Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

1589 
Minister (der Bundesrat) in der Lage seien, nur 
solche Personen für den Gerichtshof vorzuschlagen, 
von deren gouvernementaler Gesinnung sie über- 
zeugt seien. Um diesen Einwand zu beseitigen, ist 
in einzelnen Verfassungen bestimmt, entweder daß 
auch die Volksvertretung eine bestimmte Anzahl 
von Personen für die Mitgliedschaft zu präsen- 
tieren habe, oder aber daß ein besonderer Staats- 
gerichtshof aus Mitgliedern des obersten Gerichts- 
hofs und Mitgliedern zusammengesetzt werde, welche 
von bestimmten anderweitigen Vertretungskörpern 
gewählt werden. Die Zweckmäßigkeit der einen 
oder der andern dieser Einrichtungen läßt sich nicht 
verkennen. Ob eine derartige Einrichtung aber 
da, wo fie nicht besteht, entbehrlich oder als eine 
notwendige anzustreben sei, hängt davon ab, ob 
das Bewußtsein von der Würde der Verantwort- 
lichkeit und der Unabhängigkeit des Richteramts 
im Richterstand wach ist, oder ob Charakterlosigkeit 
und Strebertum im Beamtenstand sich geltend 
machen und den Richterstand zerrütten. 
Für das Deutsche Reich ist endlich noch eine 
weitere Frage zu erörtern. Die früheren obersten 
Gerichtshöfe, welche zur Entscheidung über Mi- 
nisteranklagen berufen waren, haben mit Einfüh- 
rung der Reichsprozeßgesetze aufgehört zu existieren; 
nur Bayern hat noch einen eignen obersten Ge- 
richtshof für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten, dessen 
Zuständigkeit aber eine begrenzte ist. An die 
Stelle der bisherigen obersten Gerichtshöfe ist das 
Reichsgericht getreten. Soll nun das Reichsgericht 
für die Entscheidung über Ministeranklagen zu- 
ständig gemacht werden? Diese Frage wird von 
denjenigen bejaht werden, welche den deutschen 
Einheitsstaat anstreben. Wer aber, wie wir, die 
noch vorhandene Selbständigkeit der Bundesstaaten 
im Interesse freiheitlicher Entwicklung und der 
Weiterentwicklung des deutschen Wesens aufrecht 
erhalten will, wird die Frage verneinen. Es han- 
delt sich hierbei um eigenste, wichtigste Angelegen- 
heiten der einzelnen Bundesstaaten, welche deren 
ganzes Verfassungsleben auf das tiefste berühren 
und für das Reich als solches kein rechtliches Inter- 
esse haben; für diese Angelegenheiten kann dem 
Reich bzw. einem Organ desselben die Zuständig- 
keit nicht eingeräumt werden, wenn anders nicht 
hiermit ein großer Schritt zur Herstellung des 
Einheitsstaats gemacht werden soll, welcher Schritt 
dann auch weitere Schritte im Gefolge haben 
würde. Wird also die vorhin gestellte Frage ver- 
neint, so bedarf es der Errichtung besonderer Ge- 
richtshöfe für die einzelnen Bundesstaaten, falls 
nicht vorgezogen werden sollte, demjenigen Ge- 
richtshof höherer Instanz, welcher, wie in Preußen 
das Kammergericht, die oberste Instanz für gewisse 
Strafrechtsfälle und gewisse andere Rechtsange- 
legenheiten bildet, die Zuständigkeit zu über- 
tragen, und zwar entweder ihm in seiner ge- 
richtsverfassungsmäßigen Zusammensetzung oder 
unter Zuziehung anderer unabhängiger geeigneter 
Elemente. 
Staatsministerium. 
  
1540 
C. Das Verfahren. Was das Verfahren 
bei Ministeranklagen betrifft, so wird es im großen 
und ganzen auf denjenigen Prinzipien beruhen 
müssen, welche den Reichsprozeßgesetzen zugrunde 
liegen, also im wesentlichen auf dem Prinzip des 
Anklageprozesses, wobei der Zweiten Kammer bzw. 
den von dieser zu wählenden Kommissarien die 
staatsanwaltschaftlichen Funktionen obliegen, und 
auf den Prinzipien der Mündlichkeit und der nur 
in bestimmten Fällen auszuschließenden Offentlich- 
keit. Auch hier ist zu bemerken, daß eine Minister- 
anklage nicht möglich ist, wenn der zur Ent- 
scheidung berufene Gerichtshof oder das zu beob- 
achtende Verfahren nicht gesetzlich festgestellt sind. 
Es leuchtet auch ein, daß es im Interesse einer 
unparteiischen Justiz wie auch im Interesse des 
Staats überhaupt gelegen ist, wenn mit der Er- 
hebung der Anklage der betreffende Mi- 
nister ipso jure vom Amt susspendiert 
sein soll. Die Verfassungen sprechen sich hierüber 
nicht näher aus; nur die Ministerverantwortlich- 
keitsgesetze in Bayern und Osterreich und die einiger 
außerdeutschen Staaten lassen mit dem Beschluß auf 
Erhebung der Anklage den Minister provisorisch 
vom Amt enthoben sein. Natürlich darf auch durch 
Vertagung, Schließung oder Auflösung 
der Volksvertretung ein Ministerpro- 
zeß nicht unterbrochen werden; denn die 
Auflösung und Schließung der Ständeversamm- 
lung steht der Regierung zu, die dadurch jeden 
Ministerprozeß unmöglich machen könnte. Das ist 
in der badischen Verfassung wie in der von Waldeck 
und im österreichischen Ministerverantwortlichkeits- 
gesetz auch ausgesprochen. Selbstverständlich kann 
eine Kammer jederzeit von der Anklage zurücktreten. 
Ohne Einfluß ist es für die Erhebung der Minister- 
anklage, ob der Minister selbst schon entlassen oder 
ob er nur suspendiert ist. 
D. Urteil und Strafen. Die Folgen 
eines Schuldigspruchs auf die Minister- 
anklage sind in den verschiedenen Staaten ver- 
schieden gesetzlich festgestellt. Da, wo es dieserhalb 
überhaupt an einer näheren Bestimmung fehlt, 
sind zunächst diejenigen strafrechtlichen oder bürger- 
lich-rechtlichen Folgen auszusprechen, welche im 
gemeinen Straf= und bürgerlichen Recht vorgesehen 
sind. Zu den strafrechtlichen Folgen kann 
auch die Unfähigkeit zur Fortbekleidung des Amts 
gehören, entweder von Rechts wegen oder infolge 
besondern Ausspruchs des Gerichtshofs. Tritt 
im einzelnen Fall diese Folge nicht von Rechts 
wegen ein, und erkennt auch der Gerichtshof nicht 
auf sie, so ist es juridisch nicht konstruierbar, die 
Ministerentlassung rechtlich als Folge des Schuldig- 
spruchs hinzustellen; nur aus politischen Gründen 
wird in der Regel der Minister seine Entlassung 
geben oder auch ohne dies vom Monarchen ent- 
lassen werden. Handelt es sich dagegen um solche 
Gesetzesverletzungen, für welche weder im Straf- 
recht noch im bürgerlichen Recht bestimmte Folgen 
vorgesehen sind, so könnte auch von dem Gerichts-
	        
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