151
Gerät der Arbeiter ohne seine Schuld in Not, so
ist, wie oben bemerkt wurde, die Gesellschaft kraft
natürlichen Rechts verpflichtet, ihm den notwen-
digen Lebensunterhalt zu gewähren. Ein „Recht
auf Arbeit“ hat der einzelne allerdings in dem
Sinn, daß der Staat alle diesem Recht entgegen-
stehende Schranken niederzulegen gehalten ist, nicht
jedoch im sozialistischen Sinn, als müßte der
Staat im Notfall für angemessene Arbeitsgelegen-
heit und entsprechenden Lohn sorgen.
III. Die physiokratische Schule. Das Sy-
stem, wie es Quesnay entwickelt hat, wurde nicht
überholt, nur modifiziert und in gewissen Haupt-
punkten von einzelnen Schülern mit größter Ein-
seitigkeit verfochten. Waren bei Quesnay die
Forderungen der freien Konkurrenz und des freien
Handels noch nicht als absolute Vorschriften für
die positive Ordnung aufgetreten und findet sich
bei ihm das Wort laissez faire, laissez passer
nur einmal und nur als Zitat, so vollzieht sich
hierin bald eine wesentliche Anderung: die „natür-
liche Ordnung“ gelangt zur Alleinherrschaft im
System und nur das Absolute wird betont. Dies
trug der Schule häufig mit Recht scharfen Vor-
wurf ein, indem sie als einseitig und verschroben
doktrinär bezeichnet wurde. Im einzelnen sei noch
bemerkt, daß insbesondere Mirabeau das laissez
faire, laissez passer zur Parole machte. Läßt
man die natürlichen Gesetze ungehemmt walten, so
fördert man ebendamit das Wohl der Gesamtheit,
während ein Eingreifen der Regierung nur störend
wirken kann. Eigeninteresse und Gemeininteresse
stehen in letzter Linie in vollkommener Harmonie,
so im ganzen Wirtschaftsleben und so auch ins-
besondere beim Handel. Eine hervorragende
Stellung unter den Physiokraten nimmt Turgot
ein. Als Minister, der mit den Tatsachen des
wirtschaftlichen Lebens zu rechnen hatte, mußte
ihm ein derart einseitiger Doktrinarismus fremd
sein; er hat sich ähnlich, wie Colbert von den
schroffen Einseitigkeiten des Merkantilismus, von
denen seiner Schule freizuhalten gewußt. Es ge-
lang ihm, Handelsfreiheit für Getreide herzu-
stellen; dagegen brachte ihn das Ungestüm, womit
er gegen die Zünfte vorging und an sich notwen-
dige Reformen in die Hand nahm, zu Fall. Durch
seine Ansichten über verschiedene Materien auf
volkswirtschaftlichem Gebiet hat Turgot die Wissen-
schaft gefördert, so durch seine Arbeitsteilungs-,
Geld-, Grundrenten-, Kapital= und Kapitalzins-
lehre, ebenso durch seine Lohntheorie; durch letztere
wurde er der Vorläufer Ricardos, durch die andern
Theorien Vorgänger von Adam Smith. In der
sozialen Gliederung der Gesellschaft und in der
Anschauung von der allein produktiven landwirt-
schaftlichen Tätigkeit folgt er Quesnay. Gournay
tritt für die Befreiung der Industrie von den
staatlichen Schranken ein, hält aber auch jene,
nicht nur den Ackerbau, für produktiv. Ebenso
ist er im Gegensatz zu Quesnay Anhänger der
Handelsbilanzlehre. Dagegen huldigt auch er
Phosiokraten.
152
wiederum der Ansicht, daß im freien Handel stets
das vernünftige Privatinteresse mit dem der Ge-
samtheit harmoniere.
IV. Würdigung. Eine gerechte und billige
Beurteilung des Systems hat davon auszugehen,
daß der Physiokratismus die natürliche und in
gewissem Maß notwendige Reaktion war gegen
die Merkantilpolitik mit ihren für das Wirtschafts-
leben schließlich geradezu verderblichen Wirkungen.
Es wäre darum unbillig, das System vom heutigen
Standpunkt der Wissenschaft aus einseitig einer
allzu scharfen Kritik zu unterziehen. Neben dem be-
reits angedeuteten Verdienst ist ein zweites nicht
minder bedeutendes hervorzuheben, das darin be-
steht, daß Quesnay zum erstenmal den Versuch
eines Gesamtüberblicks des volkswirtschaftlichen
Prozesses unternommen und ein eignes wissen-
schaftliches System aufgebaut und begründet hat;
will man Quesnay nicht als Begründer der Volks-
wirtschaftslehre als Wissenschaft gelten lassen, so
bedeutet doch jedenfalls sein System einen großen
Fortschritt auf dem Weg der Entwicklung der
Disziplin zur selbständigen Wissenschaft. Dazu
hat sicherlich auch beigetragen seine Theorie von
den wirtschaftlichen Gesetzen; Ideen, die später
von Adam Smith, Ricardo, Malthus erfolgreich
verwertet worden sind und auch der deutschen
Wissenschaft Dienste geleistet haben. Freilich geht
es nicht an, diese Gesetze auf gleiche Stufe mit
den Naturgesetzen zu stellen; daß es jedoch im
volkswirtschaftlichen Leben gewisse regelmäßige Er-
cheinungen gibt, die man als wirtschaftliche „Ge-
setze" mit Anbringung der nötigen Kautelen be-
zeichnen und fassen kann, wird allerdings nicht zu
bezweifeln sein; aber auch so ist noch zu scheiden
zwischen „Gesetzen“ des Sollens, d. h. sittlichen
Geboten, und den aus natürlichem Selbstinteresse
hervorgehenden Gesetzen des Geschehens (z. B. das
Gesetz der Gravitation oder Tendenz der Preise
nach gewissen Kosten). Daß nach dem heutigen
Stand der Wissenschaft die Lehre von der allein
produktiven landwirtschaftlichen Tätigkeit sowie
das einseitige laissez faire-Prinzip irrig und ver-
werflich, und daß das Projekt von der einzigen
Steuer verfehlt und undurchführbar ist, braucht
kaum gesagt zu werden. Hätten die Physiokraten
die historische Methode nicht vernachlässigt, ja ver-
worfen, so hätte sie schon ein Blick auf die Ge-
schichte des Altertums — von allen andern Er-
wägungen abgesehen — belehrt, daß jenes Prinzip
die Gesellschaft in unheilvoller Weise zerklüften
und damit die Gefahr der Revolution und schließ-
lich die des Ruins für den Staat heraufbeschwören
muß. Ein von Markgraf Karl Friedrich von Baden
in einigen Gemeinden unternommener Versuch mit
der einzigen Steuer scheiterte kläglich. Von großer
praktischer Bedeutung wurde dagegen das von den
Physiokraten vertretene Freihandelsprinzip, das
später namentlich in England auf dem Gebiet der
Wissenschaft wie der Politik eine große Rolle
spielen sollte.
—