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schen Geschichte des Altertums [1910]. Knappe
Zeichnung und Literaturüberblick bei v. Below,
Art. „Unfreiheit“, im Wörterbuch der Volkswirt-
schaftslehre II I21907 1106. 1107 und 1111.)
Dagegen der Bürger besaß faktisch eine Sphäre
freier, vom Staat unabhängiger Betätigung. Aber
zum Bewußtsein des rechtlichen Charakters
dieser staatsfreien Sphäre war es im Altertum
nicht gekommen und dementsprechend niemals zur
ausdrücklichen gesetzlichen Anerkennung dieser Frei-
heit, weil sie eben zu selbstverständlich war.
Warum es nicht zur Forderung und zur Aus-
bildung von Rechtsschranken zwischen Staat und
Individuen kam, wird von Jellinek einleuchtend
begründet. Es lag in der Einheit der Interessen,
die im Staat auch für das Individuum ver-
körpert waren. Die Existenz des Stadtstaats
war in den Kulturverhältnissen, namentlich den
unentwickelten internationalen Verhältnissen viel
enger mit der Existenz jedes einzelnen ver-
bunden, als es heute der Fall ist. Eine weitest
gehende Unter= und Einordnung in den Staat
mußte also von vornherein der Gedankenwelt
als absolut im Interesse des Individuums selbst
geforderte Notwendigkeit erscheinen. Dazu war
der griechische und antike Staat nicht bloß Staat,
sondern auch Kultgemeinschaft, der auch des-
halb ein größeres Maß von Anforderungen an
seine Bürger stellen konnte. „So konnte sich eine
patriotische Hingabe an das Staatsganze ent-
wickeln, wie sie spätere Zeiten kaum gekannt haben“
(v. Hertling, Recht, Staat und Gesellschaft (1906)
800). Aus dieser Einheit von staatlicher und reli-
giöser Organisation ergibt sich auch für die antike
Auffassung, daß der Staatszweck theoretisch in
denkbar umfassendster Weise formuliert wird, daß
der Staat auch sittliche Zucht zu üben und zur
sittlichen Tugend zu erziehen habe, so daß also der
Gedanke an Rechtsschranken zwischen Staat und
Individuum mit seinen persönlichen Rechten nicht
aufkam.
3. Auch bei Würdigung des „römischen
Staats“ kann es sich nicht darum handeln, einen
dauernden, unveränderlichen Charakter in jeder
Beziehung ihm beizulegen und seine ganze Ge-
schichte zu schildern. Es kommt auch hier, wie
beim Typus des griechischen Staats, zum Ver-
gleich mit dem mittelalterlichen und modernen
Staatswesen nur darauf an, die Beschaffenheit des
staatlichen Verbands an sich und die Stellung des
Individuums zum Staat kurz zu skizzieren, in-
sofern von diesen zwei Punkten ein gewisser Cha-
rakter des Staats abhängig ist, ohne daß damit
Charakterisierungsmöglichkeit in anderer Hinsicht
irgendwie ausgeschlossen sein soll.
Was zunächst die Art des staatlichen Verbands
an sich angeht, so ist der römische Staat, gleich
dem griechischen, juristisch zu charakterisieren als
innere Einheit. Er kennt nicht den Dualismus
der mittelalterlichen Gewalten. Trotzaller Stände-
kämpfe „ist in jeder Epoche der Gedanke lebendig,
Staat, der antike.
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daß bei aller Vielheit der Organe doch nur in
einem einzigen die Machtfülle des Staats, das
imperium, die maiestas vorhanden sei, alle
andern aber nur abgeleitetes Recht besitzen“ (Jel-
linek a. a. O. 306). Der römische Staat ist ferner
innere Einheit durch den Umstand, daß er zugleich
Kultgemeinschaft ist und dementsprechend den Dua-
lismus zwischen Staat und Kirche nicht kennt.
Was das Verhältnis des Individuums zum
Staat angeht, so ist das Recht der menschlichen
Persönlichkeit als solcher auch vom römischen Staat
nicht anerkannt worden. Aber der Bürger bleibt
auch dem Staat gegenüber Person mit individueller
Freiheitssphäre außerhalb des staatlichen Zwangs,
wenn es auch darüber zu keinem in jeder Beziehung
klar ausgebauten rechtlichen Bewußtsein und
entsprechender Gesetzgebung gekommen ist. Zwei
mächtige Schranken gegen den Staatsabsolutismus
waren dem römischen Staatswesen von Anfang
an eigen: die Selbständigkeit der römischen Familie
und die des römischen Privateigentums. Mit der
ersteren ist besonders scharf die Anerkennung einer
vom Staat unabhängigen freien Gewalt gegeben;
allerdings kam sie ja nur dem homo suj iuris zu.
Man hat nicht mit Unrecht diese selbständige, vom
Staat nicht abgeleitete und nicht einmal von ihm
kontrollierte Herrschergewalt des Pater familias
gine kleine Monarchie genannt (vgl. Jellinek a. a. O.
387).
Die Dienstverpflichtung im weitesten Sinn
gegenüber dem Staat ist keine geringe, aber klar
dafür ist auch ausgebildet und herrscht die Auf-
fassung des Bürgers als Trägers von Ansprüchen
auf Staatsleistungen und auf Teilnahme an der
Bildung des Staatswillens.
Von diesem Typus des römischen Bürgers im
alten Rom, seiner rechtlichen und politischen Frei-
heitssphäre ist freilich wohl zu unterscheiden der
Bürgertypus in der Herrschaft der Prinzipates
und des Kaisertums. Die öffentlichen Rechte
wurden immer mehr reduziert, und schließlich
genoß der einzelne keinerlei Anteilnahme mehr
an der Staatsgewalt und zugleich keine Freiheit
mehr gegenüber der Staatsgewalt.
4. Eine knappe zusammenfassende Cha-
rakteristik des antiken Kulturstaats versucht
F. Berolzheimer (System der Rechts= und Wirt-
schaftsphilosophie III: Philosophie des Staats samt
den Grundzügen der Politik (1906 75 f): „Der
antike Staat ist zugleich Rechts-, Kultur= und
Klassenstaat, aber in einem andern Sinn als der
Staat des 20. nachchristlichen Jahrh. Der antike
Staat ist Kulturstaat, aber seine Kultur ist eine
heidnische, der der Grundgedanke der christlichen
Kultur, die Menschheitsidee, der Humanismus,
d. h. die Anerkennung und Respektierung jedes
Menschen als Rechtssubjekts fremd ist. Der antike
Staat ist Rechtsstaat, aber nicht im modernen
Sinn, sofern im antiken Staat neben den Rechts-
trägern vollen Rechts Rechtssubjekte mindern
Rechts und Rechtlose vorhanden sind; der antike