Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

1505 
druckt bei Dupin. Manuel du droit public ec- 
clésiastiqus frangais [Par. 1847)), der dann 
später die zweite, offizielle Formulierung in der 
Declaratio cleri Gallicani 1682 folgte. 
Für die Betätigung des Staatskirchentums bil- 
deten sich wiederum zunächst in Frankreich und 
dann auch in allgemeinerer Verbreitung vor allem 
zwei rechtliche Formen heraus: das staat- 
liche Placet für kirchliche Akte und der Recursus 
ab abusu, der Rekurs an den Staat gegen „Miß- 
brauch“ der geistlichen Gewalt. Ursprünglich wur- 
den sowohl das Placet wie der Recursus wesentlich 
als Defensive begründet und in der Fiktion auch 
lange noch so festgehalten. Faktisch aber dienten 
beide bald zu Ein= und Übergriffen in das inner- 
kirchliche Gebiet. Die Art, wie der Appel comme 
d’abus besonders später in Frankreich geübt wurde, 
bedeutete geradezu eine Lahmlegung der kirchlichen 
Selbständigkeit; in den Gerichtshöfen, denen der 
Recursus zugewiesen war, in den Parlamenten, 
entschieden Kalvinisten und Jansenisten über den 
Sinn der canones und über rein geistliche Dinge 
(ogl. Eichmann a. a. O. 54. 57). 
In Deutschland erhielt die einsetzende staats- 
kirchliche Entwicklung wie überhaupt das staatliche 
und politische Leben einen eigenartigen Charakter 
durch das Aufkommen der Landeshoheit. Die 
Mannigfaltigkeit der Anknüpfungspunkte und 
Triebkräfte, die bei Ausbildung der Landeshoheit 
wirksam waren, zeigte sich auch bei Ausbildung des 
landesherrlichen Kirchenregiments. Der Landesherr 
ist der tertius gaudens im Kampf zwischen Kaiser- 
tum und Papsttum. Anknüpfungspunkte zur Er- 
strebung und Erweiterung seiner „landeskirchlichen 
Rechte“ boten sich im Zusammenhang mit der er- 
starkenden Staatsidee genug. (Die Gerechtsame 
des Patronates an den ehemaligen „Eigen“- 
kirchen des Territoriums; die Vogtei über die im 
Territorium gelegenen landeskirchlichen Anstalten; 
die Rivalität mit den geistlichen Fürsten, die über 
ihr Territorium hinaus geistliche Macht hatten und 
dadurch manchem weltlichen Fürsten, der mit ihnen 
gerade politische Händel hatte, unbequem waren 
u. a.) Diese landeskirchlichen Rechte wurden teils 
einfach usurpiert, teils wurden sie gesichert durch 
rechtsförmliche Abmachungen mit kirchlichen In- 
stanzen sowie durch mehr oder weniger mühsam 
erworbene Privilegien von seiten des päpstlichen 
Stuhls (vgl. auch den merkwürdigsten Fall eines auf 
„päpstliche Privilegierung“ begründeten Staats- 
kirchentums: die Monarchia Sicula; Scherer, 
Handbuch des Kirchenrechts I, 1 118851] 524; 
Sentis, Die Monarchia Sicula (1869.). 
Das Resultat war bei aller Verschiedenheit der 
Motive und der Ausgestaltung im einzelnen die 
Tatsache, daß sich auch in Deutschland im 
späteren Mittelalter bedeutsame Ansätze staats- 
kirchlicher Verhältnisse vorfinden; sie haben ihren 
schärfsten Ausdruck gesunden in dem Sprichwort: 
Dux Clivige est papa in territorüs suis (ogl. 
Werminghoff, Neuere Arbeiten über das Ver- 
Staatslexikon. IV. 3. u. 4. Aufl. 
Staatskirchentum. 
  
1506 
hältnis von Staat und Kirche in Deutschland 
während des späteren Mittelalters, in Histor. 
Vierteljahrschr. XI I1908!l 153/192; ders. Ver- 
passungsgeschichte der deutschen Kirche im Mittel- 
alter, in Grundriß der Gelchictswissensch hrsg. 
von Meister II. 6 11907] 88 27. 28). 
Eine Verstärkung hatte die staatskirchliche Auf- 
fassung schon durch den Humanismus erfahren, 
sowohl durch den Hinweis auf die Grundsätze des rö- 
mischen Staatskirchentums als auch durch den Nach- 
weis der Unechtheit einiger theoretischer Stützen der 
Hierokratie (Konstantinische Schenkung, Pfeudo- 
isidor). Noch mehr aber wurde das Staatskirchen- 
tum gefestigt durch die Reformation; einmal 
indirekt durch den Einfluß der sich herausbildenden 
protestantischen Auffassung von der staatlichen 
Kirchenhoheit, sodann faktisch durch die bedeutsame 
Stellung, die die katholischen Territorialfürsten 
für die Durchführung der katholischen Restauration 
hatten. Eine weitere Steigerung der staatskirch- 
lichen Ideenrichtung lag in den Anschauungen 
desstaatlichen Absolutismus, der auch 
vor kirchlichen Einrichtungen nicht Halt machen 
wollte. (Für das Hinübergreifen des staatlichen 
Absolutismus auf das kirchliche Gebiet vgl. den 
lehrreichen Aufsatz von Philippson, Philipp II. 
von Spanien und das Papsttum, in Hist. Zeit- 
schrift, 39. Jahrg. L18787 269/315, 419/457.) 
Ihren Höhepunkt erreichten die staatskirch- 
lichen Tendenzen sowohl theoretisch wie praktisch 
im Zeitalter der Aufklärung, wo vielfach öder 
Rationalismus und freiheitsfeindlicher Absolutis= 
mus sich die Hand reichten und die Kirche schlecht- 
weg zur Polizeimagd erniedrigt werden sollte. Es 
kam nicht bloß zum staatlichen Hereinregieren in 
die innern kirchlichen Angelegenheiten (Josefinis- 
mus), sondern auch zum Versuch, die verfassungs- 
mäßigen Grundlagen der Kirche zu ändern (Fe- 
bronius). (Zur Geschichte und Literatur val. 
J. F. v. Schulte, Geschichte der Quellen und 
Literatur des kanonischen Rechts von Gratian bis 
auf die Gegenwart III, 1. TI (1880|]; Stintzing- 
Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissen- 
schaft 3. Abt. L18981, X. Kap.: Der Sieg der 
Aufklärung 368/435; A. Rösch, Das Kirchenrecht 
im Zeitalter der Aufklärung, in Archiv für katho- 
lisches Kirchenrecht (1903, 1904, 19051J.— Eine 
knappe Ubersicht des josefinischen Systems bei 
Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts 
I„19097 814, Nr 7. 
Um die Wende des 19. Jahrh. kam es 
in Deutschland in Verbindung mit dem Staats- 
kirchentum noch zu nationalkirchlichen Ab- 
splitterungsversuchen (DDalberg-Wessen- 
berg; zur Geschichte dieser und auch der früheren 
nationalkirchlichen Bestrebungen in Deutschland 
vgl. Werminghoff. Nationalkirchliche Bestrebungen 
im deutschen Mittelalter, in Kirchenrechtliche Ab- 
handlungen, hrsg. von U. Stutz, 61. Hft (1910)). 
Aber auch bald setzte, nicht ohne Zusammenhang 
mit dem allgemeinen Freiheitsstreben der Zeit, 
48
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.