Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Auftrag an die Staatsgewalt, das Böse zu be- 
strafen, zu finden geglaubt, weil das Böse der 
Gottheit mißfällig sei und gesühnt und gebüßt 
werden müsse. Und auch Neuere, z. B. Stahl, 
stehen auf diesem Standpunkt. Von anderer Seite 
ist man dem mit dem Hinweis entgegengetreten, 
daß ein solcher Auftrag nicht nachgewiesen sei und 
nicht nachgewiesen werden könne, daß es auch, 
wolle man jener Ansicht beitreten, die weltliche 
Gerechtigkeit an die Stelle der göttlichen setzen 
hieße; es könne sich aber im staatlichen Strafrecht 
nur um jene handeln. Aus der Notwendigkeit 
dieser Gerechtigkeit heraus begründete sodann Gro- 
tius das Strafrecht des Staats. Er meint, das 
Subjekt des Rechts, zu strafen, sei nach der Natur 
allein nicht bestimmt. Es sei nicht schlechthin un- 
zulässig, daß der Verletzte selbst oder auch jeder 
beliebige Dritte strafe. Aber die Eigenschaften, 
welche nötig seien, um die Gerechtigkeit der Strafe 
zu verbürgen (Kenntnisse, Überlegung, Übung, 
Freiheit von Affekt), fänden sich nicht oder doch 
nur zufällig bei dem einzelnen, der überdies immer 
einer höheren Gewalt unterworfen sei. Daher die 
Übertragung der Strafgewalt auf diese höhere Ge- 
walt des Staats und dessen Gerichte. Die christ- 
liche Philosophie führt zwar auch das staatliche 
Strafrecht auf Gottes Willen zurück, aber nicht 
in jenem Sinn, als beruhe es auf einem ausdrück- 
lichen Befehl, sondern in dem, daß der Zusammen- 
schluß der Menschen zum Staat und die Unter- 
ordnung der ersteren unter des letzteren Gewalt 
göttlichem Willen entspreche, und daß es dem Staat 
deswegen zustehe, innerhalb des ihm überhaupt 
zukommenden Machtbereichs eine Rechtsordnung, 
d. h. eine öffentliche gesetzliche Ordnung zum freien 
gesicherten Beisammenleben der Menschen unter 
der Herrschaft und dem Schutz des Rechts auf- 
zustellen und die Verletzung derselben mit Strafen 
zu ahnden. Und auch solche, welche nicht mit 
dieser christlichen Philosophie auf jenen letzten 
Grund zurückgehen, welche vielmehr, wie mit jeder 
Gestaltung menschlichen Gemeinlebens, so auch mit 
dem Staat eine Rechtsordnung untrennbar be- 
grifflich verbunden betrachten, kommen zu dem- 
selben Ergebnis, das nunmehr höchstens noch von 
„einigen anarchistischen Theoretikern angefochten 
wird“. 
2. Das staatliche Strafrecht im subjektiven 
Sinn stellt sich somit als die auf der staatlichen 
Rechtsordnung beruhende Berechtigung des Staats 
dar, etwaige Verletzungen dieser Rechtsordnung 
selbst — Verbrechen im weitesten Sinn des 
Worts — mit Strafen zu belegen. Als eine aus 
der staatlichen Rechtsordnung abgeleitete Befugnis 
kann das Strafrecht selbstverständlich nicht weiter 
reichen, als diese Rechtsordnung selbst reicht. Es 
wird in seinem Umfang von der Notwendigkeit 
der Aufrechterhaltung und des Schutzes dieser 
Rechtsordnung bedingt und es wird weiterhin, 
da es sich nur innerhalb dieser allgemeinen Rechts- 
ordnung betätigen kann, selbst ein Teil dieser letz- 
Strafe usw. 
  
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teren und so ein Teil des öffentlichen Rechts und 
bedarf als solcher selbst wieder, um „Recht“ zu 
sein, der rechtlichen Ordnung. Das führt zu dem 
Begriff des staatlichen Strafrechts im objektiven. 
Sinn (ius poenale ober criminale) als dem In- 
begriff der Normen, nach denen sich die Ausübung 
des Strafrechts im subjektiven Sinn regelt. Dieses 
teilt sich dann wieder in das materielle Strafrecht 
(oder Strafrecht schlechthin, s. d. Art.), das die mit 
Strafandrohungen verbundenen Verbote und Ge- 
bote enthält oder auch die für strafbar erklärten 
Verletzungen der staatlichen Rechtsordnung nach 
ihren Tatbeständen näher bezeichnet und daran die 
Androhung der für geeignet erachteten Strafen 
anknüpft, und in das formelle Strafrecht (s. d. 
Art. Strafprozeß), das die Organe, die dieses 
Strafrecht handhaben, und die Normen, an welche 
diese Organe dabei gebunden sein sollen, feststellt. 
Prinzipiell betrachtet ist jede Handlung, welche 
die Rechtsordnung verletzt, strafwürdig. Aber 
schon oberflächliche Beobachtungen und Erwägun- 
gen müssen ergeben, daß nicht allen Verletzungen 
die gleiche Bedeutung zukommt und die Geschichte 
des staatlichen Strafrechts bestätigt, daß die 
Staatsgewalt lange Zeitperioden hindurch Hand- 
lungen, die wir heute als Verletzungen der staat- 
lichen Rechtsordnung empfinden, nicht als solche 
betrachtet und behandelt, also nicht für strafbar er- 
klärt hat, daß sie aber auch, je mehr sie die all- 
gemeine Rechtsordnung überhaupt und das Straf- 
recht im besondern durchbildete, um so mehr Hand- 
lungen als rechtsverletzend aufgefaßt hat, und daß 
sie in Ansehung der Bedeutung der einzelnen Ver- 
brechen in dieser Richtung durch Art und Maß der 
dafür angedrohten Strafen erkennbar gemachte 
Unterscheidungen hat eintreten lassen. Das muß 
zunächst die Frage nahelegen, welche Handlungen 
denn der Staat unter Berücksichtigung unserer heu- 
tigen Zustände als Verbrechen in jenem allgemein- 
sten Sinn auffassen und mit Strafe bedrohen soll 
und darf. Das positive Strafrecht gibt nur in- 
direkt Antwort auf diese Frage, insoweit nämlich 
aus seinem Bestand, wie er sich zurzeit darstellt, der 
Schluß gezogen werden muß, der Gesetzgeber habe 
erschöpfend darüber befinden wollen. Im übrigen 
ist die Beantwortung dieser Frage Gegenstand der 
Kriminalpolitik, jenes Teils der Strafrechts- 
wissenschaft, den man nach einer zutreffenden De- 
finition als „den Inbegriff der Rücksichten“ — 
besser wäre allerdings „Grundsätze“ — bezeichnen 
kann, „nach welchen vermöge der besondern Ver- 
hältnisse und Voraussetzungen, die in einem Staat 
die Notwendigkeit und Wirksamkeit der Gesetze 
bedingen, am zweckmäßigsten Strafgesetze erlassen 
werden sollen". Über diese Frage wird noch weiter 
in dem Art. „Strafrecht“ zu handeln sein. So- 
dann aber drängt sich die Frage auf, welche Strafe 
nach Art und Maß, nach Qualität und Quanti- 
tät, soll und darf das materielle Strafrecht für die 
einzelnen Verbrechen androhen, aus welchem Grund 
rechtfertigt sich überhaupt der Gebrauch der Strafe,
	        
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