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der Staat selbst die Ausübung seiner eignen Ge-
walt gebunden hat.“
Anderseits liegt es ebensosehr im Interesse der
Gesamtheit, daß kein diese Interessen durch eine
strafbare Handlung Verletzender der gebührenden
Strafe entgehe, wie es die öffentliche Rechtsord-
nung verletzen hieße, wenn über einen Unschuldigen
Strafe verhängt würde. Beide Interessen müssen
daher für die Ausgestaltung des Strafprozesses
von maßgebendem Einfluß sein, jener für die
Rechte der Strafverfolgung, dieser für die Befug-
nisse der Verteidigung. Aus beiden zusammen er-
wächst der die Eigenart des Strafprozesses, dessen
innerstes Wesen bildende und ihn beherrschende
Grundsatz, daß die materielle Wahrheit
zu erforschen und festzustellen sei.
II. Geschichtliches. Römischer, germanischer,
kanonischer, gemeiner und partikulärer Straf-
prozeß. 1. Wenn, wie aus dem Vorgesagten her-
vorgeht, die Elemente, welche die Gestaltung des
Strafprozesses bedingen, vorwiegend staatsrecht-
licher Natur sind, so kann es nicht als auffallende
Erscheinung bezeichnet werden, daß die konkrete
Gestaltung, welche der Strafprozeß in den ein-
zelnen Staaten und zu verschiedenen Zeiten er-
halten hat, so außerordentlich große Verschieden-
heiten aufweist wie kaum ein anderes Rechtsgebiet.
Namentlich mußte ja die Verschiedenheit des Ver-
hältnisses, in welchem Staat und Staatsangehörige
in den einzelnen Staaten stehen, auch auf die Aus-
bildung des Strafprozesses einwirken und dort in
die Erscheinung treten; und jeder Wechsel dieses
Verhältnisses innerhalb desselben Staatswesens
muß auch in dem Wechsel der Gestalt des Straf-
prozesses mehr oder minder seinen Ausdruck finden.
Das alles gilt allerdings erst von dem Zeitpunkt
ab, wo sich in den Staaten ein eigentümlich ge-
arteter Strafprozeß herauszubilden beginnt.
Das läßt sich auch bei der Entwicklung des
deutschen Strafprozesses beobachten. Für die letz-
tere kommt aber dazu noch die eigenartige Ent-
wicklung in Betracht, welche das deutsche Rechts-
leben überhaupt infolge der Rezeption des frem-
den (römischen und kanonischen) Rechts durch-
gemacht hat.
2. Die Entwicklung des römischen Straf-
prozesses weist durchaus die angedeuteten Momente
auf: zunächst Unterdrückung nur von Handlungen,
die zweifellos gegen die Gesamtheit sich richteten,
durch ein sormloses Vorgehen der obersten Staats-
gewalt, dagegen Verfolgung der Verletzung von
Privatrechten, die nach heutiger Auffassung eine
öffentlich-rechtliche Bestrafungnotwendig erscheinen
läßt, nur im Weg des Zivilprozesses; in den
ersten Zeilen der Republik sodann für jene Ver-
brechen Anklage vor den Komitien durch die Magi-
strate, in späterer Zeit Anklage vor den an Stelle
der Komitien getretenen ständigen Geschworenen-
Kommissionen (quaestiones porpetuae), deren
Mitglieder, 82/75 an der Zahl, jährlich aus-
gewählt und öffentlich bekannt gemacht wurden.
Strafprozeß.
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Das Verfahren vor diesen Quästionen war ein
reiner Anklageprozeß; wo kein Kläger, kein Rich-
ter. Die amtliche Anklage trat allmählich vor der
Popularklage zurück, d. h. es war jeder unbeschol-
tene Bürger zur Erhebung einer Anklage be-
rechtigt; daneben aber gab es gewisse Magi-
strate, welche zu der Bekämpfung alles Staats-
gefährlichen, mithin auch zur Anklage verpflichtet
waren, soweit es sich um staatsgefährliche Unter-
nehmungen handelte. Wer eine Anklage erheben
wollte, mußte ein Zulassungsgesuch bei dem Vor-
stand der quaestio anbringen unter Bezeichnung
des Beschuldigten und der Beschuldigung. War
dieses Gesuch angenommen, so wurde der Beschul-
digte vorgeladen und befragt. Gestand er, so
hatte das Geständnis dieselbe Wirkung wie ein
Geständnis im Zivilprozeß. Leugnete er, so wurde
mit dem Ankläger ein Protokoll ausgenommen,
in welchem die Tat und das Strafgesetz genau be-
zeichnet wurde, und welches die unverrückbare
Grundlage für das Hauptverfahren bildete, das
nun in einem besonders anzusetzenden Termin
stattfand. In diesem letzteren fand zunächst die
Auslosung und Vereidigung der nicht abgelehnten
Richter statt (es gab ein durch die Verpflichtung
zur Angabe von Gründen nicht beschränktes Ab-
lehnungsrecht). Hierauf hielt der Ankläger, dann
der Beschuldigte bzw. sein Verteidiger seine Rede,
und erst dann folgte die Beweisaufnahme, für
welche der Ankläger alles ihm dienlich Erscheinende
selbst herbeizuschaffen hatte. Dem Ankläger, nicht
dem Beschuldigten, stand die Befugnis zu, Zeugen
zum Erscheinen zu zwingen. Die Zeugen wurden
beeidigt und zuerst von dem Ankläger, dann von
dem Beschuldigten vernommen. Sklaven als
Zeugen konnten gefoltert werden. Ein Geständnis
konnte, außer bei Sklaven, nicht erzwungen wer-
den. Erst in der Kaiserzeit wurde die Tortur
(quaestio) auch gegen Freie zulässig. Nach der
Beweisaufnahme erfolgte geheime Abstimmung
mittels Wachstäfelchen mit den Buchstaben A
(absolvo — ich spreche frei) oder C (condemno
ich verurteile) oder NI (non liquet = es ist
zweifelhaft, nicht aufgeklärt). Ergab sich für Frei-
sprechung oder Verurteilung keine absolute Majori=
tät, so mußte das Hauptverfahren so lange wieder-
holt werden, bis sich eine solche für die eine oder
andere ergab. Bei Stimmengleichheit trat Frei-
sprechung ein. Das Verfahren war öffentlich und
sand auf dem Forum slatt. Eine einmal erhobene
Klage konnte der Ankläger ohne Genehmigung
des Gerichts nicht mehr fallen lassen; tat er es
dennoch, so hatte er die auf Tergiversation oder
Prävarikation gesetzte Strafe zu gewärtigen. Mut-
williger Erhebung von Anklagen wurde dadurch
gesteuert, daß der Ankläger bei Beginn des Pro-
zesses den Kalumnieneid leisten mußte. Der An-
geklagte, wenn er ein Bürger war, konnte durch
freiwilliges Exil jedem Prozeß jederzeit ein Ende
machen (vgl. d. Art. Strafrecht unter II.). — Erst
mit der Kaiserzeit wird allmählich der strafrecht-