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Betrachtung des Staats weiß für diesen keinen
andern Gesichtspunkt zu gewinnen als für den
einzelnen. Darum ist für Plato der Staat der
Mensch im großen, und der Staat ist dann am
vollkommensten, wenn er möglichst einem einzigen
Individuum gleicht (462 Aff). Den Zweck und
die höchste Lebensaufgabe des Individuums aber
setzt Plato, entsprechend seiner streng intellektuali-
stischen Wertung der menschlichen Natur, in die
wissenschaftliche, philosophische Erkenntnis, mit
deren innerer Aneignung nach seiner Ansicht auch
die höchste Tugend erreicht ist. Gegenüber dieser
Beschäftigung ist ihm die an der gemeinen Wirk-
lichkeit haftende und den idealen Zielen nur zu
oft entfremdende politische Tätigkeit, zumal in
einem demokratischen Staatswesen, wie das Athen
seiner Zeit es war, etwas Minderwertiges. Er
steht hier im schroffsten Gegensatz zu der alt-
griechischen Auffassung, welcher der Staat als
etwas unbedingt und unmittelbar Notwendiges,
von den Göttern durch inspirierte Gesetzgeber Ge-
gründetes erscheint, und die ein Leben außerhalb
des Staats als nicht lebenswert betrachtet. So
entbehrt nicht nur bei Plato der Staat einer be-
sondern, von der des Individuums verschiedenen
Aufgabe, sondern es scheint bei ihm überhaupt an
einem Berechtigungsgrund für die Notwendigkeit
staatlicher Organisation zu fehlen. Jene Bestim-
mung des menschlichen Lebenszwecks mußte, so
möchte man schließen, dahin führen, den Staat
für eine völlig gleichgültige Institution, ja für
ein Produkt bloßer Gewalt zu erklären.
Gleichwohl ist Plato ebensoweit, wie von der
altgriechischen Auffassung, von der Ansicht der-
jenigen Sophisten entfernt, die den Staat als ein
mitdder menschlichen Natur in Widerspruch stehendes
Erzeugnis menschlicher Willkür betrachteten. Wenn
auch nicht an sich, so ist der Staat doch unent-
behrlich als Mittel für die Erziehung der Bürger
zur Tugend. Das Wissen und die darauf be-
gründete Sittlichkeit würde zugrunde gehen, wenn
nicht die staatlich organisierte Gesellschaft für ihren
Fortbestand sorgte und die erziehungsbedürftige
Jugend darein einführte. Wie darum der Zweck
des Einzelmenschen in der auf das Wissen ge-
gründeten Tugend besteht, so ist eine solche Sittlich-
keit der Bürger auch Zweck des Staats als des
Kollektivmenschen. Seine Aufgabe ist die Er-
ziehung der Bürger zur Tugend. Der Platonische
Staat der „Politeia“ ist Erziehungsstaat. Fichte in
seiner letzten Entwicklungsperiode hat diesen Be-
griff erneuert (s. d. Art. Fichte, Bd II, Sp. 174/5).
Natürlich muß ein solches der Erziehung gewidmetes
Gemeinwesen auch verwaltet und nach außen und
innen sicher gestellt werden. Der Platonische
Erziehungsstaat kann der Verwaltung und des
bewaffneten Schutzes nicht entbehren.
Die Sittlichkeit der Gesamtbürgerschaft beruht
vor allem darauf, daß jeder innerhalb des ihm
obliegenden Bereichs das Seine tut (ra ẽaurod
nochrret). Darin aber besteht die Gerechtigkeit.
Plato.
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Daraus erwächst eine andere Wendung für die
Aufgabe des Platonischen Staats, die den Inhalt
des sittlichen Zwecks in die Begriffsbestimmung
aufnimmt. Der Staat hat durch Erziehung, Ver-
waltung und bewaffneten Schutz die Idee der
Gerechtigkeit durchzuführen.
So sehr es Anerkennung verdient, daß Plato
die sittliche Aufgabe des Staats mit hohem Nach-
druck betont, so läßt sich doch nicht verkennen, daß
er den Umfang dieser sittlichen Aufgabe und das
Gebiet, auf welchem sich dieselbe vollzieht, nur
mangelhaft bestimmt hat. Es ist jene oben hervor-
gehobene Parallelisierung von Einzelmensch und
Staat, welche ihn verleitet, das sittliche Ziel des
Staats ohne weiteres dem sittlichen Ziel des
Individuums gleichzustellen und die besondern
ethischen Aufgaben des Staats in der Rechts-
pflege, in der ausgleichenden Gerechtigkeit bezüglich
der Erwerbsverhältnisse der einzelnen Berufs-
zweige, wenn auch nicht ganz zu übersehen, so doch
nirgends in ihrer prinzipiellen Bedeutung zu er-
kennen. Dazu kommt, daß jene ideale Betrachtung
des Staatszwecks gar zu sehr von den materiellen
Aufgaben absieht, die zu erfüllen dem Staat ob-
liegt, und die ja auch nicht außer Zusammenhang
mit seiner ethischen Bestimmung stehen. An einer
Stelle zwar (369 B ff) hebt Plato die ökono-
mischen Bedürfnisse hervor, welche zur Entstehung
der Handwerke, des Ackerbaus und des Handels
und damit eines primitiven Staats führen. Aber
über diesen bloß wirtschaftlich begründeten Natur-
staat — gemeint ist das Staatsideal des Zynikers
Antisthenes — geht er sehr bald als über „einen
Staat von Schweinen“ zur Tagesordnung über;
und wenn damit zunächst auch nur das Stehen-
bleiben bei der bloß wirtschaftlichen Arbeitsteilung,
nicht die staatliche Fürsorge für die Organisation
der Arbeit überhaupt, getroffen werden soll, so
tritt doch schon hier das geringe Gewicht hervor,
das Plato auf die ökonomischen Aufgaben des
Staats legt. Ebensowenig hat er die Keime weiter
ausgebildet, die in seiner Forderung (420 B ff)
liegen, daß der Staat, wenn er das Glück seiner
Bürger erstrebe, dabei nicht den einen Stand vor
dem andern bevorzugen dürfe, sondern auf das
Wohl des Ganzen zu sehen und jedem Stand das
ihm Gebührende zu geben habe.
Sowohl die eigne aus der Idee konstruierende
philosophische Denkweise, wie der völlig flüssige
Zustand der politischen Entwicklung in seiner Zeit
mußten Plato dahin führen, statt der induktiven
Betrachtung des historisch Gegebenen und der
Analyse seiner Entwicklungsgesetze vielmehr eine
prinzipielle Prüfung aller Grundlagen des Staats
und der Gesellschaft zu erstreben. Seiner phan-
tasievollen dichterischen Anlage gemäß war es ihm
dabei natürlich, den Gegensatz zwischen Wirklich-
keit und idealer Forderung durch die Zeichnung
eines Idealstaats anschaulich auszugestalten. Aber
nicht als bloßen Roman oder gar als Satire stellt
er diesen Idealstaat auf, sondern derselbe ist ein