Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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und Machthaber, auf welche zunächst sich die 
mittelalterliche Reflexion über den Staat zu richten 
pflegt, vielfach durch Gewalttat und Blutvergießen, 
durch Usurpation und Eroberung, also durch mo- 
ralisch verwerfliche Taten, auf dem Weg der 
Sünde, zur Macht gelangt sind. Ihren Schöp- 
fungen wird dann die Kirche als das auf der 
Stiftung Christi beruhende Reich des Friedens 
gegenübergestellt. Die moderne, auf historische 
Forschung gestützte Denkweise kann im Grund 
nicht viel hiergegen einwenden, insofern ihr der 
Gedanke an ein Entstehen des Staats aus dem 
Krieg durchweg näher liegt als die ältere, von den 
biblischen Erzählungen getragene von einem all- 
mählichen friedlichen Herauswachsen des Staats 
aus der patriarchalischen Familie. 
Zugleich ist nun aber die Möglichkeit gegeben, 
endgültig mit der Vertragstheorie aufzuräumen. 
Nicht das kann den Rechtsgrund für den Staat 
abgeben und nicht daher kann die Verpflichtung 
der einzelnen herrühren, sich seinen Anordnungen 
zu unterwerfen und das Interesse der Allgemein- 
heit vor das eigne zu stellen, daß sie eine dahin 
zielende Vereinbarung getroffen haben und auf 
Grund freiwilliger Übereinkunft zu einer die Ge- 
samtheit der Privatinteressen umfassenden Allge- 
meinheit zusammengetreten sind. Denn diejenigen, 
die einen solchen Vertrag wirklich abschließen, 
können doch nur im besten Fall sich selbst ver- 
pflichten, nicht aber die ihnen folgende Generation; 
hierzu würde ihnen, wie die Befugnis, so auch die 
Macht fehlen. Nur wo die Nachgebornen in den 
im Namen der Allgemeinheit erlassenen Anord- 
nungen ihr egoistisches Interesse gewahrt fänden, 
würden sie ihnen Folge leisten, nicht aber da, wo 
dies nicht der Fall wäre und eine Kollision ent- 
stände zwischen dem von den Trägern der Staats- 
gewalt proklamierten oder vorausgesetzten allge- 
meinen Nutzen und dem, was der einzelne mit 
Recht oder Unrecht als den seinigen ansähe. Zum 
zweiten würde auch ein solches Vertragsverhältnis 
nur solange seinen Bestand behaupten, als das- 
selbe von allen durch die Tat anerkannt würde. 
Sobald eine größere oder geringere Anzahl durch 
bertretung staatlicher Anordnungen zu erkennen 
gibt, daß sie sich nicht länger an dasselbe binden 
wollen, sind auch die übrigen jeder Verpflichtung 
ledig. Oder wenn sie für sich die Fortdauer des- 
selben wollen, fehlt ihnen doch jede Möglichkeit, 
anders als durch Gewalt diejenigen festzuhalten, 
welche dies nicht wollen. Ganz anders dagegen, 
wenn der Staat ein in der sittlichen Ordnung be- 
gründeter Menschheitszweck ist. Dann ist die Unter- 
ordnung unter denselben dem Belieben des ein- 
zelnen entzogen, und die Verpflichtung, seinen 
Anordnungen Folge zu leisten, stammt aus der- 
selben Quelle, aus der sittliche Verpflichtungen 
überhaupt stammen. Zu gleicher Zeit wird nun 
auch deutlich, daß und warum das oberste Organ 
des Gemeinschaftslebens in Wahrheit Obrigkeit 
ist. Und auch das leuchtet ein und wird durch Er- 
Staat. 
  
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lebnisse der neuesten Zeit bestätigt, daß die kon- 
sequente Leugnung jeder höheren über die Einzel- 
willen hinausragende Macht in der Anarchie das 
anzustrebende Ziel der befreiten Menschheit er- 
blicken muß. 
IV. Aufgaben des Staats; Rechtsstaat 
und Wohlfahrtsstaat. Wird von dem gewon- 
nenen Standpunkt aus näher auf die dem Staat 
zukommenden Aufgaben oder Funktionen ein- 
gegangen, so sind die ersten und vornehmsten die- 
jenigen, die sich aus seiner Stellung zum Recht 
ergeben. Denn das Recht ist seinem allgemeinsten 
Begriff nach die Norm für die sozialen Hand- 
lungen der Menschen. Daß es eben darum seine 
Wurzel in der sittlichen Ordnung hat, muß hier 
als zugestanden vorausgesetzt werden, ebenso wie 
seine Abgrenzung gegen das Gebiet des Sittlichen 
im engern Sinn. Das letztere ist der freien Selbst- 
bestimmung des einzelnen überlassen, dem Recht 
dagegen eignet die Erzwingbarkeit im Sinn der 
moralischen Befugnis, Zwangsmaßregeln zu seiner 
Durchführung in Anwendung zu bringen. Das 
Recht ist notwendig, damit im sozialen Leben die 
geordnete Erfüllung der Menschheitszwecke — 
Auswirkung der Persönlichkeit, Entfaltung des 
Familienlebens, Begründung geistiger Kultur — 
möglich sei, und der Zwang ist notwendig, damit 
dort, wo es sich um die Erfüllung solcher Zwecke 
handelt, der widerstrebende Eigenwille unter die 
Forderung des Rechts gebeugt werde, so daß er 
leistet, was die Erfüllung erheischt, oder unter- 
läßt, was sie hindert und stört. Friede und Ord- 
nung des Gemeinwesens aber verlangen, daß dieser 
Zwang nicht von den einzelnen nach eignem Er- 
messen ausgeübt werde, sondern die Anwendung in 
die Hand einer anerkannten Autorität gelegt sei, 
die im Namen aller den sozialen Frieden wahrt, 
und mit den notwendigen Machtmitteln ausge- 
rüstet, Rechtsverletzungen verhütet und die tatsäch- 
lich eingetretenen ausgleicht oder fühnt. So weist 
das Recht schon allein durch das Merkmal der 
Erzwingbarkeit auf den Staat hin als auf die 
Voraussetzung seiner geordneten Durchführung. 
Aber gleichzeitig setzt der Staat das Recht vor- 
aus. Nicht jedes Eingreifen der staatlichen Zwangs- 
gewalt ist rechtlich zulässig, sondern nur ein solches, 
das von dem sozialen Frieden gefordert und mit 
ihm vereinbar ist. Der Staat ist nicht Quelle 
des Rechts in dem Sinn, daß die Normen, 
welche das Zusammenleben einer Vielheit von 
Menschen zu regeln bestimmt sind, willkürlich von 
der staatlichen Autorität festgesetzt werden könnten. 
Staatliche Gesetzgebung hat ihre Schranken einer- 
seits in der sittlichen Ordnung, anderseits in der 
unveräußerlichen Freiheit des Individuums und 
der Familie, und früher als sie, dem Begriff nach, 
ist das natürliche Recht, d. h. die von der Vernunft 
erkannte Norm für alle diejenigen sozialen Hand- 
lungen, welche mit der ungestörten Verwirklichung 
gleichmäßig wiederkehrender Mensch- 
heitszwecke in unmittelbarem und für jedermann
	        
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