Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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genügt es nicht, den Grundsatz so zu formulieren: 
der Staat solle diejenigen das allgemeine Wohl 
fördernden positiven Maßregeln ins Werk setzen, 
deren Durchführung über die Kräfte der einzelnen 
oder freier Assoziationen hinausgehe. Auch dürfte 
er in dieser Fassung kaum jemals ausdrücklich be- 
stritten worden sein, wenn auch die Tendenz dahin 
gerichtet war, den Umfang dessen, was der freien 
Initiative überlassen werden müsse, möglichst aus- 
zudehnen. Vielmehr ist zu sagen, daß der Staat 
die im Interesse der allgemeinen Wohlfahrt ge- 
legenen positiven Maßregeln nicht nur dann er- 
greifen soll, wenn ihre Ausführung die Leistungs- 
fähigkeit der einzelnen und der Assoziationen über- 
steigt, sondern auch dann, wenn zwar der nächste 
Zweck derselben auch durch die Betätigung von 
Privaten erreicht werden könnte, trotzdem aber im 
Interesse des allgemeinen Wohls die Ausführung 
von Staats wegen, mit Staatsmitteln und unter 
staatlicher Verwaltung vorzuziehen ist. Daß Pri- 
vatgesellschaften Eisenbahnen bauen können, welche 
allen Anforderungen der Technik genügen und 
ebenso den Bedürfnissen des Personen= wie des 
Güterverkehrs, hat die Erfahrung bewiesen, und 
zugleich pflegen sie, weil sie eben doch in letzter 
Linie den Gewinn der Aktionäre im Auge haben, 
billiger zu arbeiten und sparsamer zu wirtschaften 
als die unter staatlicher Verwaltung stehenden Un- 
ternehmungen. Trotzdem kann ein höheres staat- 
liches Interesse oder können durchschlagende Er- 
wägungen der Staatsraison dahin führen, dem 
System der Staatseisenbahnen grundsätzlich den 
Vorzug zu geben, nicht nur, weil bei staatlicher 
Konzentration und einheitlicher Verwaltung die 
verschiedenen Verkehrsinteressen, welche ein großes 
Wirtschaftsgebiet umfaßt, besser zu ihrem Recht 
kommen, oder weil die überschüssigen Einnahmen, 
indem sie dem Staatshaushalt zufließen, die Lasten 
der Gesamtheit verringern und endlich das große 
## der Bediensteten in der Regel und auf die 
auer bei staatlicher Anstellung besser seine Rech- 
nung findet, sondern insbesondere darum, weil 
große, kapitalkräftige Assoziationen durch die Macht, 
die sie innerhab des Staats repräsentieren, nur zu 
leicht einen unerwünschten Einfluß auf den Gang 
der Staatsverwaltung ausüben oder doch für sich 
eine bevorrechtete Stellung in Anspruch nehmen, 
welche die Einheitlichkeit und ruhige Sicherheit 
derselben beeinträchtigt. Selbstverständlich soll die 
der Illustration wegen angeführte Spezialfrage 
hier nicht zum Austrag gebracht, es sollte nur ge- 
zeigt werden, daß, wo es sich um die positive För- 
derung von Wohlfahrtszwecken handelt, für den 
Staat nicht nur der Gesichtspunkt von entscheiden- 
der Bedeutung ist, ob die Verwirklichung der- 
selben durch private Initiative möglich ist, sondern 
auch der andere, ob sie im Interesse des Ganzen, 
welches er jederzeit und nach allen Richtungen zu 
wahren hat, wünschenswert ist. 
Aber die Frage, was der Staat nach der Seite 
der Wohlfahrtspflege zu leisten habe, ist damit 
Staat. 
  
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noch keineswegs erschöpft. Zu den Forderungen, 
welche heute in bezeichnendem Gegensatz gegen die 
ältere, individualistische Denkweise erhoben wer- 
den, gehört auch die, daß der Staat die wirt- 
schaftlich Schwächeren schützen, daß er also unter 
Umständen Maßregeln treffen müsse, welche nicht 
auf die Gesamtheit, sondern auf bestimmte Klassen 
zielen, denen besondere Vorteile zugewendet wer- 
den sollen. Fürst Bismarck liebte es, die von ihm 
inaugurierte hierauf gerichtete Sozialpolitik als 
praktisches Christentum zu bezeichnen, und einer 
seiner Stellvertreter ging gelegentlich so weit, das 
Einschneidendste der Arbeiterversicherungsgesetze 
dem Reichstag mit den Worten des Apostels zu 
empfehlen: Brüder, liebet einander. Soll dadurch 
im Ernst einer Verwischung der Grenzen und 
Vermengung der Gebiete das Wort geredet sein, 
so kann nicht bestimmt genug Einsprache dagegen 
erhoben werden. Der Staat zwingt, christliche 
Liebestätigkeit ist aus der Freiheit geboren. Dem 
Zwangsgebot des Staats genügt die vorgeschrie- 
bene Leistung, die Liebe kennt kein Maßs, sie voll- 
endet sich im Opfer. Auf der andern Seite kann 
man es freudig begrüßen, wenn der christliche Ge- 
danke von der Solidarität der Menschen in der 
staatlichen Gesetzgebung wiederum Eingang findet 
und sich darin behauptet. 
An einem Punkt ist er, in Deutschland wenig- 
stens, auch unter der Herrschaft des Liberalismus 
nicht völlig daraus verschwunden, das ist die 
Armenpflege im Sinn einer öffentlich-rechtlichen 
Verpflichtung. Wer sich schlechterdings nicht be- 
chaffen kann, was ihm zur Erhaltung seines 
Lebens notwendig ist, hat den Anspruch darauf, 
daß ihm dies von andern gewährt werde. Wo der 
einzelne einem engen, festgeschlossenen Verband 
angehört, richtet sich sein Anspruch gegen diesen. 
Die Eltern haben die Pflicht, ihren Kindern die 
Subsistenzmittel zu bieten, und ebenso die Kinder 
den Eltern, wenn die einen noch nicht und die 
andern nicht mehr imstande sind, sich dieselben 
aus eigner Kraft zu beschaffen. Hinter der Fa- 
milie stand die Gemeinde, solange dieselbe noch 
als ein solcher eng geschlossener Verband gelten 
konnte. Bei der allgemeinen Mobilisierung der 
Bevölkerung durch die modernen Verkehrsmittel 
und dem in den meisten Staaten anerkannten 
Prinzip der Freizügigkeit ist es nunmehr die große, 
umfassende Gemeinschaft, welche für den Armen 
aufzukommen hat, sei es daß direkt staatliche Or- 
gane mit der Ausführung betraut sind, zu welcher 
die Staatseinnahmen die Mittel liefern, sei es 
daß nur staatliche Gesetzgebung vorschreibt, in 
welcher Weise durch die Gemeinden oder andere 
Verbände mit Hilfe lokaler Organe die Armen- 
pflege auszuüben ist. Dabei aber handelt es sich 
hier nicht um eine Wohlfahrtsmaßregel, sondern 
um die Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung. 
Anders da, wo durch staatliche Vorkehrungen und 
mit staatlichen Mitteln die Absicht verfolgt wird, 
der Verarmung vorzubeugen durch bessere Er- 
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