Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

185 
teren Vereine ist im Gegensatz zu dem Straz 
Rheinland und Westfalen, wo von den rund 
160 Vereinen allein etwa 60 bestehen. 
Die preußische Regierung versuchte ihrer Polen- 
politik nicht nur auf wirtschaftlichem Gebiet, son- 
dern auch auf rein idealem Gebiet Geltung zu ver- 
schaffen, insbesondere auf dem Gebiet der Religion 
und Schule. Ihre Bestrebungen hatten hier, da 
die Polen weit überwiegend der katholischen Kon- 
fession angehören, ganz offenbar die Schwächung 
des Einflusses der katholischen Kirche und auf der 
andern Seite die Hebung und Stärkung der evan- 
gelischen Kirche zur Folge. Selbst die Ansiedlungs- 
bewegung und-Gesetzgebung hat diese Folgeerschei- 
nung gezeitigt. Schon bei der ersten Beratung 
des Gesetzes von 1886 hatte am 22. Febr. der 
Abgeordnete Frhr v. Schorlemer-Alst im preu- 
ßischen Abgeordnetenhaus gesagt: „Man hätte 
besser getan, ein Gesetz zu machen mit nur zwei 
Paragraphen. Man hätte einfach hineingeschrieben 
in den Titel des Gesetzes: „Gesetz zur Germani- 
sierung und Protestantisierung in den Provinzen 
Westpreußen und Posen“, und hätte dann in § 1 
gesagt: „Dem Ministerpräsidenten werden behufs 
Germanisierung und Protestantisierung der Pro- 
vinzen Posen und Westpreußen 100 Mill. zur 
freien Verfügung gestellt“" (Stenograph. Berichte 
S. 711). — Am 7. April 1886 führte bei der 
dritten Lesung des Gesetzes der Abgeordnete Windt- 
horst aus: „Ich habe es in der Generaldebatte und 
allen folgenden Verhandlungen sehr klar und be- 
stimmt ausgesprochen, daß ich (in dem hier vor- 
liegenden Gesetz) eine Fortsetzung des Kultur- 
kampfes finde, und daß ich der Meinung sei, dieses 
Gesetz sei wesentlich auch gegen die Katholiken ge- 
richtet! — Darüber haben wir nicht den geringsten 
Zweifel. Diese Gesetze sind und bleiben nicht 
allein gegen die Polen gerichtet, sondern auch 
gegen die Katholiken im allgemeinen. Darüber 
ist gar kein Zweifel .."(Stenograph. Berichte 
S. 1734.) Die tatsächliche Wirkung der Ansied- 
lungspolitik hat diese Ausführungen in der Zu- 
kunft offensichtlich bestätigt: bis 1888 einschließ- 
lich waren 303 Evangelische angesiedelt gegenüber 
34 Katholiken; bis 1890: 631 Evangelische gegen 
59 Katholiken; bis 1891: 795 Evangelische gegen 
88 Katholiken; bis 1892: 1036 Evangelische 
gegen 110 Katholiken; bis 1895: 1653 Evan- 
gelische gegen 131 Katholiken; bis 1900;: 4028 
Evangelische gegen 249 Katholiken; bis 1905: 
9966 Evangelische gegen 423 Katholiken; bis 
1908 einschließlich: 14 557 Evangelische gegen 
586 Katholiken; bis 1909 einschließlich: 15 916 
Evangelische gegen 613 Katholische. Das bedeutet, 
die Familie auf durchschnittlich sechs Köpfe berech- 
net, wie es die amtlichen Denkschriften über den 
Erfolg der Ansiedlung tun, im ganzen 95 000 
Evangelische gegen 3600 Katholiken! — Dem 
entsprechen die Aufwendungen für Kirchen und 
Schulen: bis 1909 einschließlich sind 43 evan- 
gelische Kirchen und 29 evangelische Bethäufer 
Polenfrage. 
  
186 
gegen 2 katholische Kirchen, 47 evangelische Pfar- 
reigehöfte gegen 2 katholische, 385 evangelische 
Schulgehöfte gegen 12 katholische Schulgehöfte 
errichtet worden. — Es läßt sich nicht leugnen, 
daß ein Grund für die geringere Anzahl der katho- 
lischen Ansiedler auch in der größeren Zurückhal- 
tung katholischer Bewerber und Ansiedlung zu 
finden ist; diese Tatsache allein kann aber das 
ganz unverhältnismäßige Überwiegen des evan- 
gelischen Elements nicht erklären. Während im 
Staat Preußen die evangelische Bevölkerung sich 
zur katholischen wie 2: 1 verhält, verhalten sich 
die angesiedelten Evangelischen zu den angesiedelten 
Katholiken der Kopfzahl nach wie 30:11 — Viel- 
fach werden Klagen darüber laut, daß man syste- 
matisch die evangelischen Ansiedler bevorzugt und 
so die ursprünglich fast ausschließlich katholischen 
Provinzen mehr und mehr mit evangelischen Be- 
wohnern bevölkert. Zahlreiche Zeitungsstimmen 
bezeichneten seit je den Kampf gegen das Polen- 
tum als einen Kampf gegen Rom! — Der „Reichs- 
bote“ forderte direkt dazu auf, nur evangelische 
Bauern in geschlossenen Dörfern mit Kirche und 
Schule anzusiedeln. Als die „Kölnische Volks- 
zeitung“ ihre Genugtuung über diese Offenherzig= 
keit aussprach, mit der man die wirklichen Ziele 
der ganzen Germanisierung bekenne, erwiderte der 
„Reichsbote": Das seien doch alles so bekannte 
Dinge, daß man das Erstaunen nur naiv finden 
könne! (Stenograph. Berichte des preußischen Ab- 
geordnetenhauses (1902] S. 4394, 4397.) 
Die Absicht der preußischen Regierung, auch auf 
konfessionellem Gebiet Antipolenpolitik zu treiben, 
erhellt am klarsten aus der unterschiedlichen Be- 
handlung der hier in Betracht kommenden Landes- 
teile auf dem Gebiet der Schule: Das preußische 
Volksschulunterhaltungsgesetz vom 28. Juli 1906, 
das in Ubereinstimmung mit der preußischen Ver- 
fassung in seinem § 33 die konfessionelle Schule 
als die Regel grundsätzlich festlegt, findet nach 
seinem § 70 auf die Provinzen Posen und West- 
preußen überhaupt keine Anwendung. In diesen 
Provinzen ist seit den 1870er Jahren die Simul- 
tanschule die bei weitem überwiegende: Während 
es in Preußen, abgesehen von Westpreußen und 
Posen sowie dem Regierungsbezirk Wiesbaden, nur 
30 Orte gibt, an deren Schulen grundsätzlich 
Lehrkräfte verschiedenen Bekenntnisses angestellt 
werden — wobei allerdings diejenigen Schulen 
nicht mitgerechnet sind, an denen eine Lehrkraft 
andern Bekenntnisses nur wegen des Religions- 
unterrichts der Minderheit angestellt ist —, sind 
in Westpreußen in 26 Städten und 339 Land- 
orten und in der Provinz Posen in 24 Städten 
und 120 Landorten Simultanschulen (vgl. v. Bre- 
men, Schulunterhaltungsgesetz /19061 S. 81).— 
Hand in Hand damit geht die höchst ungleiche 
Verteilung der Lehrer nach der Zahl der evan- 
gelischen und katholischen Schüler: Im Regierungs- 
bezirk Marienwerder kamen 1906 auf 101120 
katholische Schüler 1156 katholische Lehrpersonen, 
 
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.