Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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idee gegenüber den mittelalterlich feudalistischen 
Anschauungen und Zuständen seit dem 16. Jahrh. 
das Bedürfnis nach eingehenderer Kenntnisse der 
tatsächlichen politischen und wirtschaftlichen Ver- 
hältnisse der einzelnen Staaten immer mehr her- 
vortreten lassen. Eine Reihe von literarischen 
Werken aus jener Zeit, welche sich die Darstellung 
der allgemeinen staatlichen, militärischen, kirch- 
lichen, wirtschaftlichen und Rechtszustände der 
Länder zur Aufgabe machten, sind noch erhalten 
und bilden den Ausgangspunkt unserer wissen- 
schaftlichen Statistik. Erwähnt zu werden ver- 
dienen namentlich die Kosmographie Sebastian 
Müllers (1544), die Staatsbeschreibungen des 
Francesco Sansovino (1562) sowie des Giovanni 
Botero (1589) und die Schrift Les états, em- 
Pires et principautes du monde des Pierre 
d'Avity (1614). Eine wissenschaftliche Vertiefung 
erfuhren diese Bestrebungen dadurch, daß seit dem 
17. Jahrh. einige hervorragende Gelehrte jene 
Stoffe in den Kreis ihrer Universitätsvorlesungen 
aufnahmen. Bahnbrechend wirkte in dieser Hin- 
sicht insbesondere Hermann Conring (1606 
bis 1681), Professor an der Universität Helm- 
stedt, welcher dieses Wissensgebiet zu einer beson- 
dern, von Geographie und Geschichte scharf ge- 
trennten neuen Disziplin auszubauen suchte, die 
er Staatskunde (notitia rerum publicarum) 
nannte. Doch dauerte es noch fast ein volles 
Jahrhundert, bis dieser neue Wissenszweig durch 
Gottfried Achenwall (1719/72), Professor 
in Göttingen, ein abschließendes, wissenschaftliches 
Gepräge erhielt. Dieser gilt deshalb als Begrün- 
der der Statistik. In seiner 1747 erschienenen 
Schrift: „Staatsverfassung der heutigen vor- 
nehmsten europäischen Reiche und Völker im 
Grundriß“ bezeichnet er die „Statistik oder 
Staatsbeschreibung“ als „die Lehre von der 
Staatsverfassung eines oder mehrerer einzelnen 
Reiche“, wobei er das Wort „Verfassung“ nicht 
im Sinn des heutigen Staatsrechts nimmt, viel- 
mehr darunter den „Inbegriff der wirklichen 
Staatsmerkwürdigkeiten eines Reiches“ versteht. 
Staatsmerkwürdigkeiten sind für ihn alle in einem 
Staat vorhandenen Einrichtungen, welche dessen 
Wohlfahrt fördern oder hindern. In gleicher 
Weise wie von Achenwall, aber doch mit stetiger 
Erweiterung und Vervollständigung des Stoffs, 
insbesondere unter Verwendung des vorliegenden 
amtlichen Zahlenmaterials wurde die Statistik von 
Heeren, Schlözer u. a. behandelt. A. F. Büsching 
(est. 1793) begnügte sich nicht mehr mit der bloß 
geographischen Staatsbeschreibung der einzelnen 
Länder, sondern ging zur internationalen Betrach- 
tung und Darstellung der verschiedenen konkreten 
Erscheinungen des staatlichen und gesellschaftlichen 
Lebens über, was schon einen wesentlichen Fort- 
schritt gegenüber der Achenwallschen Richtung be- 
deutete. 
Im weiteren Verlauf der Entwicklung trat 
Statistik. 
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ein Umschwung in der Auffassung der Statistik 
hervor, welcher durch das gesteigerte Interesse von 
Wissenschaft und Praxis an der Verwertung des 
Zahlenmaterials der amtlichen Erhebungen her- 
beigeführt wurde. Diese neue Richtung verlegte 
sich ausschließlich auf die Massenbeobachtung von 
Erscheinungen des physischen, sozialen, wirtschaft- 
lichen und staatlichen Lebens und entnahm ihre 
Zahlenangaben hauptsächlich den kirchlichen Tauf-, 
Tranungs= und Sterberegistern. Ihre Unter- 
suchungen und Darstellungen galten namentlich 
den Problemen der Bevölkerungslehre. Während 
die Engländer John Graunt, William Petty 
sowie der Astronom Edmund Halley diese syste- 
matischen Massenbeobachtungen zu einseitigen prak- 
tischen Zwecken verwerteten, gestaltete der deutsche 
Theologe Johann Peter Süßmilch (1707 
bis 1767) diese Richtung zur wissenschaftlichen 
Bevölkerungsstatistik aus. Er wird deshalb 
als Begründer der modernen statistischen Methode 
bezeichnet. Im Jahr 1741 veröffentlichte er eine 
Schrift: „Betrachtung über die göttliche Ordnung 
in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts 
aus der Geburt, dem Tod und der Fortpflanzung 
desselben erwiesen“, in welcher er die bisherigen 
Einzeluntersuchungen der Ausländer zu einer syste- 
matischen Darstellung des Bevölkerungswechsels 
verarbeitete, die Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen 
im Zusammenhang näher nachwies und zum ersten- 
mal ihre allgemeine Bedeutung für das Staats- 
und Gesellschaftsleben hervorhob. Die von Süß- 
milch begründete wissenschaftliche Bevölkerungs- 
statistik erhielt weitere Anregung einerseits durch 
die bahnbrechenden Untersuchungen des Englän- 
ders Robert Malthus über die Grundsätze 
der Bevölkerungsvermehrung (1798) und ander- 
seits durch eine Reihe von Mathematikern, welche 
durch Bearbeitung des Zahlenmaterials und Ver- 
besserung der Rechnungsmethoden die neue Wissen- 
schaft förderten. 
In der ersten Hälfte des 19. Jahrh. waren 
es dann namentlich die Arbeiten des Belgiers 
L. A. J. Quételet (1796/1874), welche der 
jungen Disziplin eine bemerkenswerte Erweiterung 
brachten. In seinen Hauptwerken: Sur Thomme 
(1835) und Systeème social (1848) sucht er den 
Nachweis zu erbringen, daß auf dem ethischen und 
sozialen Gebiet nahezu dieselbe Regelmäßigkeit und 
Gleichförmigkeit herrsche wie auf dem physikalischen 
und chemischen Gebiet. Quctelet erblickt in diesen 
gleichen Durchschnittszahlen der Moralstatistik 
einen Beweis für das Vorhandensein von unab- 
änderlichen Gesetzen, welche das Leben und die 
Handlungsweise des Menschen bestimmen. Die 
Quteletschen Ausführungen blieben jedoch nicht 
ohne Widerspruch; es waren insbesondere ver- 
schiedene deutsche Gelehrte, wie Drobisch, v. Ot- 
tingen, Fr. A. Lange, G. Schmoller, G. F. 
Knapp und G. Rümelin, welche seine Lehren bis 
in die neuere Zeit in ihren Werken entschieden 
  
dann gegen Ende des 18. Jahrh. immer mehr bekämpften.
	        
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