Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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Staats hingeben zu können, sind die herrschenden 
Stände loszulösen von den Sonderinteressen, welche 
durch Familie und Eigenbesitz bedingt werden. 
Für die herrschenden Stände hebt darum Plato 
die Familie und das Privateigentum zugunsten 
der Frauen- und Gütergemeinschaft auf. Aller- 
dings ist diese Frauengemeinschaft eine staatlich 
streng geregelte. Ebenso gibt die Gütergemein- 
schaft nicht jedem ein Recht an jedem, sondern nur 
an den allgemeinen öffentlichen Mahlzeiten und an 
den sonstigen Staatslieferungen, deren Kosten der 
dritte Stand zu tragen hat. Sie ist eine Gemein- 
schaft nicht an den Produktions-, sondern an den 
Konsummitteln. Daß Plato hinsichtlich der Frage 
der Sklaverei und hinsichtlich des hellenischen 
Nationalitätsdünkels den rechten Standpunkt so- 
wenig zu finden wußte wie nach ihm Aristoteles, 
sei hier nur kurz erwähnt. 
Auch die bestehenden Staatsverfassungen werden 
in der „Republik“ dargestellt und einer Kritik 
unterzogen. Indem Plato dieselben logisch, nicht 
historisch, aus dem besten Staat dadurch entstehen 
läßt, daß das richtige Verhältnis in den charakte- 
ristischen Eigentümlichkeiten der einzelnen Stände 
gestört wird, gelangt er zu folgender Rangord- 
nung: Idealstaat, Timokratie (Vorherrschaft der 
kriegerischen Tüchtigkeit), Oligarchie (Vorherr- 
schaft der Erwerbsinteressen), Demokratie (Auf- 
hebung der Wertunterschiede), Tyrannis (Egois- 
mus eines einzelnen). Bezeichnend ist es, daß 
für die Begriffsbestimmung des Tyrannen das 
ursprüngliche positiv-rechtliche Moment, der Er- 
werb der Herrschaft auf nicht verfassungsgemäßem 
Weg, nahezu völlig aufgegeben und dafür ein 
ethischer Gesichtspunkt, die dem Gemeinwohl ent- 
gegengesetzte selbstsüchtige Ausübung der Herr- 
schaft, eingesetzt ist. Es ist das von der größten 
Wichtigkeit für die Ausbildung des antiken Thran- 
nenbegriffs (vgl. Zeller, Sitzungsber. d. Berliner 
Mk. d. Wiss. 1887, 2, 1141 ff) und die Form, in 
der derselbe vom Mittelalter übernommen wurde. 
Der Zweck des Staatsmanns (Politikos)) 
ist, wie schon der Titel angibt, zunächst nicht eine 
Untersuchung über den Staat, sondern eine Dar- 
stellung des Begriffs der wahren Staatskunst, der 
vernunftgemäßen Herrschaftsweise. So erklärt sich 
der schon von Aristoteles angegriffene Satz, daß 
zwischen einem großen Hauswesen und einem 
kleinen Staat in Beziehung auf die Herrschaft 
kein Unterschied zu machen sei (259 B). Die staat- 
liche „Befehlskunst“ wird hier (mit Recht) den 
Gewaltverhältnissen eingereiht, in unzutreffender 
Weise aber zwischen ihr und den übrigen Gewalt- 
verhältnissen nur ein quantitativer Unterschied 
gemacht, die Eigenart ihres Objekts dagegen ver- 
nachlässigt. — Wenn in der „Politeia“ der Ideal- 
staat ein Staat der „Philosophen"“, d. h. der im 
selbständigen Besitz des Wissens Befindlichen, 
war, so führt der „Staatsmann“ diesen Gedanken 
vermittels einer scharfen Unterscheidung zwischen 
lebendigem, persönlichem Wissen und unperfön- 
Plato. 
  
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lichem Gesetz in eigentümlicher Weise näher durch. 
Das Gesetz, für dessen Wesensbestimmung schrift- 
liche Fixierung und Allgemeinheit hervorgehoben 
werden, kann wegen seiner Unbiegsamkeit und All- 
gemeinheit nicht die Besonderheit des einzelnen 
Falls berücksichtigen. Dazu ist nur der wahre 
Staatsmann (nohk####éc, auch Baclebc, 276 E) 
fähig, der kraft seines Wissens ohne unveränder- 
liche und darum schematische Gesetze das jedesmal 
Beste festsetzt. Erst an zweiter Stelle steht die- 
jenige Herrschaftsform, in welcher unverbrüchlich 
festgehaltene Gesetze eine äußere Reglung herbei- 
führen. Wo auch das Gesetz nicht herrscht, sondern 
der Eigennutz, da tritt die Entartung ein. 
Aus diesen ethischen Gesichtspunkten, verbunden 
mit der herkömmlichen Dreiteilung der Verfassun- 
gen nach der Zahl der Herrschaftsträger, entwirft 
der „Politikos“ ein System der Staatsformen. 
Die vollkommene Staatsverfassung ist diejenige, 
in welcher ein im Besitz des Wissens befindlicher 
Herrscher die Staatsverwaltung inne hat; alle 
übrigen Staatsverfassungen sind nur Nachahmun- 
gen dieser, und zwar glückliche, wenn die Herr- 
schaft eine gesetzliche und friedliche, unglückliche, 
wenn sie eine gesetzlose und gewaltsame ist. So 
ergibt sich durch eine Kombination der ethischen 
Dichotomie und der staatsrechtlichen Trichotomie 
neben der Idealform des philosophischen Herr- 
schers eine Sechszahl empirischer Staatsformen: 
gesetzliche Monarchie, gesetzlose Tyrannis, Aristo- 
kratie (gesetzliche Herrschaft mehrerer), Oligarchie 
(gesetzlose Herrschaft mehrerer), gesetzliche und ge- 
setzlose Demokratie. Die gesetzliche Monarchie ist 
unter diesen Herrschaftsformen als getreueste Nach- 
ahmung der vollkommenen Staatsverfassung die 
höchststehende; und darum ist auch, nach dem 
Grundsatz, daß die Entartung des Besten am 
schlimmsten ist, die Tyrannis die schlechteste Herr- 
schaftsorm; die Demokratie, welche die Herrschaft 
durch die Verteilung auf viele in kleinste Stücke 
zerlegt, ist unter den gesetzlichen Verfassungen die 
schlechteste, unter den ungesetzlichen die beste; Ari- 
stokratie und Oligarchie stehen in der Mitte. 
Gegenüber dem gerade durch seinen schwung- 
haften Idealismus so anziehenden Staatsentwurf 
der „Politeia“ ist der Staat der „Gesetze'(Nomoi), 
die durch Philipp von Opus nach Platos Tod 
herausgegeben und durch eine „Epinomis“ fort- 
gesetzt wurden, rein philosophisch von geringerem 
Interesse. Der philosophisch-ethische Gesichtspunkt 
tritt zurück; der Schwerpunkt liegt in Erörterungen 
theoretisch-politischen Inhalts. Diese aber sind 
für die Entwicklung der politischen Staatstheorie 
und der Wirtschaftstheorie von nicht geringer 
Bedeutung geworden. Aristoteles, der scharffinnige 
Kritiker der Platonischen „Politeia“, fußt in vielen 
Einzelheiten und in manchen Grundanschauungen 
auf den „Nomoi“, ja einiges, wie die von Aristo- 
teles und Polybius übernommene Forderung einer 
gemäßigten (gemischten) Staatsverfassung, erstreckt 
seinen Einfluß bis auf die Neuzeit.
	        
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