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gungen verstummen müßten. Das war die Mei-
nung, welche in der modernen Welt zuerst von
Th. Hobbes vertreten wurde. Ihm ist der Staat
die große Wohlfahrtsanstalt, welche die Furcht und
der Selbsterhaltungstrieb der Menschen aufrichten,
und durch die sie vor dem Krieg aller gegen alle
geschützt werden. Ebendarum aber herrscht der
Staat über die Menschen mit unumschränkter
Macht. Es gibt ihm gegenüber kein berechtigtes
Einzelinteresse und keine Berufung auf ein Gebot
des Gewissens. Zwei Jahrhunderte später hat
Hegel die gleiche Lehre, nur in andern Wendungen,
vorgetragen. Für die Wissenschaft der „sich selbst
begreifenden Vernunft" ist der Staat „die Wirk-
lichkeit der sittlichen Idee, der sittliche Geist, der
offenbare, sich selbst deutliche substantielle Wille,
der sich denkt und weiß und das, was er weiß,
und sofern er es weiß, vollführt“. Er ist seiner
Idee nach „der wirkliche Gott“, der „göttliche
Wille als gegenwärtiger, sich zu wirklicher Gestalt
und Organisation entfaltender Geist“. Er ist
„absoluter, unbewegter Selbstzweck“ und hat als
solcher „das höchste Recht gegen die einzelnen,
deren höchste Pflicht es ist, Mitglieder des Staats
zu sein“ (Grundlinien der Philosophie des Rechts,
88 257.258.270. 272). Der konkrete Staat, den
Hegel vor Augen hatte und aus dessen Bewußtsein
heraus er seine Staatslehre entwarf, war der preußi-
sche im ersten Drittel des 19. Jahrh., und er selbst
hat ohne Zweifel dazu beigetragen, das preußische
Staatsbewußtsein und den Gedanken der alles
überragenden Staatshoheit zu stärken und zu be-
festigen. Die Theorie hat trotzdem nicht verhütet,
daß nicht lange danach in Gesetzgebung und Ver-
waltung die Grundsätze des Liberalismus zur
Geltung gelangten und insbesondere das wirt-
schaftliche Gebiet der Einflußnahme des Staats
tunlichst entrückt wurde. Als dagegen in dem
Kulturkampf der 1870er Jahre der Versuch ge-
macht wurde, die katholische Kirche in Preußen
ganz und gar der staatlichen Oberhoheit zu unter-
werfen, ist dies nicht selten mit Argumenten ver-
teidigt worden, welche an die Hegelsche Auffassung
vom Staat erinnerten. Deckte sich doch auch mit
der letzteren die in den Kreisen der Juristen nur
allzu verbreitete Lehre, derzufolge staatliche Gesetz-
gebung das Recht schafft und es ein Recht außer
dem Staat und gegen den Staat überhaupt nicht
gibt. Es gelang nicht, die „Souveränität der
Gesetzgebung“ der katholischen Kirche gegenüber
siegreich durchzuführen. Dafür scheint jetzt, nach-
dem die früher erwähnten Faktoren die einseitige
Rechtsstaatstheorie überwunden und beseitigthaben,
die Hegelsche Lehre von der Staatsomnipotenz auf
einem andern Gebiet ihre Auferstehung feiern zu
sollen und der Staatssozialismus bei vielen als
das Mittel zu gelten, den revolutionären Sozialis=
mus zu überwinden. Eine grundsätzliche Erörte-
rung der Frage nach den Grenzen der staatlichen
Kompetenz entspricht somit zugleich dem politischen
Tagesbedürfnis.
Staatslexikon. IV. 3. u. 4. Aufl.
Staat.
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Dabei aber ist vorab die Bemerkung zu machen,
welche Aristoteles wiederholt und nachdrücklich
seinen ethisch-politischen Untersuchungen voran-
geschickt hat. Wo von den unendlich verwickelten
und mannigfaltigen Verhältnissen des Menschen-
lebens die Rede ist, kann man nicht, wie in der
Mathematik, Lehrsätze von ausnahmsloser Gültig-
keit aufstellen. Nur gewisse oberste Prinzipien
lassen sich aufzeigen, deren Anwendung aber je
nach den Verhältnissen des besondern Falls, bei
dessen Beurteilung nicht selten einander kreuzende
Gesichtspunkte in Betracht kommen, zu sehr ver-
schiedenen Ergebnissen führt. Mit diesem Vor-
behalt ist nunmehr das natürliche Recht des In-
dividuums und das natürliche Recht der Familie
als erste Schranke der staatlichen Kompetenz zu
bezeichnen. Jeder einzelne besitzt auf Grund seiner
menschlichen Persönlichkeit eine autonome Sphäre,
innerhalb deren er nur sich selbst und seinem Ge-
wissen verantwortlich ist und sein will, und wo
jeder unbefugte Eingriff von außen als Rechts-
verletzung empfunden wird. Die Familie ist die
ursprünglichste, unmittelbar in der Natur be-
gründete Vergesellschaftung; aus ihrem unver-
änderlichen Zweck erwächst ihr ein eigenes, un-
veräußerliches Recht, welches der Staatauzuerkennen
und zu schützen hat, das er nicht umgestalten oder
gar wegdekretieren kann. Die Notwendigkeit des
gemachten Vorbehalts aber zeigt sich, wenn man
bedenkt, wie mancherlei Einschränkungen die per-
sönliche Freiheit, auch wo sie nicht durch persön-
liche Schuld verwirkt wird, durch die Einrich-
tungen des modernen Staatslebens erfährt. Nie-
mand bestreitet, daß der erwachsene Bürger die
rechtliche Freiheit besitze, sich sein Leben nach
eignem Ermessen zu gestalten, aber die in vielen
Ländern eingeführte allgemeine Wehrpflicht macht
diese Freiheit für eine Reihe von Jahren mehr
oder minder illusorisch. Und so sehr die Gesetz-
gebung sich hüten soll, in das Heiligtum der
Familie einzugreifen, so hat doch die Entwicklung
des modernen Wirtschaftslebens dahin geführt,
daß zum Schutz der bei gewerblichen Arbeiten
beschäftigten Kinder die freie Ausübung der
elterlichen Gewalt nicht unerheblich eingeschränkt
wurde. Aber etwas anderes ist es, der staatlichen
Gesetzgebung die Befugnis zuschreiben, unter ganz
bestimmten Voraussetzungen die persönliche Frei-
heit des einzelnen und das Bestimmungsrecht der
Eltern einzuengen, und etwas anderes, das eine
wie das andere als nicht vorhanden anzusehen
und alles der willkürlichen Reglung durch die
staatliche Autorität zu überlassen. Tatsächlich
kann sich niemand auf sein persönliches Freiheits-
recht berufen, um sich dadurch der Pflicht der
Landesverteidigung zu entziehen, und der elter-
lichen Gewalt steht der rechtliche Anspruch des
Kindes auf Schutz seiner körperlichen und geistigen
Entwicklung gegenüber. Die vom natürlichen
Recht aufgeführte Schranke besteht trotzdem, und
der sozialistische Zwangsstaat, der in völliger
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