Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

1449 
das Volk seine Gewalt auf den Kaiser übertragen 
habe. Der Ausspruch Ulpians: Quod principi 
placuit, legis habet vigorem, utpote cum lege 
regia, quae de imperio eins lata est, populus 
ei et in eum omne suum imperium et pote- 
statem conferat — fand Aufnahme in die Rechts- 
sammlungen Justinians, und an ihn schlof sich die 
mittelalterliche Staatslehre an. Wie so viele Ele- 
mente der griechisch-römischen Kulturweltassimilierte 
man sich die hier vorgefundene Formel und ordnete 
sie unbedenklich in die eigne christlich-germanische 
Gedankenwelt ein. In naiver Gleichsetzung mittel- 
alterlicher Verhältnisse und Zustände mit denen 
der früheren Zeiten läßt man sich auch nicht dadurch 
beirren, daß auch in den Fällen, wo wirklich durch 
Wahl die Staatsgewalt einer bestimmten Persön- 
lichkeit übertragen wurde, diese Wahl nicht durch 
das Volk im Sinn des Populus Romanus, 
sondern durch eine Minderzahl bevorrechtigter Per- 
sonen geschah. (Vgl. des Verf. Offenen Brief an 
Prof. Ritschl zur Beantwortung der Göttinger 
Jubiläumsrede, 1887, wieder abgedruckt in, Kleine 
Schriften zur Zeitgesch. u. Politik“ 150 ff 154.) 
3. Da die Staatsgewalt mit der Existenz des 
Staats selbst gegeben ist, so ist sie unabhängig 
von dem Leben der Personen, welche jeweilig ihre 
Träger sind, und geht bei dem Tod derselben 
sofort auf die Nachfolger über. In allen geord- 
neten Staaten gibt es daher Bestimmungen über 
die Art und Weise dieses Übergangs, d. h. über 
die zur Nachfolge berufenen Personen. Wenn 
solche Bestimmungen fehlen oder Störungen und 
Umwälzungen den geordneten Gang des Staats- 
lebens unterbrechen, kann der Staat nur dadurch 
fortbestehen, daß sich eine Persönlichkeit oder eine 
Mehrheit von Personen findet, welche sich der 
Staatsgewalt bemächtigen und dieselbe als Ver- 
treter des Staats und im Interesse der staatlichen 
Gemeinschaft betätigen. Ein Beispiel aus der 
Neuzeit bietet die provisorische Regierung in 
Frankreich, welche sich nach der Gefangennahme 
Kaiser Napoleons bildete. In solchen Fällen gilt, 
daß die Aufrechterhaltung des Staats das Wich- 
tigere ist, und die Frage, wer das bessere Recht 
hat, Träger der Staatsgewalt zu sein, erst in 
zweiter Linie steht. Es gilt ferner, daß die Pflicht 
der Gehorsamsleistung auf seiten der Bürger ihren 
Grund in der sittlichen Notwendigkeit des Staats 
hat und durch die persönlichen Verbindlichkeiten 
denen gegenüber, in deren Händen jeweils die 
Staatsgewalt liegt, wohl gesteigert, aber nicht 
zuerst und nicht ausschließlich begründet werden 
kann (val. d. Artt. Legitimität, Usurpation). 
Die Staatsgewalt ist ferner ihrem Begriff 
nach einheitlich und unteilbar. Eine Zeitlang hat 
zwar die entgegengesetzte Forderung einer Teilung 
der Gewalten als die Summe politischer Weisheit 
gegolten. Nachdem zuerst J. Locke dieselbe er- 
hoben hatte, war es Montesquien (De Tesprit 
de lois 11, 6), welcher ihr einen weitreichenden 
Beifall sicherte. Er unterscheidet die gesetzgebende, 
Staatsgewalt. 
  
1450 
ausführende und richterliche Gewalt und verteilt 
sie an besondere und voneinander unabhängige 
Träger, die Volksversammlung, den Monarchen 
und die Gerichtshöfe. Nur wo diese Teilung, 
wie vermeintlich in England, durchgeführt ist, 
kann seiner Ansicht nach politische Freiheit be- 
stehen. Der Irrtum, der hierbei unterlief, sofern 
Montesquien in die englische Verfassung hinein- 
trug, was dieselbe tatsächlich nicht enthält, kann 
hier auf sich beruhen. Dügegen leuchtet sofort ein, 
daß von einer Teilung der Gewalten nur in un- 
eigentlichem Sinn gesprochen werden kann. Sollte 
darunter eine solche Verteilung der Staatsgewalt 
verstanden sein, daß keiner der drei Träger von 
einem der beiden andern und die sämtlichen nicht 
von einem gemeinsamen höheren abhängig wären, 
so würde dies zu einer Auflösung des Staats 
führen. Die Einheit blieb nur gewahrt, indem 
man gleichzeitig das Prinzip der Volkssouveränität 
heranzog. Dann ist die höchste Gewalt, die Staats- 
gewalt im eigentlichen Sinn, bei dem gesamten 
Volk, und jene unterschiedenen Gewalten sind in 
Wahrheit nur verschiedene Funktionen der einen 
Staatsgewalt, welche an verschiedene und von- 
einander unabhängige Organe verteilt sind. So- 
nach würde es sich wiederum nur um eine Ein- 
richtung des demokratischen Staats handeln, nicht 
um eine Forderung, welcher jeder wohlgeordnete 
Staat zu genügen hätte. Aber auch in dieser Ein- 
schränkung ist weder die Einteilung der Funk- 
tionen eine zutreffende und vollständige noch die 
gänzliche Unabhängigkeit derselben voneinander 
bei gleichzeitiger Koordination durchführbar. Was 
das erste betrifft, so wird die richterliche Tätig- 
keit grundsätzlich von der ausführenden unter- 
schieden, in Wahrheit aber handelt es sich auch 
bei ihr nur um Anwendung, d. h. Ausführung 
der Gesetze, und ebenso ist mit Gesetzgebung und 
Exekutive, solange die letztere nichts zu tun hat, 
als die von der ersten erlassenen Normen durch- 
zuführen, das staatliche Leben nicht erschöpft; das 
ganze Gebiet der Regierungstätigkeit im engeren 
Sinn ist übergangen, welches sich durch tat- 
sächliche Anordnungen im Unterschied von den 
bloßen Erlassen rechtlicher Normen kundtut. So- 
dann aber ist offenbar, daß, wenn die Exekutive 
nur auszuführen hat, was die Gesetzgebung vor- 
schreibt, ohne auf die letztere irgend welchen Ein- 
fluß zu üben, das Organ der Gesetzgebung not- 
wendig an die erste Stelle rückt und die Exekutive 
ihr untergeordnet ist. Tatsächlich ist denn auch 
in solchen Staaten die Volksvertretung Träger 
der obersten staatlichen Gewalt. Wird dagegen 
der Exekutive ein Veto gegen die Beschlüsse der 
Volksvertretung eingeräumt, hat sie das Recht, 
dieselbe zu berufen und aufzulösen, kann sie endlich 
durch Initiativanträge und Entwürfe ihrerseits 
an der Gesetzgebung positiv mitarbeiten, so ist das 
Prinzip der gegenseitigen Unabhängigkeit auf- 
gegeben. In den monarchischen Staaten dagegen 
stellt sich jener Forderung von vornherein der
	        
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