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die Reaktion gegen das Staatskirchentum ein.
Vorbereitet wurde die Abschüttlung des un-
würdigen und lähmenden staatskirchlichen
Jochs durch den Aufschwung des kirchlichen
Sinns und Selbstbewußtseins; daran waren
beteiligt äußere Vorkommnisse und eifrige seel-
sorgerliche Tätigkeit, aber ebenso die stille ruhige
Arbeit der wiedererwachten kirchlichen Wissenschaft,
einschließlich der Kirchenrechtswissenschaft, die auch
protestantischerseits mit anerkennenswertem Stre-
ben nach Objektivität gepflegt wurde. (Amilius
Ludwig Richter; katholischerseits lieferte nach dem
Urteil von Scherer, Handbuch des Kirchenrechts I,
1 (1885 46 A. 12 eine geradezu klassische Be-
kämpfung der staatskirchlichen Theorien vom poli-
tischen Standpunkt aus: J. Beidtel, Das kano-
nische Recht, betrachtet aus dem Standpunkt des
Staatsrechts, der Politik, des allgemeinen Ge-
sellschaftsrechts und der seit dem Jahr 1848 ent-
standenen Staatsverhältnisse /18491.) Als äußerer
Merkstein der Abschüttlung des staatskirchlichen
Jochs ist das Jahr 1848 und die Würzburger
Bischofskonferenz im Herbst dieses Jahrs zu
bezeichnen (Vering. Die Verhandlungen der deut-
schen Erzbischöfe und Bischöfe zu Würzburg im
Okt. und Nov. 1848, in Archiv für katholisches
Kirchenrecht XXI (1869) 108 ff 207 ff; vgl. ferner
W. Struck, Kardinal Geissel und die katholische
Bewegung 1848/49, in Preuß. Jahrb. CXI
[19031| 98 ff; A. Beck, Die Kirchenpolitik des Erz-
bischofs von Köln, Johannes Kardinal v. Geissel
(1905; Gießener Diss.]; F. Schnabel, Der Zu-
sammenschluß des politischen Katholizismus in
Deutschland im Jahr 1848, in Heidelberger
Abhandlungen zur mittleren und neueren Ge-
schichte, hrsg. von Hampe u. Oncken, 29. Hft
[1910).
An späteren Versuchen zur Erneuerung des
Staatskirchentums fehlte es auch in Deutschland
nicht; sie wurden aber der Hauptsache nach, beson-
ders im preußisch-deutschen Kulturkampf, zurück-
gewiesen.
III. Grundsähliches für die Gegenwart.
Die Kirche wird, in Konsequenz ihres Berufs und
ihrer Aufgabe, stets danach trachten, die Wahrung
ihrer Würde, die Freiheit ihres Lebens, die Selb-
ständigkeit ihres Rechts für ihr kirchliches Forum
durchzusetzen. Wo immer freilich Verbindung von
Staat und Kirche besteht, da werden als Gegen-
leistung für staatliche Unterstützung, Förderung
und Privilegierung der Kirche tatsächlich staats-
kirchliche Elemente kaum fehlen. Je mehr diese
staatskirchlichen Elemente auf das Grenzgebiet der
beiderseitigen Zuständigkeit sich beziehen und je
mehr sie den Charakter gegenseitiger Rücksichtnahme
auf berechtigte Interessen an sich tragen, desto eher
lassen sie sich mit der grundsätzlich zu fordernden
Freiheit des kirchlichen Lebens vereinigen. Gegen
mißtrauische Bevormundung freilich und gegen
selbstherrliche Einmischung in das innerkirchliche
Leben oder gar gegen staatliche Verneinung ihrer
Staatskirchentum.
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Eigenberechtigung wird die Kirche stets sich tat-
kräftig zur Wehr setzen müssen.
Wichtiger als die doch unmögliche Abschüttlung
aller staatskirchlichen Elemente erscheint für die
Gegenwart die Forderung einer möglichsten Ein-
schränkung rein diskretionärer Befugnisse der
Staatsgewalt und die Forderung von Rechtssicher-
heiten und Rechtsschranken bei der staatlichen Mit-
wirkung in kirchlichen Dingen. Die Gefahr einer
verstärkten staatskirchlichen Bewegung scheint heute
weniger zu drohen, viel näher liegt die Mög-
lichkeit, daß unter der Formel „Trennung von
Staat und Kirche“ der Versuch gemacht wird, die
Kirche in ihrer Organisation zu schwächen, in
ihrer Lebensbetätigung zu beschränken und von
ihrem notwendig zu fordernden Einfluß auf wich-
tige Lebensgebiete (Schulwesen!) abzudrängen.
Literatur. Eine eingehende juristische Darstel-
lung u. Beurteilung des geschichtlichen S.#s bietet
in trefflicher Orientierung E. Eichmann, Der Re-
cursus ab abusu nach deutschem Recht mit beson-
derer Berücksichtigung des bayrischen, preußischen
u. reichsländischen Kirchenrechts, historisch-dogma-
tisch dargestellte Untersuchungen zur deutschen
Staats- u. Rechtsgesch., hrsg. von Gierke, 66. Hft
(1903). Das Werk, das auch durch gute Einfüh-
rung in die Literatur sich auszeichnet, enthält viel
mehr, als der Titel vermuten läßt; auch eine ein-
gehende Zeichnung des alten französischen S.s. Vgl.
für das Mittelalter auch dess. Verfassers Werk:
Acht u. Bann im Reichsrecht des Mittelalters,
Hftö der Veröffentlichungen der Görresgesellsch., Sek-
tion für Rechts= u. Staatswissensch. (1909).— Eine
sachlich-politische Beurteilung des S.s bringt
W. Martens, Die Beziehungen der überordnung,
Nebenordnung u. Unterordnung zwischen Kirche u.
Staat (1877; im Zusammenhang des ganzen Wer-
kes; Aufzählung der wichtigsten Merkmale des S.3
132/146; Gesamturteil über Wesen u. Bedeutung
146 ff). — Nach beiden Seiten, sowohl in juristischer
wie in geschichtlich-politischer Hinsicht, gibt auch in
dieser Materie eine klare, präzise u. objektive Orien=
tierung R. v. Scherer, Handbuch des Kirchenrechts
I, 1. Hälfte (1885; vgl. bes. Verhältnis der Kirche
zur Staatsgewalt 27/110). — Aus der neueren
juristisch-kritischen Literatur sei besonders hervor-
gehoben: H. Singer, Zur Frage des staatlichen
Oberaufsichtsrechts, in Deutsche Zeitschrift für
Kirchenrecht V, VIII (1895/98).— Eine zusammen-
fassende Darstellung der in der Gegenwart bestehen-
den staatskirchlichen Verhältnisse fehlt zurzeit. In
manchen Beziehungen bietet einen Ersatz K. Rothen-
bücher, Die Trennung von Staat u. Kirche (1908).
Noch immer bleibt wertvoll die übersicht, die R.
v. Scherer gibt, trotzdem sie in manchen Punkten
durch die Geschichte überholt ist (d. a. O. kirchenpoli-
tische Zustände der Gegenwart 58/110). — über
das deutsche Staatskirchenrecht, Übersicht u. Litera-
tur bei Stutz, Kirchenrecht, in Holtzendorff-Kohlers
Enzyklopädie der Rechtswissenschaft II (61904) 908
bis 916. Dazu Freisen, Staat u. kath. Kirche in
den deutschen Bundesstaaten Lippe, Waldeck, Pyr-
mont, Anhalt, Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarz-
burg-Sondershausen, Reuß-Greiz, Reuß-Schleiz,
Sachsen = Altenburg, Sachsen-Coburg u. Gotha
(2 Bde, 1906); ders., Die bischöfl. Jurisdiktion