277 Strafprozeß. 278
liche Schutz weiter auf Privatdelikte ausgedehnt, Leugnet er, so kommt es zum Beweisverfahren.
für deren Aburteilung die kaiserlichen Beamten Als Beweismittel galten nur Eid, Gottesurteil
ohne Geschworene zuständig waren, wenngleich und Zweikampf, nicht dagegen Zeugen. Im all-
unter Zuziehung von assessores, die aber, wie gemeinen ist der Angeklagte „näher zum Beweis“,
das consistorium neben dem Kaiser als oberstem d. h. also, er hatte das Recht, sich durch einen
Richter, nur beratende Stimme hatten. Dieses Eid von der Anklage zu reinigen. Für ge-
Verfahren wurde nach und nach auch für die schon wöhnlich genügte sein Eid allein nicht; er mußte
durch die Strafgesetze der Republik bedrohten Ver= noch sechs Eideshelfer haben, die mit ihm (selb-
brechen (orimina ordinaria) üblich und erlangte siebent) schwuren, aber nicht etwa die zu beweisen-
seit Septimius Severus (um 205 n. Chr.) aus= den Tatsachen, sondern nur ihr Vertrauen zu der
schließliche Geltung. Der Beamte zog sich vom Wahrhaftigkeit des schwörenden Angeklagten be-
Forum in einen geschlossenen Raum (in secre- stätigten. Auf „handhafter Tat“ Ergriffenen war
tario) zurück, was eine Beeinträchtigung der der Reinigungseid versagt; in diesem Fall stand
Offentlichkeit zur Folge hatte; im übrigen blieben der Eid dem Kläger zu. Auch Unfreien, an-
die Grundzüge des alten Verfahrens erhalten. rüchigen Personen u. dgl. war der Reinigungseid
Unter Augustus wurde, wie gegen die Zivil= versagt; ihnen stand nur der Weg der Gottes-
gerichtsurteile, so auch gegen die Strafgerichts= urteile, Ordale (Kesselfang, Feuerprobe) offen.
urteile das Rechtsmittel der Appellation eingeführt. Den Zweikampf konnte der Kläger so gut wie der
3. Wesentlich anders entwickelte sich der ger- Angeklagte fordern; Bedingung war, daß der
manische Strafprozeß. Auch nach altgermani= Herausforderer dem Herausgeforderten mindestens
schem Recht wurden nur Verbrechen gegen den gleichstand. Für Frauen wurde der Zweikampf
Staat und die Götter von Staats wegen verfolgt. durch einen Kampfvormund (Kämpe) ausgefochten.
Im übrigen war es Sache des durch eine Misse-Die Beantwortung der Schuldfrage ergab sich
tat Verletzten (und seiner Sippe), sich Genug= rein formell aus der Leistung bzw. Nichtleistung
tuung zu verschaffen. Er hatte aber auch das des Eids, dem Ausfall des Gottesurteils bzw.
Recht, Genugtuung in der Gerichtsversammlung des Zweikampfs; eine gerichtliche Prüfung der ma-
(dem „Ding“) zu fordern. In diesem Fall mußte teriellen Wahrheit trat nicht hinzu. Das Beweis-
er sich aber auch mit der zugesprochenen Buße verfahren erhielt sich bis ins 15. Jahrh. Die Ur-
(compositio) begnügen, wogegen der schuldig be= teils= oder Rechtsfindung (vgl. d. Art. Richter) durch
fundene Täter verpflichtet war, die Buße zu den Umstand, die Rachimburgen bzw. Schöffen, er-
zahlen, und friedlos (vogelfrei) wurde, wenn er folgte mit Stimmenmehrheit. Eine Appellation
nicht zahlte. Da es sich bei diesem gerichtlichen gegen das Urteil gab es im älteren Recht nicht.
Verfahren also nur um eine Verurteilung zu der Jede Partei und eine Zeitlang jeder aus dem Um-
Buße handelte, so war die Gleichartigkeit des Ge= stand konnte jedoch das Urteil „schelten“, was nur
richts und des Verfahrens in Strafsachen und eine Nachprüfung des von dem Gericht zur An-
privatrechtlichen Klagesachen von selbst gegeben, wendung gebrachten Rechtssatzes durch einen
Gericht war das Hundertschaftsgericht, bei schweren „Oberhof“ zur Folge hatte; eine Erneuerung der
Verbrechen die ganze Volksversammlung, später Verhandlung war infolge der formellen Erledi-
das Königsgericht (vgl. d. Art. Richter). Das gung der Schuldfrage (mittels Eid usw.) aus-
Verfahren war, wie das aus dem Charakter des geschlossen.
Volksgerichts folgt, öffentlich und mündlich und, 4. Inzwischen hatte sich der kanonische
ebenso wie im römischen Prozeß, ein reines An= Strafprozeß vollständig entwickelt. Schon sehr
klageverfahren. Die außerordentlichen Verschie= früh, schon vor Konstantin d. Gr., hatte die
denheiten zwischen römischem und germanischem katholische Kirche im römischen Reich die Straf-
Verfahren ergaben sich aus der dem letzteren eignen gerichtsbarkeit über Geistliche ausgeübt und trotz
großen Formenstrenge und dem Beweissystem. Es mehrfachen Wechsels im Lauf der Zeit im byzan-
wurde in den feierlichsten, strengsten Formen ver= tinischen Reich im Prinzip zur Anerkennung ge-
handelt. Alles „ist gleich wichtig: Ort und Zeit bracht. Auch in den germanischen Reichen erlangte
der Gerichtssitzung, der Platz des Richters und der sie ebenso allmählich die Immunität der Geist-
Urteiler, der Stab in des ersteren Hand, die Art lichen von der weltlichen Gerichtsbarkeit; zur Zeit
der Ladung des Angeklagten, die Art, wie ein Be-= Karls d. Gr. war diese Immunität vollständig.
gehren ausgesprochen wird“ usw. Dieser Forma= Es entsprach dieser Zustand auch durchaus ger-
lismus, der so streng war, daß ein „Missesprechen“ manischer Rechtsanschauung, nach der jeder nur
den Verlust des Prozesses zur Folge hatte und die von seinesgleichen gerichtet werden konnte. Nach
Zuziehung von „Fürsprechern“ nötig machte, wird 1 und nach dehnte die Kirche ihre Gerichtsbarkeit
erst im späteren Mittelalter, als die Prozeßleitung auch auf Laien aus, und zwar zunächst als Er-
vollständig in die Hand des Richters übergegangen gänzung der mangelhaften staatlichen Strafrechts-
war, gemildert. — Erscheint der Angeklagte trotz pflege in dem Fall einer gegen eine geistliche Per-
gehöriger Ladung nicht, so verfällt er der Buße; son begangenen Straftat. Sodann zog sie die rein
erscheint und gesteht er, so wird nach Antwort der kirchlichen Delikte (delicta mere ecclesiastica:
Urteiler über ihn verhängt, was Rechtens ist. Häresie und Simonie) vor ihr ausschließliches