1487
so große Zahl von Schülern sich praltischen Be-
rufen zuwendet, vielleicht einige freie Zeit er-
übrigen. Das Geschichtspensum der Obertertia
ist nämlich, nach den preußischen Lehrplänen wenig-
stens, verhältnismäßig knapp. Gelänge es dort,
die Schüler bis zur französischen Revolution zu
bringen, so ließen sich am Ende des Untersekunda-
Kursus ein paar Wochen gewinnen, in denen im
Zusammenhang das Wesentlichste des staatsbür-
gerlichen Unterrichts behandelt werden könnte.
Die schwierigeren Probleme der Volkswirischaft
(Produktionszweige, Wirtschaftsstufen, Geld, Kre-
dit, Bankwesen, Kolonien, volkswirtschaftliche
Theorien usw.) müßten freilich der Oberstufe vor-
behalten bleiben.
Für die zweite Klasse der neuorganisierten
preußischen höheren Mädchenschulen schreiben die
„Ausführungsbestimmungen“ vom 12. Dez. 1908
„Belehrungen über die Zustände der Gegenwart
in Verwaltung und Ordnung von Staat und Ge-
meinde sowie über die sozialen und wirtschaftlichen
Verhältnisse“ vor. Aber auch hier wird man in
der ersten Klasse und später auf dem Seminar und
in der Studienanstalt ergänzend und vertiefend
auf diese Belehrungen zurückkommen müssen.
Was der Unterrichtsplan für die Frauenschul-
klassen des Lyzeums im einzelnen anstrebt, ist mit
folgenden Worten der „Ausführungsbestimmun-
gen“ ausgesprochen: „Anknüpfend an das Wesen
und die volkswirtschaftliche Bedeutung der Fa-
milie, Entstehung und Wesen der Vereinigung zu
Gemeinde und Staat. Der Staat, seine wirt-
schaftlichen, geistigen und sittlichen Aufgaben. Die
wichtigsten Behörden in Staat und Gemeinde.
Volksvertretung. Selbstverwaltung. Steuerwesen.
Personenstand. Kranken-, Unfall-, Invaliden=
versicherung. Einrichtungen und Aufgaben der
Gemeindeverwaltung. Außer der Wohlfahrts-
pflege des Staats und der Gemeinde ist auch die
Arbeit der Kirche, sowie diejenige von Vereinen
und Genossenschaften zu würdigen. — Wirtschaft-
licher Uberblick zum Verständnis der Entstehung
der Volkswirtschaft. Die volkswirtschaftlichen
Grundbegriffe der Arbeit, Arbeitsteilung, Güter-
erzeugung, Güterverteilung und Geldverkehr im
Anschluß an konkrete Verhältnisse. Die Gliede-
rung in Berufsstände, Landwirtschaft, Industrie,
Handel. Vereine und Genossenschaften.“
Man sieht aus dieser bisher wichtigsten Re-
gierungsverfügung über Bürgerkunde und staats-
rechtliche Erziehung, daß es nicht wenig ist, was
der Staat in dieser Beziehung fordert, und es
mag auch hier angebracht sein, sich bei der prak-
tischen Ausführung dieser Bestimmungen des alten
Wortes zu erinnern: daß die Hälfte oft mehr ist
als das Ganze. Ebenso sicher ist aber, daß die
staatsbürgerliche Erziehung sich ohne fundamen-
tale Umwälzungen in den Rahmen der bestehenden
Lehrpläne einfügen läßt, so daß der staatskundliche
Unterricht tatsächlich der Schule überwiesen und
nicht der Sorge der politischen Parteien allein
Staatsbürgerlicher Gehorsam.
1438
überlassen bleiben sollte. Ausschlaggebend für den
Erfolg ist auch hier wie bei allen derartigen Neue-
rungen das Verhalten des Lehrers: Geht er mit
ganzem Herzen an die Arbeit, so schafft er viel in
knappster Zeit; faßt er den Gegenstand mit pedan-
tischer Trockenheit mehr äußerlich und rein intel-
lektualistisch an, so werden auch die einschneidend-
sten Reformen nicht verhindern können, daß die
Unwissenheit und Interesselosigkeit unserer Schüler
in staatsbürgerlichen Fragen unvermindert bleibt.
Literatur. Willmann, Die sozialen Aufgaben
der höheren Schulen (1891); Exner, Über polit.
Bildung (1892); Störk, Der staatsbürgerl. Unter-
richt (1893); Fischer, Staats-, Wirtschafts= u. So-
zialpolitik auf höheren Lehranstalten (1893; Pro-
gramm des Wiesbadener Realgymn.); Hochhuth,
Elemente der Volkswirtschaftslehre u. Bürgerkunde
im deutschen Unterricht (1894); Neubauer, Volks-
wirtschaftliches im Geschichtsunterricht (1894); Kö-
cher, Zwei neuere Probleme des Geschichtsunter-
richts (1896); Schleichert, Die volkswirtschaftlichen
Elementarkenntnisse im Lehrplan der Volksschule
(1897); Huckert, Sammlung sozialpädagog. Aufsätze
(1898); Griep, Bürgerkunde (1901); derf., Kleine
Rechts= u. Bürgerkunde (1902); Laux u. Boock,
Erziehung des Deutschen zum Staatsbürger (1902);
Kerschensteiner, Die staatsbürgerl. Erziehung der
deutschen Jugend (71909); ders., Der Begriff der
staatsbürgerl. Erziehung (1910); Giese, Deutsche
Bürgerkunde (51910); Croner, Bürgerkunde (1907);
Hoffmann u. Groth (51908); Mittenzwey, Bür-
gerkunde (51908); Neubauer, Kleine Staatslehre
für höhere Lehranstalten (1909); Seidenberger,
Bürgerkunde in Lehrproben für den Schulunter-
richt (1909); P. Zimmermann, Staatsbürgerl.
Erziehung (1909); Th. Franke, Deutsche Staats-
u. Bürgerkunde für gehobene Bürger-, Fortbil-
dungs= u. Fachschulen (1909); Pondorf u. Viergutz,
Grundriß der Verfassungs= u. Bürgerkunde (1909);
Spielmann, Die wichtigsten Reichs= u. Staatsein-
richtungen (1909); Schilling, Über Wesen, Aufgabe
u. Mittel der staatsbürgerl. Erziehung (30. Hft der
„Pädagogik der Gegenwart“); Rusch, Herdegen u.
Tiechl, Elementare Staats= u. Gesellschaftskunde
auf kulturgeschichtl. Grundlage (1909); C. Kinder-
mann, Volkswirtschaft u. Staat (1908); Obst,
Polit. Handbuch (1909); Schubart, Verfassung u.
Verwaltung des Deutschen Reichs u. des preuß.
Staats (1909); Glock u. Bazille, Bürgerkunde für
Württemberg (1909); Schroeder, Erziehung zum
Staatsbürger (1909); Treuge, Einführung in die
Bürgerkunde (1909); Herrfurth, Leitfaden der
Bürger= u. Gesetzeskunde für Frauenschulen (1909);
E. v. Liebert, Staats= u. Bürgerkunde in Einzel-
darstellungen (2 Bde, 1910); A. Fischer, Bürger-
kunde für höhere Schulen (1910); A. Schröter,
Die staatsbürgerl. Erziehung der kaufmännischen
Jugend (1910); F. W. Foerster, Staatsbürgerl.
Erziehung (1910); E. Heuß-Knapp, Bürgerkunde
u. Volkswirtschaftslehre für Frauenschulen (1910);
Glock u. Korn, Bürgerkunde (1910).— Der staats-
bürgerl. Erziehung dient auch die 1910 gegründete
u. von Privatdozent Dr H. Dorn hrsg. Halb-
monatsschrift „Der Staatsbürger“ (Leipz., Grü-
now). [E. M. Noloff.]
Staatsbürgerlicher Gehorsam s. Ge-
horsam, staatsbürgerlicher.