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bedrohen, es werden Hantierungen polizeilich ver-
boten sein, welche für die Gebäulichkeiten der
Nachbarn eine unmittelbare Feuersgefahr be-
deuten, und weil ein brennendes Haus sofort eine
Gefahr für die übrigen bildet, werden Anlagen
verboten sein, welche, wie Strohdächer, leicht in
Brand geraten. Von da aber ist es nur ein kleiner
Schritt zur zwangsweisen Einführung von Feuer-
löscheinrichtungen. Ahnlich steht es mit den Ver-
boten, die erlassen werden, um die Einschleppung
ansteckender Krankheiten zu verhüten. Bestimmend
für dieselben ist die Pflicht des Staats, das Recht
der Bürger auf Leben und Gesundheit zu schützen;
nur als eine Ergänzung aber läßt sich alsdann die
Einrichtung von Krankenhäusern ansehen, in
welchen die von der Krankheit Ergriffenen ab-
gesondert und in Pflege genommen werden. Hier
und in andern Fällen wird es schwer sein, zu be-
stimmen, wo Rechtsschutz und Sicherung aufhören
und die positive Wohlfahrtspflege beginnt.
Wie weit aber die Vertreter des oben bezeich-
neten Standpunkts in ihrem Bestreben gingen, der
freien Initiative den Vorrang vor staatlichen
Maßnahmen einzuräumen, dafür gibt das spre-
chendste Beispiel die Jugendschrift Wilhelms
v. Humboldt: „Ideen zu einem Versuch, die
Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu be-
stimmen“ (1791 verfaßt, aber erst 1851 an-
nähernd vollständig herausgegeben). Hier wird
der Grundsatz formuliert: „Der Staat enthalte
sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand
der Bürger und gehe keinen Schritt weiter, als
zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst und gegen
auswärtige Feinde notwendig ist; zu keinem
andern Endzweck beschränke er ihre Freiheit.“
Jedes andere Verhalten wird für schädlich erklärt,
weil es die natürlichen Kräfte schwäche, den
Charakter erniedrige und die Individuen in eine
widerwärtige Gleichförmigkeit hineinzwinge. Selbst
von der Ehe soll der Staat „seine ganze Wirk-
samkeit entfernen, dieselbe vielmehr der freien
Willkür der Individuen und der von ihnen er-
richteten mannigfaltigen Verträge gänzlich über-
lassen“. Als das Höchste gilt überall das Indi-
viduum in der freien und mannigfaltigen Ent-
wicklung der persönlichen Kräfte und als der allein
vernunftgemäße Zustand ein solcher, „in welchem
nicht nur jeder einzelne der ungebundensten Frei-
heit genießt, sich aus sich selbst, in seiner Eigen-
tümlichkeit zu entwickeln, sondern in welchem auch
die physische Natur keine andere Gestalt von
Menschenhänden empfängt, als ihr jeder einzelne
nach dem Maß seines Bedürfnisses und seiner
Neigung, nur beschränkt durch die Grenzen seiner
Kraft und seines Rechts, selbst und willkürlich gibt“.
Das sind nun freilich Ubertreibungen, von
denen Humboldt selbst längst zurückgekommen
war, als er im Jahr 1809 die Leitung des
preußischen Unterrichtswesens übernahm und sich
erfolgreich an der Wiederaufrichtung des Staats
beteiligte. Eine nachhaltige Verstärkung aber er-
Staat.
1370
fuhr die politische Denkweise, welche die Aufgabe
des Staats ausschließlich in den Rechtsschutz ver-
legt wissen will, durch den Siegeslauf, den der
ökonomische Liberalismus, das System des laissez
aller, laissez faire, von England aus über die
ganze zivilisierte Welt antrat. Denn er war ge-
tragen nicht durch ein philosophisches System,
eine abstrakte Theorie, sondern durch die realen
Faktoren des Wirtschaftslebens, die durch die
Maschinentechnik völlig, veränderte Form der ge-
werblichen Produktion, den ungeahnten Auf-
schwung von Handel und Verkehr infolge der
neuen Verkehrsmittel und die ins Ungeheure ge-
wachsene Macht des Kapitals. In einem ganz
andern Sinn, als der Optimismus Wilhelms
v. Humboldt vermeint hatte, wurde jetzt das Recht
des Individuums proklamiert und jede Schranke
beseitigt, welche der Gedanke an die Solidarität
der Menschen und die Ehre der Arbeit vor dem
rücksichtslosen Egoismus des Erwerbens und Er-
raffens aufgerichtet hatte. Man lasse nur den
wirtschaftlichen Kräften freien Lauf, man hüte sich,
in das feine Geflecht der Gütererzeugung und
Güterverteilung mit der plumpen Hand staatlicher
Direktiven eingreifen zu wollen, und eine allge-
meine Blüte der Kultur, eine früheren Perioden
unbekannte Steigerung des Volkswohlstands wird
eintreten! Jahrelang ist diese Weisheit von allen
Kathedern gepredigt worden, hat sie die Gedanken
von Staatsmännern und Politikern beherrscht und
die Gesetzgebung beeinflußt. Auch war es nicht
wissenschaftliche Kritik oder verbesserte theoretische
Einsicht, was im letzten Drittel des vergangenen
Jahrhunderts in Deutschland einen Umschwung
herbeiführte, sondern das Anwachsen der sozia-
listischen Partei, der gegenüber sich das Vor-
handensein einer „sozialen Frage“ nicht länger in
Abrede stellen ließ, und sodann die veränderte
Politik des Fürsten Bismarck. Über das erstere
und die Gründe, die dafür bestimmend waren,
braucht an dieser Stelle nicht weiter gesprochen zu
werden, ebensowenig wie von den Mahnungen
einsichtiger und wohlwollender Männer, die schon
längst auf die drohende Gefahr aufmerksam ge-
macht und Mittel der Abhilfe verlangt hatten.
Aber man begreift, daß die sozialistischen Forde-
rungen die Regierungen auf die Bahn sozial-
politischer Maßnahmen drängen mußten. Zu
einem wichtigen Bestandteil derselben hätte man
freilich schon immer gelangen müssen, wenn man
den vom Staat geforderten Rechtsschutz nicht in
der einseitigen Weise verstanden hätte, welche
Lassalle durch das Witzwort vom „Nachtwächter-
staat“ geißelte. Ich habe anderwärts gezeigt, daß
es sich bei der sog. Arbeiterschutzgesetzgebung nicht
um die Betätigung humaner Absichten handelt,
um Gnaden, die man gewähren oder verweigern
mag, sondern um Ansprüche, die im natürlichen
Recht begründet sind. Eine vollendete Arbeiter-
schutzgesetzgebung bedeutet eine vollständige, bis
in ihre Konsequenzen entwickelte Anerkennung des