Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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der Staat selbst die Ausübung seiner eignen Ge- 
walt gebunden hat.“ 
Anderseits liegt es ebensosehr im Interesse der 
Gesamtheit, daß kein diese Interessen durch eine 
strafbare Handlung Verletzender der gebührenden 
Strafe entgehe, wie es die öffentliche Rechtsord- 
nung verletzen hieße, wenn über einen Unschuldigen 
Strafe verhängt würde. Beide Interessen müssen 
daher für die Ausgestaltung des Strafprozesses 
von maßgebendem Einfluß sein, jener für die 
Rechte der Strafverfolgung, dieser für die Befug- 
nisse der Verteidigung. Aus beiden zusammen er- 
wächst der die Eigenart des Strafprozesses, dessen 
innerstes Wesen bildende und ihn beherrschende 
Grundsatz, daß die materielle Wahrheit 
zu erforschen und festzustellen sei. 
II. Geschichtliches. Römischer, germanischer, 
kanonischer, gemeiner und partikulärer Straf- 
prozeß. 1. Wenn, wie aus dem Vorgesagten her- 
vorgeht, die Elemente, welche die Gestaltung des 
Strafprozesses bedingen, vorwiegend staatsrecht- 
licher Natur sind, so kann es nicht als auffallende 
Erscheinung bezeichnet werden, daß die konkrete 
Gestaltung, welche der Strafprozeß in den ein- 
zelnen Staaten und zu verschiedenen Zeiten er- 
halten hat, so außerordentlich große Verschieden- 
heiten aufweist wie kaum ein anderes Rechtsgebiet. 
Namentlich mußte ja die Verschiedenheit des Ver- 
hältnisses, in welchem Staat und Staatsangehörige 
in den einzelnen Staaten stehen, auch auf die Aus- 
bildung des Strafprozesses einwirken und dort in 
die Erscheinung treten; und jeder Wechsel dieses 
Verhältnisses innerhalb desselben Staatswesens 
muß auch in dem Wechsel der Gestalt des Straf- 
prozesses mehr oder minder seinen Ausdruck finden. 
Das alles gilt allerdings erst von dem Zeitpunkt 
ab, wo sich in den Staaten ein eigentümlich ge- 
arteter Strafprozeß herauszubilden beginnt. 
Das läßt sich auch bei der Entwicklung des 
deutschen Strafprozesses beobachten. Für die letz- 
tere kommt aber dazu noch die eigenartige Ent- 
wicklung in Betracht, welche das deutsche Rechts- 
leben überhaupt infolge der Rezeption des frem- 
den (römischen und kanonischen) Rechts durch- 
gemacht hat. 
2. Die Entwicklung des römischen Straf- 
prozesses weist durchaus die angedeuteten Momente 
auf: zunächst Unterdrückung nur von Handlungen, 
die zweifellos gegen die Gesamtheit sich richteten, 
durch ein sormloses Vorgehen der obersten Staats- 
gewalt, dagegen Verfolgung der Verletzung von 
Privatrechten, die nach heutiger Auffassung eine 
öffentlich-rechtliche Bestrafungnotwendig erscheinen 
läßt, nur im Weg des Zivilprozesses; in den 
ersten Zeilen der Republik sodann für jene Ver- 
brechen Anklage vor den Komitien durch die Magi- 
strate, in späterer Zeit Anklage vor den an Stelle 
der Komitien getretenen ständigen Geschworenen- 
Kommissionen (quaestiones porpetuae), deren 
Mitglieder, 82/75 an der Zahl, jährlich aus- 
gewählt und öffentlich bekannt gemacht wurden. 
Strafprozeß. 
  
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Das Verfahren vor diesen Quästionen war ein 
reiner Anklageprozeß; wo kein Kläger, kein Rich- 
ter. Die amtliche Anklage trat allmählich vor der 
Popularklage zurück, d. h. es war jeder unbeschol- 
tene Bürger zur Erhebung einer Anklage be- 
rechtigt; daneben aber gab es gewisse Magi- 
strate, welche zu der Bekämpfung alles Staats- 
gefährlichen, mithin auch zur Anklage verpflichtet 
waren, soweit es sich um staatsgefährliche Unter- 
nehmungen handelte. Wer eine Anklage erheben 
wollte, mußte ein Zulassungsgesuch bei dem Vor- 
stand der quaestio anbringen unter Bezeichnung 
des Beschuldigten und der Beschuldigung. War 
dieses Gesuch angenommen, so wurde der Beschul- 
digte vorgeladen und befragt. Gestand er, so 
hatte das Geständnis dieselbe Wirkung wie ein 
Geständnis im Zivilprozeß. Leugnete er, so wurde 
mit dem Ankläger ein Protokoll ausgenommen, 
in welchem die Tat und das Strafgesetz genau be- 
zeichnet wurde, und welches die unverrückbare 
Grundlage für das Hauptverfahren bildete, das 
nun in einem besonders anzusetzenden Termin 
stattfand. In diesem letzteren fand zunächst die 
Auslosung und Vereidigung der nicht abgelehnten 
Richter statt (es gab ein durch die Verpflichtung 
zur Angabe von Gründen nicht beschränktes Ab- 
lehnungsrecht). Hierauf hielt der Ankläger, dann 
der Beschuldigte bzw. sein Verteidiger seine Rede, 
und erst dann folgte die Beweisaufnahme, für 
welche der Ankläger alles ihm dienlich Erscheinende 
selbst herbeizuschaffen hatte. Dem Ankläger, nicht 
dem Beschuldigten, stand die Befugnis zu, Zeugen 
zum Erscheinen zu zwingen. Die Zeugen wurden 
beeidigt und zuerst von dem Ankläger, dann von 
dem Beschuldigten vernommen. Sklaven als 
Zeugen konnten gefoltert werden. Ein Geständnis 
konnte, außer bei Sklaven, nicht erzwungen wer- 
den. Erst in der Kaiserzeit wurde die Tortur 
(quaestio) auch gegen Freie zulässig. Nach der 
Beweisaufnahme erfolgte geheime Abstimmung 
mittels Wachstäfelchen mit den Buchstaben A 
(absolvo — ich spreche frei) oder C (condemno 
ich verurteile) oder NI (non liquet = es ist 
zweifelhaft, nicht aufgeklärt). Ergab sich für Frei- 
sprechung oder Verurteilung keine absolute Majori= 
tät, so mußte das Hauptverfahren so lange wieder- 
holt werden, bis sich eine solche für die eine oder 
andere ergab. Bei Stimmengleichheit trat Frei- 
sprechung ein. Das Verfahren war öffentlich und 
sand auf dem Forum slatt. Eine einmal erhobene 
Klage konnte der Ankläger ohne Genehmigung 
des Gerichts nicht mehr fallen lassen; tat er es 
dennoch, so hatte er die auf Tergiversation oder 
Prävarikation gesetzte Strafe zu gewärtigen. Mut- 
williger Erhebung von Anklagen wurde dadurch 
gesteuert, daß der Ankläger bei Beginn des Pro- 
zesses den Kalumnieneid leisten mußte. Der An- 
geklagte, wenn er ein Bürger war, konnte durch 
freiwilliges Exil jedem Prozeß jederzeit ein Ende 
machen (vgl. d. Art. Strafrecht unter II.). — Erst 
mit der Kaiserzeit wird allmählich der strafrecht-
	        
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