Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

1507 
die Reaktion gegen das Staatskirchentum ein. 
Vorbereitet wurde die Abschüttlung des un- 
würdigen und lähmenden staatskirchlichen 
Jochs durch den Aufschwung des kirchlichen 
Sinns und Selbstbewußtseins; daran waren 
beteiligt äußere Vorkommnisse und eifrige seel- 
sorgerliche Tätigkeit, aber ebenso die stille ruhige 
Arbeit der wiedererwachten kirchlichen Wissenschaft, 
einschließlich der Kirchenrechtswissenschaft, die auch 
protestantischerseits mit anerkennenswertem Stre- 
ben nach Objektivität gepflegt wurde. (Amilius 
Ludwig Richter; katholischerseits lieferte nach dem 
Urteil von Scherer, Handbuch des Kirchenrechts I, 
1 (1885 46 A. 12 eine geradezu klassische Be- 
kämpfung der staatskirchlichen Theorien vom poli- 
tischen Standpunkt aus: J. Beidtel, Das kano- 
nische Recht, betrachtet aus dem Standpunkt des 
Staatsrechts, der Politik, des allgemeinen Ge- 
sellschaftsrechts und der seit dem Jahr 1848 ent- 
standenen Staatsverhältnisse /18491.) Als äußerer 
Merkstein der Abschüttlung des staatskirchlichen 
Jochs ist das Jahr 1848 und die Würzburger 
Bischofskonferenz im Herbst dieses Jahrs zu 
bezeichnen (Vering. Die Verhandlungen der deut- 
schen Erzbischöfe und Bischöfe zu Würzburg im 
Okt. und Nov. 1848, in Archiv für katholisches 
Kirchenrecht XXI (1869) 108 ff 207 ff; vgl. ferner 
W. Struck, Kardinal Geissel und die katholische 
Bewegung 1848/49, in Preuß. Jahrb. CXI 
[19031| 98 ff; A. Beck, Die Kirchenpolitik des Erz- 
bischofs von Köln, Johannes Kardinal v. Geissel 
(1905; Gießener Diss.]; F. Schnabel, Der Zu- 
sammenschluß des politischen Katholizismus in 
Deutschland im Jahr 1848, in Heidelberger 
Abhandlungen zur mittleren und neueren Ge- 
schichte, hrsg. von Hampe u. Oncken, 29. Hft 
[1910). 
An späteren Versuchen zur Erneuerung des 
Staatskirchentums fehlte es auch in Deutschland 
nicht; sie wurden aber der Hauptsache nach, beson- 
ders im preußisch-deutschen Kulturkampf, zurück- 
gewiesen. 
III. Grundsähliches für die Gegenwart. 
Die Kirche wird, in Konsequenz ihres Berufs und 
ihrer Aufgabe, stets danach trachten, die Wahrung 
ihrer Würde, die Freiheit ihres Lebens, die Selb- 
ständigkeit ihres Rechts für ihr kirchliches Forum 
durchzusetzen. Wo immer freilich Verbindung von 
Staat und Kirche besteht, da werden als Gegen- 
leistung für staatliche Unterstützung, Förderung 
und Privilegierung der Kirche tatsächlich staats- 
kirchliche Elemente kaum fehlen. Je mehr diese 
staatskirchlichen Elemente auf das Grenzgebiet der 
beiderseitigen Zuständigkeit sich beziehen und je 
mehr sie den Charakter gegenseitiger Rücksichtnahme 
auf berechtigte Interessen an sich tragen, desto eher 
lassen sie sich mit der grundsätzlich zu fordernden 
Freiheit des kirchlichen Lebens vereinigen. Gegen 
mißtrauische Bevormundung freilich und gegen 
selbstherrliche Einmischung in das innerkirchliche 
Leben oder gar gegen staatliche Verneinung ihrer 
Staatskirchentum. 
  
1508 
Eigenberechtigung wird die Kirche stets sich tat- 
kräftig zur Wehr setzen müssen. 
Wichtiger als die doch unmögliche Abschüttlung 
aller staatskirchlichen Elemente erscheint für die 
Gegenwart die Forderung einer möglichsten Ein- 
schränkung rein diskretionärer Befugnisse der 
Staatsgewalt und die Forderung von Rechtssicher- 
heiten und Rechtsschranken bei der staatlichen Mit- 
wirkung in kirchlichen Dingen. Die Gefahr einer 
verstärkten staatskirchlichen Bewegung scheint heute 
weniger zu drohen, viel näher liegt die Mög- 
lichkeit, daß unter der Formel „Trennung von 
Staat und Kirche“ der Versuch gemacht wird, die 
Kirche in ihrer Organisation zu schwächen, in 
ihrer Lebensbetätigung zu beschränken und von 
ihrem notwendig zu fordernden Einfluß auf wich- 
tige Lebensgebiete (Schulwesen!) abzudrängen. 
Literatur. Eine eingehende juristische Darstel- 
lung u. Beurteilung des geschichtlichen S.#s bietet 
in trefflicher Orientierung E. Eichmann, Der Re- 
cursus ab abusu nach deutschem Recht mit beson- 
derer Berücksichtigung des bayrischen, preußischen 
u. reichsländischen Kirchenrechts, historisch-dogma- 
tisch dargestellte Untersuchungen zur deutschen 
Staats- u. Rechtsgesch., hrsg. von Gierke, 66. Hft 
(1903). Das Werk, das auch durch gute Einfüh- 
rung in die Literatur sich auszeichnet, enthält viel 
mehr, als der Titel vermuten läßt; auch eine ein- 
gehende Zeichnung des alten französischen S.s. Vgl. 
für das Mittelalter auch dess. Verfassers Werk: 
Acht u. Bann im Reichsrecht des Mittelalters, 
Hftö der Veröffentlichungen der Görresgesellsch., Sek- 
tion für Rechts= u. Staatswissensch. (1909).— Eine 
sachlich-politische Beurteilung des S.s bringt 
W. Martens, Die Beziehungen der überordnung, 
Nebenordnung u. Unterordnung zwischen Kirche u. 
Staat (1877; im Zusammenhang des ganzen Wer- 
kes; Aufzählung der wichtigsten Merkmale des S.3 
132/146; Gesamturteil über Wesen u. Bedeutung 
146 ff). — Nach beiden Seiten, sowohl in juristischer 
wie in geschichtlich-politischer Hinsicht, gibt auch in 
dieser Materie eine klare, präzise u. objektive Orien= 
tierung R. v. Scherer, Handbuch des Kirchenrechts 
I, 1. Hälfte (1885; vgl. bes. Verhältnis der Kirche 
zur Staatsgewalt 27/110). — Aus der neueren 
juristisch-kritischen Literatur sei besonders hervor- 
gehoben: H. Singer, Zur Frage des staatlichen 
Oberaufsichtsrechts, in Deutsche Zeitschrift für 
Kirchenrecht V, VIII (1895/98).— Eine zusammen- 
fassende Darstellung der in der Gegenwart bestehen- 
den staatskirchlichen Verhältnisse fehlt zurzeit. In 
manchen Beziehungen bietet einen Ersatz K. Rothen- 
bücher, Die Trennung von Staat u. Kirche (1908). 
Noch immer bleibt wertvoll die übersicht, die R. 
v. Scherer gibt, trotzdem sie in manchen Punkten 
durch die Geschichte überholt ist (d. a. O. kirchenpoli- 
tische Zustände der Gegenwart 58/110). — über 
das deutsche Staatskirchenrecht, Übersicht u. Litera- 
tur bei Stutz, Kirchenrecht, in Holtzendorff-Kohlers 
Enzyklopädie der Rechtswissenschaft II (61904) 908 
bis 916. Dazu Freisen, Staat u. kath. Kirche in 
den deutschen Bundesstaaten Lippe, Waldeck, Pyr- 
mont, Anhalt, Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarz- 
burg-Sondershausen, Reuß-Greiz, Reuß-Schleiz, 
Sachsen = Altenburg, Sachsen-Coburg u. Gotha 
(2 Bde, 1906); ders., Die bischöfl. Jurisdiktion
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.