelle ein-
nimmt, sei es der älteste oder der tüchtigste seiner
Söhne, oder wer sonst sich als der nächste dazu
erweist. Möglicherweise ist dabei lediglich die nach
innen gerichtete friedliche Ordnung der Interessen-
befriedigung das für sein Aufkommen Bestim-
mende, weit häufiger aber wird doch der feindliche
Zusammenstoß einer derart erweiterten Familie
oder eines wie immer gearteten Verbands mit
einem fremden den Anstoß dazu gegeben haben.
Und nicht nur so kann ein Staat entstehen, daß
die Angriffe habsüchtiger Feinde auf das von einer
Mehrheit von Familien bebaute Ackerland oder
die gewohnten Weideflächen und Jagdgründe eines
Nomadenstamms diesen wie jene in die ersten An-
fänge staatlicher Organisation hineinzwingen,
sondern auch so, daß ein erobernder Stamm einen
andern unterwirft und der Sieger die Besiegten
in seine Interessengemeinschaft eingliedert. Der
gleiche Vorgang kann sich mehrfach wiederholen
und so aus ganz verschiedenartigen Volkselementen
ein Staat entstehen. „Über die Ureinwohner des
Euphrat= und Tigrislands lagern sich eine ganze
Reihe Schichten semitischer Küstenstämme, bis
schließlich die arischen IJranier das medisch-per-
sische Reich darüber errichten. Ebenso finden die
Griechen, Italiener, Kelten in den von ihnen be-
setzten europäischen Territorien Ureinwohner vor,
die einen vielleicht sehr großen Prozentsatz zu den
von ihnen begründeten Kulturstaaten liefern“
(Richard Schmidt). Wer Generalisationen liebt,
würde vermutlich mit weit größerem Recht aus
dem Krieg die Entstehung des Staats herleiten als
aus Vertrag.
Trotzdem genügt es nicht und führt auf Ab-
wege, wenn man unter Staat „die unter einem
Herrscherwillen vereinigte Gesamtheit der Men-
schen eines Landes“ versteht (Max Seydel). Der
Herrscherwille muß — mehr oder weniger — auch
der Wille der Beherrschten sein. Die zum Staat
Verbundenen sind keine Herde, die ein eisenbeschla-
gener Hirtenstab von außen her zusammenhält.
Mag der Herrscher noch so hoch über die einzelnen
Glieder erhoben sein, er gehört doch selbst mit zum
Ganzen. Wenn es ein geordnetes Gemeinschafts-
leben nur durch ihn gibt, so nehmen doch eben die
sämtlichen an diesem Gemeinschaftsleben teil. Auch
Staat.
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durch Krieg und Gewalttat kommt ein Staat nur
dann zustande, wenn der Sieger mit den Unter-
worfenen zusammenwächst, so daß sie ihn als das
Haupt des Ganzen anerkennen, von dem sie die
Glieder sind, und auch er sich als Haupt eben dieses
Ganzen weiß, nicht aber dann, wenn er, ohne mit
den Besiegten in ein Gemeinschaftsleben zusammen-
zutreten, sich dieselben nur in der einen oder andern
Form tributpflichtig macht.
Daß endlich jenes oberste Organ und damit
der Staat auch durch Wahl und Übereinkunft auf-
gerichtet werden könne, braucht nicht bestritten zu
werden; aber nur in den seltensten Fällen wird
dies das erstmalige Entstehen des Staatswesens,
in der Regel vielmehr nur eine einzelne Phase im
Leben des schon bestehenden bezeichnen.
III. Der Staat ein in der sittlichen Ordnung
begründeter Menschheitszweck. Im voran-
gehenden ist bereits Stellung genommen gegen eine
Auffassung, wonach der Staat, wie seinerzeit
A. L. Schlözer meinte, nur eine Erfindung ist,
„welche die Menschen zu ihrem Wohl machten,
wie sie Brandkassen erfanden“ (Allg. Staats-
recht 1793). Er ist nicht durch mechanische Zu-
sammenfassung nebeneinander bestehender Ein-
heiten entstanden und beruht nicht auf bloßer
Übereinkunft der darin verbundenen Individuen.
Wenn das Vorhandensein eines obersten Organs
des Gemeinschaftslebens ausdrücklich als dasjenige
bezeichnet wurde, was den Staat zum Staat macht,
so führt dies notwendig über eine mechanische und
individualistische Auffassung hinaus. Er ist ein
von dem Leben und der Willensentschließung seiner
einzelnen Mitglieder unabhängiges Ganzes und
er ist Organismus. Es ist kein bloßer Ver-
gleich oder bildlicher Ausdruck, wenn man ihn so
benennt, noch weniger freilich sollen ihm damit
Eigenschaften des einzelnen Lebewesens zugeschrie-
ben werden, welche ihm, der eine Vielheit selb-
ständiger Lebewesen umfaßt, unmöglich zukommen
können. Zweierlei aber will man mit jener Be-
nennung dem Staat auedrücklich beilegen: erstens
eben dies, daß er keine Schöpfung menschlicher
Willkür, sondern ein Naturprodukt ist. Nur die
Natur bringt Organismen hervor, die Natur aber
ist es, welche die Menschen zum Staat zusammen-
führt, sofern diese nur durch Zusammenlegung und
wechselseitige Ergänzung ihrer Kräfte zu allseitiger
und dauernder Befriedigung ihrer Bedürfnisse ge-
langen und durch Entfaltung ihrer Anlagen mensch-
liche Kultur begründen können. Zu dem Zwang
der Bedürfnisse treten die angebornen altruistischen
Neigungen, Sympathie und Mitleid, und der Trieb
zur Geselligkeit hinzu.
Das Zweite aber und hier vor allem Wichtige
ist, daß das Organische sich in seinem Bestand
und in seiner Erhaltung — trotz aller Versuche,
es in seinem Ursprung rein mechanisch zu be-
greifen — vom Unorganischen durch den ihm zu-
grunde liegenden, herrschenden Zweck unterscheidet.
Ein Organismus ist nicht die bloße Summe seiner