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und Machthaber, auf welche zunächst sich die
mittelalterliche Reflexion über den Staat zu richten
pflegt, vielfach durch Gewalttat und Blutvergießen,
durch Usurpation und Eroberung, also durch mo-
ralisch verwerfliche Taten, auf dem Weg der
Sünde, zur Macht gelangt sind. Ihren Schöp-
fungen wird dann die Kirche als das auf der
Stiftung Christi beruhende Reich des Friedens
gegenübergestellt. Die moderne, auf historische
Forschung gestützte Denkweise kann im Grund
nicht viel hiergegen einwenden, insofern ihr der
Gedanke an ein Entstehen des Staats aus dem
Krieg durchweg näher liegt als die ältere, von den
biblischen Erzählungen getragene von einem all-
mählichen friedlichen Herauswachsen des Staats
aus der patriarchalischen Familie.
Zugleich ist nun aber die Möglichkeit gegeben,
endgültig mit der Vertragstheorie aufzuräumen.
Nicht das kann den Rechtsgrund für den Staat
abgeben und nicht daher kann die Verpflichtung
der einzelnen herrühren, sich seinen Anordnungen
zu unterwerfen und das Interesse der Allgemein-
heit vor das eigne zu stellen, daß sie eine dahin
zielende Vereinbarung getroffen haben und auf
Grund freiwilliger Übereinkunft zu einer die Ge-
samtheit der Privatinteressen umfassenden Allge-
meinheit zusammengetreten sind. Denn diejenigen,
die einen solchen Vertrag wirklich abschließen,
können doch nur im besten Fall sich selbst ver-
pflichten, nicht aber die ihnen folgende Generation;
hierzu würde ihnen, wie die Befugnis, so auch die
Macht fehlen. Nur wo die Nachgebornen in den
im Namen der Allgemeinheit erlassenen Anord-
nungen ihr egoistisches Interesse gewahrt fänden,
würden sie ihnen Folge leisten, nicht aber da, wo
dies nicht der Fall wäre und eine Kollision ent-
stände zwischen dem von den Trägern der Staats-
gewalt proklamierten oder vorausgesetzten allge-
meinen Nutzen und dem, was der einzelne mit
Recht oder Unrecht als den seinigen ansähe. Zum
zweiten würde auch ein solches Vertragsverhältnis
nur solange seinen Bestand behaupten, als das-
selbe von allen durch die Tat anerkannt würde.
Sobald eine größere oder geringere Anzahl durch
bertretung staatlicher Anordnungen zu erkennen
gibt, daß sie sich nicht länger an dasselbe binden
wollen, sind auch die übrigen jeder Verpflichtung
ledig. Oder wenn sie für sich die Fortdauer des-
selben wollen, fehlt ihnen doch jede Möglichkeit,
anders als durch Gewalt diejenigen festzuhalten,
welche dies nicht wollen. Ganz anders dagegen,
wenn der Staat ein in der sittlichen Ordnung be-
gründeter Menschheitszweck ist. Dann ist die Unter-
ordnung unter denselben dem Belieben des ein-
zelnen entzogen, und die Verpflichtung, seinen
Anordnungen Folge zu leisten, stammt aus der-
selben Quelle, aus der sittliche Verpflichtungen
überhaupt stammen. Zu gleicher Zeit wird nun
auch deutlich, daß und warum das oberste Organ
des Gemeinschaftslebens in Wahrheit Obrigkeit
ist. Und auch das leuchtet ein und wird durch Er-
Staat.
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lebnisse der neuesten Zeit bestätigt, daß die kon-
sequente Leugnung jeder höheren über die Einzel-
willen hinausragende Macht in der Anarchie das
anzustrebende Ziel der befreiten Menschheit er-
blicken muß.
IV. Aufgaben des Staats; Rechtsstaat
und Wohlfahrtsstaat. Wird von dem gewon-
nenen Standpunkt aus näher auf die dem Staat
zukommenden Aufgaben oder Funktionen ein-
gegangen, so sind die ersten und vornehmsten die-
jenigen, die sich aus seiner Stellung zum Recht
ergeben. Denn das Recht ist seinem allgemeinsten
Begriff nach die Norm für die sozialen Hand-
lungen der Menschen. Daß es eben darum seine
Wurzel in der sittlichen Ordnung hat, muß hier
als zugestanden vorausgesetzt werden, ebenso wie
seine Abgrenzung gegen das Gebiet des Sittlichen
im engern Sinn. Das letztere ist der freien Selbst-
bestimmung des einzelnen überlassen, dem Recht
dagegen eignet die Erzwingbarkeit im Sinn der
moralischen Befugnis, Zwangsmaßregeln zu seiner
Durchführung in Anwendung zu bringen. Das
Recht ist notwendig, damit im sozialen Leben die
geordnete Erfüllung der Menschheitszwecke —
Auswirkung der Persönlichkeit, Entfaltung des
Familienlebens, Begründung geistiger Kultur —
möglich sei, und der Zwang ist notwendig, damit
dort, wo es sich um die Erfüllung solcher Zwecke
handelt, der widerstrebende Eigenwille unter die
Forderung des Rechts gebeugt werde, so daß er
leistet, was die Erfüllung erheischt, oder unter-
läßt, was sie hindert und stört. Friede und Ord-
nung des Gemeinwesens aber verlangen, daß dieser
Zwang nicht von den einzelnen nach eignem Er-
messen ausgeübt werde, sondern die Anwendung in
die Hand einer anerkannten Autorität gelegt sei,
die im Namen aller den sozialen Frieden wahrt,
und mit den notwendigen Machtmitteln ausge-
rüstet, Rechtsverletzungen verhütet und die tatsäch-
lich eingetretenen ausgleicht oder fühnt. So weist
das Recht schon allein durch das Merkmal der
Erzwingbarkeit auf den Staat hin als auf die
Voraussetzung seiner geordneten Durchführung.
Aber gleichzeitig setzt der Staat das Recht vor-
aus. Nicht jedes Eingreifen der staatlichen Zwangs-
gewalt ist rechtlich zulässig, sondern nur ein solches,
das von dem sozialen Frieden gefordert und mit
ihm vereinbar ist. Der Staat ist nicht Quelle
des Rechts in dem Sinn, daß die Normen,
welche das Zusammenleben einer Vielheit von
Menschen zu regeln bestimmt sind, willkürlich von
der staatlichen Autorität festgesetzt werden könnten.
Staatliche Gesetzgebung hat ihre Schranken einer-
seits in der sittlichen Ordnung, anderseits in der
unveräußerlichen Freiheit des Individuums und
der Familie, und früher als sie, dem Begriff nach,
ist das natürliche Recht, d. h. die von der Vernunft
erkannte Norm für alle diejenigen sozialen Hand-
lungen, welche mit der ungestörten Verwirklichung
gleichmäßig wiederkehrender Mensch-
heitszwecke in unmittelbarem und für jedermann