Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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lärer Strafprozeß. III. Der Reichsstrafprozeß. 
A. Entstehung und Geltungsgebiet der deutschen 
Strafprozeßordnung (Str. P.O.). B. Die Prozeß- 
subjekte: 1. Die Strafgerichte (Zuständigkeit, Aus- 
schließung und Ablehnung des Richters usw.). 
2. Die strafverfolgenden Behörden und Personen 
(Staatsanwaltschaft, Verwaltungsbehörden, Pri- 
vatkläger, Nebenkläger) und der Beschuldigte. 
C. Die Grundmaximen des Verfahrens: 1. An- 
klage= und Inquisitionsprinzip. 2. Offentlichkeit, 
Mündlichkeit, Unmittelbarkeit. 3. Beweis. D. Das 
Verfahren in erster Instanz: 1. Vorverfahren, ge- 
richtliche Voruntersuchung. 2. Das Hauptverfahren. 
3. Besondere Arten des Verfahrens. E. Rechtsmittel 
(Beschwerde, Berufung, Revision) und Wiederauf- 
nahme des Verfahrens. F. Strafvollstreckung und 
Kosten. IV. Reformbestrebungen.)] 
I. Begriff und Wesen des Strafprozesses. 
1. Ein „Strafverfahren“ ist ein gesetzlich geord- 
netes Verfahren in einer „Strafsache“, d. h. in 
einer Rechtssache, in welcher es sich um die An- 
wendung einer Strafe im Sinn des materiellen 
Strafrechts (ogl. d. Art.) handelt. Der Begriff 
des Strafverfahrens umfaßt jedes Strafverfahren, 
einerlei ob es von Verwaltungsbehörden oder von 
den Gerichten gehandhabt wird; mit „Straf- 
prozeß" wird nur das vor den Gerichten statt- 
findende Strafverfahren bezeichnet. — Zu den 
Gerichten gehören die „ordentlichen“ und die „be- 
sondern“ Gerichte. Auch diesen Sondergerichten 
gebührt Strafgerichtsbarkeit, insoweit sie dafür 
reichsgesetzlich „bestellt“ oder „zugelassen“ und im 
letzteren Fall landgesetzlich bestellt sind. Zur 
ersteren Klasse der Sondergerichte gehören die 
Militär= und die Konsulargerichte und die Ge- 
richte in den deutschen Schutzgebieten; zu der letz- 
teren die Rheinschiffahrts= und Elbzollgerichte, die 
Austrägalgerichte für das Verfahren gegen die 
Mitglieder der landesherrlichen und ihnen gleich- 
gestellten Familien und gegen Standesherren so- 
wie Gerichte für Verfahren gegen Minister wegen 
Verfassungsverletzung (Staatsgerichtshöfe); auch 
die Gewerbegerichte können für Strafsachen bestellt 
werden (das Gesetz betr. die Gewerbegerichte vom 
29. Juli 1890 ist insoweit ohne Bedeutung). 
Endlich dürfen die Kriegsgerichte und Stand- 
gerichte hierher gerechnet werden. Das Ver- 
fahren vor diesen Sondergerichten bietet manche 
Eigentümlichkeiten; ihretwegen ist auf die Spezial- 
artikel zu verweisen. 
Im folgenden ist unter Strafprozeß, 
auch als „formelles Strafrecht“ bezeichnet, ledig- 
lich das vor den „ordentlichen“ Gerichten statt- 
findende Verfahren bei Anwendung des materiellen 
Strafrechts auf den einzelnen (konkreten) Fall zu 
verstehen. Darüber, welche Verfahrenshand- 
lungen im einzelnen zum Begriff des Straf- 
prozesses (mithin in den Kreis dieser Erörterung) 
gehören, herrscht in der Rechtswissenschaft Mei- 
nungsverschiedenheit, die ihren Grund in der Ver- 
schiedenheit der Ansichten über den Begriff des 
Prozesses überhaupt hat. Nach der einen Ansicht 
Strafprozeß. 
  
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bezweckt der Prozeß nur Rechtsprechung, nicht 
Rechtsdurchsetzung; nach der andern dagegen ist 
der Prozeß Zwangsordnung, eine Rechtsschutz- 
ordnung mit dem Zweck, das Recht zu bewähren, 
der erst mit der Vollstreckung, soweit sie nötig, als 
erreicht gelten könne. Demgemäß rechnet die 
erstere Ansicht unter den Begriff des Strafprozesses 
nur den engen, die Rechtsprechung, die Entschei- 
dung über die Anwendung des Strafgesetzes um- 
fassenden Kreis von Handlungen und scheidet, im 
Gegensatz zur zweiten, alle diesem Verfahren vor- 
aufgehenden, dasselbe vorbereitenden sowie die 
ihm nachfolgenden Handlungen, namentlich die 
vollstreckenden, aus. Die deutsche Strafprozeß- 
ordnung, welche nach § 3 des Einf.Ges. dazu 
auf alle Strasfsachen Anwendung findet, die 
vor die ordentlichen Gerichte gehören, mithin den 
gesetzlich festgestellten Rahmen für das Verfahren 
bildet, hat auch das vorbereitende (Ermittlungs--) 
Verfahren und die Strafvollstreckung geregelt. 
Im Anschluß an sie ist für die unten folgende 
Darstellung des geltenden Rechts der umfassendere 
Begriff festgehalten. 
2. Seinem Wesen nach ist der Strafprozeß die 
Form für die rechtliche Geltendmachung des staat- 
lichen Strafrechts im subjektiven Sinn, der staat- 
lichen Strafgewalt, also des staatlichen Herrschafts- 
rechts. Im Strafrecht (ogl. d. Art.) sollen die 
staatlichen und gesellschaftlichen Interessen geschützt 
und mittels des Strafprozesses die im Einzelfall 
gestörte öffentliche Rechtsordnung wiederhergestellt 
werden. Im Gegensatz zum Zivilprozeß, in wel- 
chem dem Individuum zum Schutz seiner Rechte 
die staatliche Macht zur Verfügung gestellt wird, 
dient mithin der Strafprozeß dem eignen Inter- 
esse des Staats und der Gesellschaft, unbeschadet 
des Umstands, daß damit gleichzeitig ein Schutz 
individueller Interessen eintritt. Es gehört dem- 
nach der Strafprozeß in organischem Zusammen- 
hang mit dem materiellen Strafrecht dem öffent- 
lichen Recht an, und daraus ergibt sich, daß auf 
die Ausgestaltung des Strafprozesses staatsrecht- 
liche Gesichtspunkte von ausschlaggebender Be- 
deutung sein müssen. Die Handhabung der Straf- 
gewalt, sagt Laband (Staatsrecht des Deutschen 
Reichs III 354 f). solle sich nicht nach Art der Rache 
unmittelbar an die verbrecherische Tat anschließen, 
solle vielmehr um den Staat selbst vor Miß- 
brauch seiner Staatsgewalt zu schützen und ihm 
eine Garantie zu gewähren, daß die Gewalt nach 
den Geboten der Gerechtigkeit gehandhabt werde, 
in Form eines gerichtlichen Urteils Schuld und 
Strafe nach objektiven Rechtsnormen und den 
Umständen des Falls feststellen. Der Strafprozeß 
sei gleichsam der Weg, den die Strafgewalt in 
jedem einzelnen Anwendungsfall zu durchlaufen 
habe. „Während die Verurteilung im Zivil- 
prozeß die Gewährung eines Antrags auf 
Entfaltung der Staatsgewalt ist, bedeutet die 
Verurteilung im Strasprozeß die Erfüllung 
einer Bedingung (Voraussetzung), an welche
	        
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