Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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oberstes Organ ihres Gemeinlebens besitzt. Die 
Ursachen, welche einen Staat entstehen lassen, sind 
somit die gleichen, welche das Aufkommen oder die 
Bestellung eines solchen obersten Organs be- 
wirken. Denkt man sich den Staat auf die oben 
bezeichnete Weise aus der Familie hervor- 
gewachsen, so kann man sagen, daß Gewöhnung 
dasselbe entstehen läßt. Es ist da, längst ehe die 
Reflexion es als solches erkennt, wenn die Nach- 
gebornen, die mit scheuer Ehrfurcht auf den ihnen 
ferner gerückten Patriarchen blicken, sich seinem 
Richterspruch unterwerfen oder seinen Weisungen 
für die Schlacht nachkommen. Es wird deutlich, 
wenn nach dem Tod des Patriarchen, weil das 
selbstverständlich ist, ein anderer seine Stelle ein- 
nimmt, sei es der älteste oder der tüchtigste seiner 
Söhne, oder wer sonst sich als der nächste dazu 
erweist. Möglicherweise ist dabei lediglich die nach 
innen gerichtete friedliche Ordnung der Interessen- 
befriedigung das für sein Aufkommen Bestim- 
mende, weit häufiger aber wird doch der feindliche 
Zusammenstoß einer derart erweiterten Familie 
oder eines wie immer gearteten Verbands mit 
einem fremden den Anstoß dazu gegeben haben. 
Und nicht nur so kann ein Staat entstehen, daß 
die Angriffe habsüchtiger Feinde auf das von einer 
Mehrheit von Familien bebaute Ackerland oder 
die gewohnten Weideflächen und Jagdgründe eines 
Nomadenstamms diesen wie jene in die ersten An- 
fänge staatlicher Organisation hineinzwingen, 
sondern auch so, daß ein erobernder Stamm einen 
andern unterwirft und der Sieger die Besiegten 
in seine Interessengemeinschaft eingliedert. Der 
gleiche Vorgang kann sich mehrfach wiederholen 
und so aus ganz verschiedenartigen Volkselementen 
ein Staat entstehen. „Über die Ureinwohner des 
Euphrat= und Tigrislands lagern sich eine ganze 
Reihe Schichten semitischer Küstenstämme, bis 
schließlich die arischen IJranier das medisch-per- 
sische Reich darüber errichten. Ebenso finden die 
Griechen, Italiener, Kelten in den von ihnen be- 
setzten europäischen Territorien Ureinwohner vor, 
die einen vielleicht sehr großen Prozentsatz zu den 
von ihnen begründeten Kulturstaaten liefern“ 
(Richard Schmidt). Wer Generalisationen liebt, 
würde vermutlich mit weit größerem Recht aus 
dem Krieg die Entstehung des Staats herleiten als 
aus Vertrag. 
Trotzdem genügt es nicht und führt auf Ab- 
wege, wenn man unter Staat „die unter einem 
Herrscherwillen vereinigte Gesamtheit der Men- 
schen eines Landes“ versteht (Max Seydel). Der 
Herrscherwille muß — mehr oder weniger — auch 
der Wille der Beherrschten sein. Die zum Staat 
Verbundenen sind keine Herde, die ein eisenbeschla- 
gener Hirtenstab von außen her zusammenhält. 
Mag der Herrscher noch so hoch über die einzelnen 
Glieder erhoben sein, er gehört doch selbst mit zum 
Ganzen. Wenn es ein geordnetes Gemeinschafts- 
leben nur durch ihn gibt, so nehmen doch eben die 
sämtlichen an diesem Gemeinschaftsleben teil. Auch 
Staat. 
  
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durch Krieg und Gewalttat kommt ein Staat nur 
dann zustande, wenn der Sieger mit den Unter- 
worfenen zusammenwächst, so daß sie ihn als das 
Haupt des Ganzen anerkennen, von dem sie die 
Glieder sind, und auch er sich als Haupt eben dieses 
Ganzen weiß, nicht aber dann, wenn er, ohne mit 
den Besiegten in ein Gemeinschaftsleben zusammen- 
zutreten, sich dieselben nur in der einen oder andern 
Form tributpflichtig macht. 
Daß endlich jenes oberste Organ und damit 
der Staat auch durch Wahl und Übereinkunft auf- 
gerichtet werden könne, braucht nicht bestritten zu 
werden; aber nur in den seltensten Fällen wird 
dies das erstmalige Entstehen des Staatswesens, 
in der Regel vielmehr nur eine einzelne Phase im 
Leben des schon bestehenden bezeichnen. 
III. Der Staat ein in der sittlichen Ordnung 
begründeter Menschheitszweck. Im voran- 
gehenden ist bereits Stellung genommen gegen eine 
Auffassung, wonach der Staat, wie seinerzeit 
A. L. Schlözer meinte, nur eine Erfindung ist, 
„welche die Menschen zu ihrem Wohl machten, 
wie sie Brandkassen erfanden“ (Allg. Staats- 
recht 1793). Er ist nicht durch mechanische Zu- 
sammenfassung nebeneinander bestehender Ein- 
heiten entstanden und beruht nicht auf bloßer 
Übereinkunft der darin verbundenen Individuen. 
Wenn das Vorhandensein eines obersten Organs 
des Gemeinschaftslebens ausdrücklich als dasjenige 
bezeichnet wurde, was den Staat zum Staat macht, 
so führt dies notwendig über eine mechanische und 
individualistische Auffassung hinaus. Er ist ein 
von dem Leben und der Willensentschließung seiner 
einzelnen Mitglieder unabhängiges Ganzes und 
er ist Organismus. Es ist kein bloßer Ver- 
gleich oder bildlicher Ausdruck, wenn man ihn so 
benennt, noch weniger freilich sollen ihm damit 
Eigenschaften des einzelnen Lebewesens zugeschrie- 
ben werden, welche ihm, der eine Vielheit selb- 
ständiger Lebewesen umfaßt, unmöglich zukommen 
können. Zweierlei aber will man mit jener Be- 
nennung dem Staat auedrücklich beilegen: erstens 
eben dies, daß er keine Schöpfung menschlicher 
Willkür, sondern ein Naturprodukt ist. Nur die 
Natur bringt Organismen hervor, die Natur aber 
ist es, welche die Menschen zum Staat zusammen- 
führt, sofern diese nur durch Zusammenlegung und 
wechselseitige Ergänzung ihrer Kräfte zu allseitiger 
und dauernder Befriedigung ihrer Bedürfnisse ge- 
langen und durch Entfaltung ihrer Anlagen mensch- 
liche Kultur begründen können. Zu dem Zwang 
der Bedürfnisse treten die angebornen altruistischen 
Neigungen, Sympathie und Mitleid, und der Trieb 
zur Geselligkeit hinzu. 
Das Zweite aber und hier vor allem Wichtige 
ist, daß das Organische sich in seinem Bestand 
und in seiner Erhaltung — trotz aller Versuche, 
es in seinem Ursprung rein mechanisch zu be- 
greifen — vom Unorganischen durch den ihm zu- 
grunde liegenden, herrschenden Zweck unterscheidet. 
Ein Organismus ist nicht die bloße Summe seiner
	        
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