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Verfassungen finden sich dagegen bei der Frage,
ob der- Zweiten Kammer oder der Ersten, oder
beiden zusammen oder welcher von beiden Kammern
das Recht der Anklage zustehen soll. Von den
Staaten mit Zweikammersystem haben fol-
gende der Zweiten Kammer (Unterhaus,
Deputiertenkammer, Haus der Abgeordneten) das
ausschließliche Recht der Ministeranklage
zugesprochen: in Deutschland nur Baden; von
außerdeutschen Staaten: England, Frankreich,
Belgien, Niederlande, Italien, Spanien, Ser-
bien, Ungarn, Dänemark, Schweden, Norwegen,
die Vereinigten Staaten von Amerika, Mexiko,
Argentinien.
Bei der verschiedenen Art der Zusammensetzung
der beiden Kammern, insbesondere auch weil viel-
fach die Krone durch ein Ernennungs= oder Be-
rufungsrecht einen unmittelbaren Einfluß auf die
Zusammensetzung der Ersten Kammer hat, erscheint
dieses auch als das allein Richtige. Die Erste
Kammer würde kaum je zu einer Ministeranklage
greifen; sollte der Beschluß der Zweiten Kammer
auf Erhebung der Klage von der Zustimmung der
Ersten Kammer abhängig sein, so würde es der
Krone allenfalls durch sog. Pairschub nicht schwer
sein, auf die Ablehnung des Beschlusses in der
Ersten Kammer hinzuwirken. Der Mangel einer
diesbezüglichen Vorschrift macht eine Minister-
anklage überhaupt unmöglich.
Durch das in Bayern, Sachsen und
Hessen geltende System, nach dem nur durch
einen übereinstimmenden Beschluß beider Kam-
mern die Ministeranklage erhoben werden darf,
wird diese außerordentlich erschwert aus denselben
Gründen, die es auch unrätlich erscheinen lassen,
der Ersten Kammer allein das Anklagerecht ein-
zuräumen.
In Preußen, Württemberg, Sachsen-
Coburg und Gotha, Österreich und Ru-
mänien hat jede der beiden Kammern das An-
klagerecht.
In den meisten deutschen Kleinstaaten
herrscht das Einkammersystem und steht na-
türlich auch das Anklagerecht nur der Kammer zu.
— Eine merkwürdige Bestimmung besteht noch in
Hessen, Sachsen-Weimar, Schwarzburg-Rudol-
stadt und Reuß j. L.; hier wird zur Erhebung der
Anklage noch die Genehmigung des Landesherrn
gefordert.
B. Der Gerichtshof im Minister-
prozeß. Von größter Bedeutung ist natürlich
die Frage nach der Bildung und Zusammensetzung
des für Ministeranklagen zuständigen Gerichts-
hofs. Dieser muß einerseits über den Parteien
stehen und absolut unabhängig sein, anderseits
einen Minister gegen willkürliche Angriffe der
Gegner schützen. Die bestehenden Verfassungen
bzw, die dazu erlassenen Ausführungsgesetze zeigen
drei Arten der Bildung dieses Gerichts-
hofs: die Erste Kammer als solche, das
oberste ordentliche Gericht im Staat und
Staatslexikon. IV. 3. u. 4. Aufl.
Staatsministerium.
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ein besonderer Staatsgerichtshof. Das
erste System findet sich in England, Frankreich,
Italien, Spanien, Serbien, in der Nordameri-
kanischen Union und in 18 Einzelstaaten der
Union, in Mexiko und Argentinien. Das zweite
System herrscht in Preußen, Hessen, Sachsen-
Meiningen, Sachsen--Altenburg, Sachsen-Coburg
und Gotha, Schwarzburg-Rudolstadt, Reuß j. L.
und Schaumburg-Lippe; ferner in den Nieder-
landen, Belgien, Dänemark, Norwegen, Ru-
mänien und Schweden. s
Einen Übergang zum dritten System
finden wir in Baden, wo die „Erste Kammer
als Staatsgerichtshof“ fungiert „in Ver-
bindung mit dem Präsidenten des obersten Ge-
richtshofs und acht weiteren Richtern, welche aus
den Kollegialgerichten durch das Los bezeichnet
und der Ersten Kammer beigeordnet werden“.
Ein von Regierung und Parlament gemein-
schaftlich gebildeter eigner Staatsgerichts-
hof findet sich in Sachsen, Württemberg, Sachsen-
Weimar, Oldenburg und Braunschweig. In den
beiden erstgenannten Staaten werden 6 ordent-
liche Richter vom König und 6 Mitglieder vom
Parlament ernannt, letztere dürfen nicht dem Par-
lament angehören, mindestens zwei davon müssen
Rechtsgelehrte sein. In Osterreich wird der Staats-
gerichtshof in der Weise gebildet, daß jedes der
beiden Häuser des Reichsrats je 12 unabhängige,
gesetztundige Staatsbürger, die aber keinem der
beiden Häuser angehören dürfen, auf die Dauer
von je 6 Jahren zu Mitgliedern des Staats-
gerichtshofs bestellt. — Auch Griechenland hat
einen besondern Staatsgerichtshof.
So wenig wie es rätlich erscheint, das aus-
schließliche Anklagerecht der Ersten Kammer (Ober-
haus, Herrenhaus) zu übertragen, aus den bereits
angeführten Gründen, ebenso ist es nicht ganz
unbedenklich, dieser Ersten Kammer allein das
Richteramt zu übertragen, da ja auch hier der
unter Umständen weitgehende Einfluß der Krone
auf die Zusammensetzung der Kammer in Frage
kommt.
Es kommt, wie bei Ausübung des Richteramts
überhaupt, so ganz insbesondere bei solchen Staats-
aktionen wie die Ministeranklage darauf an, daß
auch der Schein vermieden wird, als ob die Richter
nicht lediglich nach ihrer freien Uberzeugung, son-
dern unter gewissen äußeren Einflüssen ihre Stim-
men abgeben. Die Garantie dafür liegt in der
gesetzlichen Unabhängigkeit der Berufsrichter. Prin-
zipiell am richtigsten erscheint es daher, die Ent-
scheidung dem obersten Gerichtshof anzuvertrauen,
da in den Verfassungsstaaten die Unabhängigkeit
der Richter überall gesetzlich garantiert ist. Dieser
Gerichtshof hat auch das für solche Fälle erforder-
liche hohe Ansehen im Volk. Nun wird zwar ein-
gewendet, daß die Ernennung der Mitglieder des
Gerichtshofs vom Monarchen auf Vorschlag der
Minister (im Deutschen Reich vom Kaiser auf
Vorschlag des Bundesrats) erfolge, und daß die
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