Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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einleuchtendem Zusammenhang stehen. Der Mensch 
soll leben und seine Persönlichkeit auswirken, 
darum verbietet das natürliche Recht alles, was 
ihn daran hindert, und gebietet, was dafür die 
unentbehrliche Voraussetzung ist. Auch der Staat 
selbst aber ist — seinen allgemeinsten Grundzügen 
nach — ein solcher gleichmäßig wiederkehrender 
Menschheitszweck. Die Menschen sollen sich zur 
staatlichen Gemeinschaft verbinden, und daß für 
Leben und Bestand einer solchen das Vorhanden- 
sein einer anerkannten Autorität oder eines obersten 
Organs das unerläßliche Erfordernis bildet, gibt 
den im Namen des Staats und im Interesse der 
Gemeinschaft vorgenommenen Handlungen die 
naturrechtliche Legitimation. Die staatliche Obrig- 
keit ist berufen und befugt, die zur Sicherung nach 
außen erforderlichen Maßnahmen zu treffen und 
den Forderungen des natürlichen Rechts Achtung 
zu verschaffen. Weiter aber: wo es sich nicht mehr 
um jene gleichmäßig wiederkehrenden Zwecke han- 
delt, sondern um die mannigsach wechselnden, 
welche das sich entwickelnde und nach den ver- 
schiedensten Richtungen hin entfaltende gesellschaft- 
liche Leben, welche Gütererzeugung und Güter- 
verteilung auf ihren verschiedenen Stufen und in 
ihren verschiedenen Formen und die gesamte viel- 
gestaltige Kultur mit sich bringen, und ebenso um 
Handlungen, welche mit den Zwecken der erstge- 
nannten Art nicht in unmittelbarem Zusammen- 
hang stehen, da reichen die natürlichen Normen 
nicht mehr aus, vielmehr bedürfen dieselben der 
Ergänzung und näheren Bestimmung. Damit ist 
das Zweite angedeutet, was der Staat für das 
Recht zu leisten hat. Menschheitliches Zusammen- 
leben fordert eine richterliche Autorität, welche im 
einzelnen Fall feststellt, was Rechtens ist, und es 
verlangt eine gesetzgeberische Autorität, welche vor- 
Staat. 
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die er zu erfüllen hat. Zu allen Zeiten hat es 
kleine und kleinste Staaten gegeben, welche durch 
besondere Umstände, ihre günstige geographische 
Lage, die Eifersucht mächtiger Nachbarn oder auch 
gerade durch die eigne Bedeutungslosigkeit gegen 
feindliche Angriffe und Vergewaltigung geschützt 
waren. Immerhin bilden Staaten wie das Fürsten- 
tum Liechtenstein oder die Republik San Marino 
die Ausnahmen, auch ist einleuchtend, daß nur in 
größeren Volksgemeinschaften materielle und gei- 
stige Kultur nach all den Richtungen, die sie ein- 
schließt, zur Entfaltung kommen kann. Dagegen 
erhebt sich die andere Frage, ob es zu den Auf- 
gaben des Staats gehöre, die allgemeine Wohl- 
fahrt durch positive Maßnahmen zu fördern. 
Kant begnügte sich damit, den Staat zu defi- 
nieren als die Vereinigung einer Menge von 
Menschen unter Rechtsgesetzen. Aber das Unzu- 
längliche seiner Auffassung lag doch vor allem in 
dem ungenügenden, rein formalen Rechtsbegriff, 
von welchem er dabei ausging. Sieht man im 
Recht dagegen das von der sittlichen Ordnung 
geforderte Mittel zur Verwirklichung der in der- 
selben eingeschlossenen Menschheitszwecke und unter 
Staat eine Vereinigung von Menschen, welche 
durch die in ihr herrschende Organisation die 
Durchführung der Rechtsordnung nach den drei 
zuvor unterschiedenen Richtungen gewährleistet, so 
ist das Außerliche und Mechanische vermieden, 
welches der Kantischen Definition anzuhaftenscheint. 
Auch ohne daß ihm schon weitere Funktionen bei- 
gelegt wurden, allein als Rechtsstaat betrachtet, 
rückt der Staat an die ihm von einer organischen 
Betrachtungsweise vorgezeichnete Stelle. Schlim- 
mer war die völlig einseitige Auslegung, welche 
der Begriff des Rechtsstaats unter Nachwirkung 
der Kantischen Lehre erfuhr, indem seine Aufgabe 
  
schreibt, was in gewissen vorausgesehenen Fällen ausschließlich in der Gewährleistung der innern 
als Recht zu gelten hat. und äußern Rechtssicherheit der Bürger erblickt 
Ein Dreifaches also ist es, was das Recht vom # und der eigentliche Inhalt des Lebens, die gesamte 
Staat verlangt: Gesetzgebung, richterliche Tätig-) materielle und geistige Kultur, soweit als möglich, 
keit und Bereitstellung der erforderlichen Zwangs= seiner Einwirkung entzogen und „dem freien Spiel 
mittel. Durch die Erfüllung dieser Aufgaben der Kräfte" überlassen wurde. In ausdrücklichem 
schafft er den Bürgern Sicherheit im Innern und Gegensatz gegen den alles bevormundenden Polizei- 
Rechtsschutz als die unerläßlichen Bedingungen staat der unmittelbar vorangegangenen Epoche 
wahrhaft menschlicher Betätigung und kultureller verlangten Philosophen, Staatslehrer und Poli- 
Entwicklung. Müßte der einzelne Familie und tiker vom Ende des 18. bis tief in das 19. Jahrh. 
Eigentum aus eigner Kraft gegen die ungezügelte hinein, daß die staatliche Wohlfahrtspflege auf das 
Leidenschaft oder verbrecherische Habsucht der Nach= geringste Maß eingeschränkt und den Individuen 
barn schützen, so wäre friedliche und erfolgreiche wie der freien Assoziation der weiteste Spielraum 
Arbeit nicht möglich. Daß es ebenso dem Staat belassen werde. Ganz den Händen des Staats 
obliegt, Land und Volk gegen auswärtige Feinde entwinden ließ sie sich freilich schon darum nicht, 
zu verteidigen, wurde schon früher ins Auge ge= weil es Gebiete gibt, wo der Rechtsschutz unmerk- 
faßt und bedarf keiner nochmaligen Hervorhebung. bar in die Wohlfahrtspflege übergeht, so daß eine 
Nur darf man darum nicht, wie wohl geschehen scharfe Grenze nicht zu ziehen ist. 
ist, von einem „Machtzweck“ des Staats sprechen. Daß der Staat das Eigentum zu schützen habe, 
Macht ist niemals Zweck, sondern immer nur ist eine Forderung, in der alle übereinstimmen 
Mittel. „Wir arbeiten, um der Ruhe zu ge= und die gerade von den einseitigen Vertretern der 
nießen“, sagt Aristoteles, „und führen Krieg um Rechtsstaatsidee mit besonderer Zähigkeit verfochten 
des Friedens willen.“ Welche Macht ein Staat zu werden pflegt. Es wird also das Gesetz Dieb- 
besitzen müsse, hängt daher von den Aufgaben ab, 1 stahl, Raub, Brandstiftung mit schweren Strafen
	        
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