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Auftrag an die Staatsgewalt, das Böse zu be-
strafen, zu finden geglaubt, weil das Böse der
Gottheit mißfällig sei und gesühnt und gebüßt
werden müsse. Und auch Neuere, z. B. Stahl,
stehen auf diesem Standpunkt. Von anderer Seite
ist man dem mit dem Hinweis entgegengetreten,
daß ein solcher Auftrag nicht nachgewiesen sei und
nicht nachgewiesen werden könne, daß es auch,
wolle man jener Ansicht beitreten, die weltliche
Gerechtigkeit an die Stelle der göttlichen setzen
hieße; es könne sich aber im staatlichen Strafrecht
nur um jene handeln. Aus der Notwendigkeit
dieser Gerechtigkeit heraus begründete sodann Gro-
tius das Strafrecht des Staats. Er meint, das
Subjekt des Rechts, zu strafen, sei nach der Natur
allein nicht bestimmt. Es sei nicht schlechthin un-
zulässig, daß der Verletzte selbst oder auch jeder
beliebige Dritte strafe. Aber die Eigenschaften,
welche nötig seien, um die Gerechtigkeit der Strafe
zu verbürgen (Kenntnisse, Überlegung, Übung,
Freiheit von Affekt), fänden sich nicht oder doch
nur zufällig bei dem einzelnen, der überdies immer
einer höheren Gewalt unterworfen sei. Daher die
Übertragung der Strafgewalt auf diese höhere Ge-
walt des Staats und dessen Gerichte. Die christ-
liche Philosophie führt zwar auch das staatliche
Strafrecht auf Gottes Willen zurück, aber nicht
in jenem Sinn, als beruhe es auf einem ausdrück-
lichen Befehl, sondern in dem, daß der Zusammen-
schluß der Menschen zum Staat und die Unter-
ordnung der ersteren unter des letzteren Gewalt
göttlichem Willen entspreche, und daß es dem Staat
deswegen zustehe, innerhalb des ihm überhaupt
zukommenden Machtbereichs eine Rechtsordnung,
d. h. eine öffentliche gesetzliche Ordnung zum freien
gesicherten Beisammenleben der Menschen unter
der Herrschaft und dem Schutz des Rechts auf-
zustellen und die Verletzung derselben mit Strafen
zu ahnden. Und auch solche, welche nicht mit
dieser christlichen Philosophie auf jenen letzten
Grund zurückgehen, welche vielmehr, wie mit jeder
Gestaltung menschlichen Gemeinlebens, so auch mit
dem Staat eine Rechtsordnung untrennbar be-
grifflich verbunden betrachten, kommen zu dem-
selben Ergebnis, das nunmehr höchstens noch von
„einigen anarchistischen Theoretikern angefochten
wird“.
2. Das staatliche Strafrecht im subjektiven
Sinn stellt sich somit als die auf der staatlichen
Rechtsordnung beruhende Berechtigung des Staats
dar, etwaige Verletzungen dieser Rechtsordnung
selbst — Verbrechen im weitesten Sinn des
Worts — mit Strafen zu belegen. Als eine aus
der staatlichen Rechtsordnung abgeleitete Befugnis
kann das Strafrecht selbstverständlich nicht weiter
reichen, als diese Rechtsordnung selbst reicht. Es
wird in seinem Umfang von der Notwendigkeit
der Aufrechterhaltung und des Schutzes dieser
Rechtsordnung bedingt und es wird weiterhin,
da es sich nur innerhalb dieser allgemeinen Rechts-
ordnung betätigen kann, selbst ein Teil dieser letz-
Strafe usw.
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teren und so ein Teil des öffentlichen Rechts und
bedarf als solcher selbst wieder, um „Recht“ zu
sein, der rechtlichen Ordnung. Das führt zu dem
Begriff des staatlichen Strafrechts im objektiven.
Sinn (ius poenale ober criminale) als dem In-
begriff der Normen, nach denen sich die Ausübung
des Strafrechts im subjektiven Sinn regelt. Dieses
teilt sich dann wieder in das materielle Strafrecht
(oder Strafrecht schlechthin, s. d. Art.), das die mit
Strafandrohungen verbundenen Verbote und Ge-
bote enthält oder auch die für strafbar erklärten
Verletzungen der staatlichen Rechtsordnung nach
ihren Tatbeständen näher bezeichnet und daran die
Androhung der für geeignet erachteten Strafen
anknüpft, und in das formelle Strafrecht (s. d.
Art. Strafprozeß), das die Organe, die dieses
Strafrecht handhaben, und die Normen, an welche
diese Organe dabei gebunden sein sollen, feststellt.
Prinzipiell betrachtet ist jede Handlung, welche
die Rechtsordnung verletzt, strafwürdig. Aber
schon oberflächliche Beobachtungen und Erwägun-
gen müssen ergeben, daß nicht allen Verletzungen
die gleiche Bedeutung zukommt und die Geschichte
des staatlichen Strafrechts bestätigt, daß die
Staatsgewalt lange Zeitperioden hindurch Hand-
lungen, die wir heute als Verletzungen der staat-
lichen Rechtsordnung empfinden, nicht als solche
betrachtet und behandelt, also nicht für strafbar er-
klärt hat, daß sie aber auch, je mehr sie die all-
gemeine Rechtsordnung überhaupt und das Straf-
recht im besondern durchbildete, um so mehr Hand-
lungen als rechtsverletzend aufgefaßt hat, und daß
sie in Ansehung der Bedeutung der einzelnen Ver-
brechen in dieser Richtung durch Art und Maß der
dafür angedrohten Strafen erkennbar gemachte
Unterscheidungen hat eintreten lassen. Das muß
zunächst die Frage nahelegen, welche Handlungen
denn der Staat unter Berücksichtigung unserer heu-
tigen Zustände als Verbrechen in jenem allgemein-
sten Sinn auffassen und mit Strafe bedrohen soll
und darf. Das positive Strafrecht gibt nur in-
direkt Antwort auf diese Frage, insoweit nämlich
aus seinem Bestand, wie er sich zurzeit darstellt, der
Schluß gezogen werden muß, der Gesetzgeber habe
erschöpfend darüber befinden wollen. Im übrigen
ist die Beantwortung dieser Frage Gegenstand der
Kriminalpolitik, jenes Teils der Strafrechts-
wissenschaft, den man nach einer zutreffenden De-
finition als „den Inbegriff der Rücksichten“ —
besser wäre allerdings „Grundsätze“ — bezeichnen
kann, „nach welchen vermöge der besondern Ver-
hältnisse und Voraussetzungen, die in einem Staat
die Notwendigkeit und Wirksamkeit der Gesetze
bedingen, am zweckmäßigsten Strafgesetze erlassen
werden sollen". Über diese Frage wird noch weiter
in dem Art. „Strafrecht“ zu handeln sein. So-
dann aber drängt sich die Frage auf, welche Strafe
nach Art und Maß, nach Qualität und Quanti-
tät, soll und darf das materielle Strafrecht für die
einzelnen Verbrechen androhen, aus welchem Grund
rechtfertigt sich überhaupt der Gebrauch der Strafe,