Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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Betrachtung des Staats weiß für diesen keinen 
andern Gesichtspunkt zu gewinnen als für den 
einzelnen. Darum ist für Plato der Staat der 
Mensch im großen, und der Staat ist dann am 
vollkommensten, wenn er möglichst einem einzigen 
Individuum gleicht (462 Aff). Den Zweck und 
die höchste Lebensaufgabe des Individuums aber 
setzt Plato, entsprechend seiner streng intellektuali- 
stischen Wertung der menschlichen Natur, in die 
wissenschaftliche, philosophische Erkenntnis, mit 
deren innerer Aneignung nach seiner Ansicht auch 
die höchste Tugend erreicht ist. Gegenüber dieser 
Beschäftigung ist ihm die an der gemeinen Wirk- 
lichkeit haftende und den idealen Zielen nur zu 
oft entfremdende politische Tätigkeit, zumal in 
einem demokratischen Staatswesen, wie das Athen 
seiner Zeit es war, etwas Minderwertiges. Er 
steht hier im schroffsten Gegensatz zu der alt- 
griechischen Auffassung, welcher der Staat als 
etwas unbedingt und unmittelbar Notwendiges, 
von den Göttern durch inspirierte Gesetzgeber Ge- 
gründetes erscheint, und die ein Leben außerhalb 
des Staats als nicht lebenswert betrachtet. So 
entbehrt nicht nur bei Plato der Staat einer be- 
sondern, von der des Individuums verschiedenen 
Aufgabe, sondern es scheint bei ihm überhaupt an 
einem Berechtigungsgrund für die Notwendigkeit 
staatlicher Organisation zu fehlen. Jene Bestim- 
mung des menschlichen Lebenszwecks mußte, so 
möchte man schließen, dahin führen, den Staat 
für eine völlig gleichgültige Institution, ja für 
ein Produkt bloßer Gewalt zu erklären. 
Gleichwohl ist Plato ebensoweit, wie von der 
altgriechischen Auffassung, von der Ansicht der- 
jenigen Sophisten entfernt, die den Staat als ein 
mitdder menschlichen Natur in Widerspruch stehendes 
Erzeugnis menschlicher Willkür betrachteten. Wenn 
auch nicht an sich, so ist der Staat doch unent- 
behrlich als Mittel für die Erziehung der Bürger 
zur Tugend. Das Wissen und die darauf be- 
gründete Sittlichkeit würde zugrunde gehen, wenn 
nicht die staatlich organisierte Gesellschaft für ihren 
Fortbestand sorgte und die erziehungsbedürftige 
Jugend darein einführte. Wie darum der Zweck 
des Einzelmenschen in der auf das Wissen ge- 
gründeten Tugend besteht, so ist eine solche Sittlich- 
keit der Bürger auch Zweck des Staats als des 
Kollektivmenschen. Seine Aufgabe ist die Er- 
ziehung der Bürger zur Tugend. Der Platonische 
Staat der „Politeia“ ist Erziehungsstaat. Fichte in 
seiner letzten Entwicklungsperiode hat diesen Be- 
griff erneuert (s. d. Art. Fichte, Bd II, Sp. 174/5). 
Natürlich muß ein solches der Erziehung gewidmetes 
Gemeinwesen auch verwaltet und nach außen und 
innen sicher gestellt werden. Der Platonische 
Erziehungsstaat kann der Verwaltung und des 
bewaffneten Schutzes nicht entbehren. 
Die Sittlichkeit der Gesamtbürgerschaft beruht 
vor allem darauf, daß jeder innerhalb des ihm 
obliegenden Bereichs das Seine tut (ra ẽaurod 
nochrret). Darin aber besteht die Gerechtigkeit. 
Plato. 
  
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Daraus erwächst eine andere Wendung für die 
Aufgabe des Platonischen Staats, die den Inhalt 
des sittlichen Zwecks in die Begriffsbestimmung 
aufnimmt. Der Staat hat durch Erziehung, Ver- 
waltung und bewaffneten Schutz die Idee der 
Gerechtigkeit durchzuführen. 
So sehr es Anerkennung verdient, daß Plato 
die sittliche Aufgabe des Staats mit hohem Nach- 
druck betont, so läßt sich doch nicht verkennen, daß 
er den Umfang dieser sittlichen Aufgabe und das 
Gebiet, auf welchem sich dieselbe vollzieht, nur 
mangelhaft bestimmt hat. Es ist jene oben hervor- 
gehobene Parallelisierung von Einzelmensch und 
Staat, welche ihn verleitet, das sittliche Ziel des 
Staats ohne weiteres dem sittlichen Ziel des 
Individuums gleichzustellen und die besondern 
ethischen Aufgaben des Staats in der Rechts- 
pflege, in der ausgleichenden Gerechtigkeit bezüglich 
der Erwerbsverhältnisse der einzelnen Berufs- 
zweige, wenn auch nicht ganz zu übersehen, so doch 
nirgends in ihrer prinzipiellen Bedeutung zu er- 
kennen. Dazu kommt, daß jene ideale Betrachtung 
des Staatszwecks gar zu sehr von den materiellen 
Aufgaben absieht, die zu erfüllen dem Staat ob- 
liegt, und die ja auch nicht außer Zusammenhang 
mit seiner ethischen Bestimmung stehen. An einer 
Stelle zwar (369 B ff) hebt Plato die ökono- 
mischen Bedürfnisse hervor, welche zur Entstehung 
der Handwerke, des Ackerbaus und des Handels 
und damit eines primitiven Staats führen. Aber 
über diesen bloß wirtschaftlich begründeten Natur- 
staat — gemeint ist das Staatsideal des Zynikers 
Antisthenes — geht er sehr bald als über „einen 
Staat von Schweinen“ zur Tagesordnung über; 
und wenn damit zunächst auch nur das Stehen- 
bleiben bei der bloß wirtschaftlichen Arbeitsteilung, 
nicht die staatliche Fürsorge für die Organisation 
der Arbeit überhaupt, getroffen werden soll, so 
tritt doch schon hier das geringe Gewicht hervor, 
das Plato auf die ökonomischen Aufgaben des 
Staats legt. Ebensowenig hat er die Keime weiter 
ausgebildet, die in seiner Forderung (420 B ff) 
liegen, daß der Staat, wenn er das Glück seiner 
Bürger erstrebe, dabei nicht den einen Stand vor 
dem andern bevorzugen dürfe, sondern auf das 
Wohl des Ganzen zu sehen und jedem Stand das 
ihm Gebührende zu geben habe. 
Sowohl die eigne aus der Idee konstruierende 
philosophische Denkweise, wie der völlig flüssige 
Zustand der politischen Entwicklung in seiner Zeit 
mußten Plato dahin führen, statt der induktiven 
Betrachtung des historisch Gegebenen und der 
Analyse seiner Entwicklungsgesetze vielmehr eine 
prinzipielle Prüfung aller Grundlagen des Staats 
und der Gesellschaft zu erstreben. Seiner phan- 
tasievollen dichterischen Anlage gemäß war es ihm 
dabei natürlich, den Gegensatz zwischen Wirklich- 
keit und idealer Forderung durch die Zeichnung 
eines Idealstaats anschaulich auszugestalten. Aber 
nicht als bloßen Roman oder gar als Satire stellt 
er diesen Idealstaat auf, sondern derselbe ist ein
	        
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