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ziehung, Gewährung von Arbeitsmitteln, Be-
schaffung von Arbeitsgelegenheit usw. Daß der
Staat in solcher Weise bei besondern Gelegen-
heiten einzugreifen habe, wie sie ungewöhnliche
Elementarereignisse, Kriege und Epidemien mit
sich bringen, ist allgemein zugestanden, aber auch
wo jener Zweck durch ständige Einrichtungen ver-
folgt würde, läge eine solche Fürsorge für eine
bestimmte Klasse von Bürgern doch so sehr im
Interesse der Gesamtheit, daß am Beruf des
Staats, sich dieselbe angelegen sein zu lassen, nicht
gezweifelt werden könnte.
Dies führt sogleich auf einen andern Punkt.
Wenn von den wirtschaftlich Schwachen die Rede
ist, so sind damit in der Regel nicht die Armen
gemeint, sondern die Angehörigen solcher Er-
werbsstände, welche durch Verhältnisse, die sie
nicht verschuldet haben und die abzuändern nicht
in ihrer Macht liegt, in ihrem Erwerbsleben ge-
hemmt und geschädigt sind. Von der vollendeten
wirtschaftlichen Ohnmacht, mit welcher der einzelne
großindustrielle Lohnarbeiter dem Unternehmer
gegenübersteht, soll hier nicht gesprochen werden.
Es wurde schon bemerkt, daß der Schutz, den ihm
die sozialpolitische Gesetzgebung zu leisten hat, zu
einem großen Teil als Rechtsschutz anzusehen ist.
Wirtschaftlich schwächer ist aber das Handwerk,
wo es der Großindustrie gegenübersteht, und der
kleine und mittlere Kaufmann gegenüber dem
Warenhaus. Über ihre wirtschaftliche Notlage
klagt seit Jahren in vielen europäischen Staaten
die Landwirtschaft, weil sie die Konkurrenz mit
der Getreideausfuhr fremder Länder, die aus
mancherlei Gründen billiger produzieren, nicht
auszuhalten vermag. Hier also handelt es sich
zweifellos um die besondern Interessen einzelner
Klassen und Stände, aber man verlangt — und
die grundsätzliche Berechtigung dieser Forderung
wird in der Gegenwart nicht mehr bestritten —, daß
der Staat ihnen mit den Mitteln der Gesamtheit
zu Hilfe komme. Rechtfertigen aber läßt sich die
Forderung hier und in allen andern Fällen der
gleichen Art nur aus der Erwägung, daß die
Gesamtheit selbst an der Erhaltung jener Klassen
und Stände ein Interesse hat. Denn davon ist
auszugehen, daß für staatliche Wohlfahrtspflege
immer nur das Interesse der Gesamtheit bestim-
mend sein kann. Daraus folgt unmittelbar, daß
der Staat nicht den Beruf hat, einer Produktions-
weise durch künstliche Mittel den Fortbestand zu
sichern, welche von dem Fortschritt der wirtschaft-
lichen Entwicklung überholt ist. Wenn also vom
Staat Schutz des Handwerks verlangt wird, so
kann die Absicht vernünftigerweise nicht sein, die
veraltete Handwerkstechnik dort noch länger auf-
recht zu erhalten, wo der maschinelle Großbetrieb
Besseres zu leisten vermag. Schutz des Handwerks
kann für den Staat nur bedeuten: Erhaltung des
für den ersprießlichen Fortgang des öffentlichen
Lebens so überaus wichtigen Mittelstands, also
Schut der wirtschaftlich selbständigen kleineren und
Staat.
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mittleren Gewerbetreibenden gegen das Herab-
sinken in die große Masse der abhängigen Lohn-
arbeiter. Voraussetzung hierfür aber und zugleich
die einzige Gewähr eines Erfolgs ist, daß es sich
dabei um Gewerbetreibende handelt, welche wegen
der besondern Natur und Beschaffenheit ihres Pro-
duktionszweigs oder aus irgend welchen andern
Umständen neben der großindustriellen Produktion
noch eine wertvolle wirtschaftliche Aufgabe erfüllen.
Wo derartige Elemente des Wirtschaftslebens be-
stehen, und sofern es Mittel gibt, dieselben in
ihrem Bestand zu stärken, ist der Staat befugt,
diese Mittel zu ergreifen. Er dient dadurch seiner
eignen Erhaltung.
Noch anders steht es mit der Landwirtschaft.
Nicht nur, daß es im Interesse eines jeden Staats
gelegen ist, sich einen gesunden und kräftigen
Bauernstand solang als möglich zu erhalten. —
ein großes Staatswesen kann auch eine eigne
einheimische Landwirtschaft, kann die inländische
Erzeugung der unentbehrlichen Nahrungsmittel,
vor allem des Brotgetreides, nicht entbehren aus
dem einfachen Grund, weil die Abhängigkeit von
fremdem Import für den Kriegsfall die Gefahr
einschließt, von der Zufuhr abgeschnitten zu wer-
den. Ein furchtbarer Schrecken erfaßte in den
Tagen des sinkenden Kaiserreichs Rom und Italien,
wenn die Besorgnis aufkam, es könnte die Ge-
treideflotte aus Afrika ausbleiben. Ahnliches
würde sich auch in der modernen Welt ereignen,
wenn in einem Staat, während die Industrie sich
mächtig entwickelt und große Reichtümer ins Land
bringt, auch die Lebenshaltung der gewerblichen
Arbeiter sich steigert, gleichzeitig die Landwirtschaft
verkümmert, hinsiecht und endlich zugrunde geht.
Auch für England besteht die Gefahr nur solang
nicht, als seine Flotte die Meere beherrscht und
unter ihrem Schutz die Kolonien das Mutterland
versorgen können. Hier darf der Staat nicht ruhig
zusehen, er muß eingreifen, solang es noch Zeit
ist, und wo es nottut, auch vor energischen Maß-
regeln nicht zurückschrecken. Dem Interesse der
städtischen Bevölkerung an niedrigen Lebensmittel-
preisen steht die Fürsorge für die einheimische
Landwirtschaft als das höhere Interesse des Staats-
ganzen gegenüber.
V. Die Grenzen der staatlichen Kompetenz.
Ein Doppeltes hat die vorangehende Erörterung
herausgestellt: erstens, daß es nicht angeht, Rechts-
schutz und Wohlfahrtspflege auseinanderzureißen;
sie bilden zusammen die beiden großen Aufgaben,
welche sich unmittelbar aus der Natur des Staats
ergeben; sodann aber, daß für staatliche Wohl-
fahrtspflege jederzeit die Rücksicht auf das Staats-
ganze bestimmend sein muß. Nun aber erhebt sich
die Frage, wie weit diese Rücksichtnahme führt.
Wenn nach einem bekannten Spruch das öffent-
liche Wohl oberstes Gesetz sein soll, so könnte es
scheinen, als ob es Grenzen für die Wirksamkeit
des Staats in dieser Richtung überhaupt nicht gebe
und vor jenem obersten Gesetz alle andern Erwä-