279
Forum und übte endlich in Konkurrenz mit den
weltlichen Gerichten die Strafgerichtsbarkeit über
Laien in Ansehung der delicta mixta (Sakri-
legium, Meineid, Ehebruch u. dgl.). — Das Ver-
fahren (vor dem Bischof) schloß sich durchaus an
den römischen Anklageprozeß an. Es wurde nur
auf Anklage eingeleitet, und der Ankläger hatte
den Beweis zu führen. Auch das Beweissystem
war dem des römischen Prozesses entsprechend,
unter Ausschluß von Reinigungseid, Gottesurteil,
Zweikampf und Tortur.
Daneben und unabhängig davon entwickelte
sich, namentlich in den fränkischen Reichen, vor
den bischöflichen Sendgerichten ein besonderes
Verfahren. Auf seinen gewöhnlich alljährlich
unternommenen Visitationsreisen in seiner Diözese
suchte der Bischof im allgemeinen auch die Zu-
stände des Sprengels kennen zu lernen. Auf die
an bestellte Vertrauenspersonen gerichteten Fragen
über vorgekommene Verbrechen genügte deren eid-
liche Erklärung, daß jemand durch ein allgemein
verbreitetes Gerücht eines bestimmten Verbrechens
beschuldigt werde (infamatio, diffamatio), um
ein Verfahren einzuleiten, „als ob das Gerücht
die Anklage erhoben hätte“. Unter Innozenz III.
(gest. 1216) kam die Ausbildung dieses Verfahrens
zum Abschluß. Nach seiner Anordnung mußte
auf die infamatio hin eine Untersuchung (inqui-
sitio) über Bestehen, Inhalt und Begründetheit
des Gerüchts angestellt werden. Dem Untersuchen-
den lag die Pflicht ob, die materielle Wahrheit zu
erforschen, zu welchem Zweck er durch materielle
Beweismittel (Zeugen, Sachverständige, Urkunden,
Augenschein) in geheimem Verfahren Tatsachen
feststellen sollte, aus denen er die innere Über-
zeugung von der Schuld oder Nichtschuld zu ge-
winnen vermöge. Auf Grund dieses Materials
wurde die Beschuldigung formuliert. In dem
nunmehr folgenden Hauptverfahren mußte der
Beschuldigte anwesend sein (nisi se per contu-
maciam absentaverit). Die Namen und Aus-
sagen der Zeugen und das Ergebnis der sonst er-
hobenen Beweise mußten ihm behufs Geltend-
machung seiner Einwendungen bekannt gegeben
werden. Jede Art der Verteidigung stand ihm
frei; reichte die Verteidigung nicht aus, so mußte
sich der Beschuldigte, germanischer Rechtssitte zu-
folge, durch Eid reinigen, wobei Eideshelser nicht
zugezogen wurden. Durch Ableistung des Eides
wurde der Verdacht völlig beseitigt, durch Ver-
weigerung bestätigt. Die Folter war dem Ver-
fahren unbekannt. — Im Lauf der Zeit wurde
an Stelle der infamatio die einfache Anzeige
(denuntiatio) für die Einleitung des Verfahrens
für ausreichend erachtet.
Dieser kanonische Strafprozeß, in der letzteren
Gestalt auch Anquisitionsprozeß genannt —
durchaus zu unterscheiden von dem Verfahren der
politischen Inquisition (vgl. diesen Art.) —,
enthielt gegenüber dem weltlichen Prozeß seiner
Zeit zwei großartige Fortschritte: einmal das
Strafprozeß.
280
Prinzip, daß es im Interesse der öffentlichen
Wohlfahrt und Rechtsordnung die Aufgabe des
Strafprozesses sei, nach Möglichkeit die materielle
Wahrheit festzustellen, ein Prinzip, das „nie
wieder verloren gegangen ist und nicht verloren
gehen kann, solange das europäische Staaten-
sostem seine jetzige Weltstellung behält“; sodann
den „noch wichtigeren“ Vorteil, daß er das ger-
manische Beweissystem beseitigte und dem römischen
Bahn brach. Das schützt ihn natürlich nicht vor
Verunglimpfungen aller Art, zum Teil auch von
seiten solcher, bei welchen Kenntnis der Dinge
vorausgesetzt werden muß.
5. Schon in der zweiten Hälfte des 13. Jahrh.
fand dieser kanonische Inquisitionsprozeß — neben
dem Anklageprozeß — bei den weltlichen Gerichten
Italiens Anwendung, allerdings nicht in seiner
reinen Gestalt, sondern, beeinflußt von Praktikern
wie Durantis und Gandinus (gest. 1300), mit
römischen Einrichtungen versetzt, namentlich der
Tortur zur Erpressung von Geständnissen. In
Deutschland konnte das germanische Verfahren für
die komplizierter gewordenen Verhältnisse des
späteren Mittelalters nicht genügen. An An-
klägern fehlte es, und öffentliche Ankläger wurden
nicht bestellt. Unter dem Einfluß der von den
italienischen Rechtsschulen heimkehrenden Juristen
war sodann die Überzeugung allgemein geworden,
daß das rohe, rein formelle germanische Beweis-
system unhaltbar sei. Man verlangte statt der
früheren Eideshelfer wirkliche Zeugen in Bezug
auf die Tat. Als Hauptbeweismittel aber sah man
das Geständnis an. So stieß die Einführung des
kanonischen Inquisitionsverfahrens auch bei den
weltlichen Gerichten Deutschlands auf keine Schwie-
rigkeiten; die Rezeplion desselben vollzog sich in
derselben Art und Weise wie die des römisch-
kanonischen Privatrechts, wie schon angedeutet,
durch die Praxis der Juristen. Aber die Rezep-
tion erfolgte auch mit den italienischen Zutaten,
namentlich der Folter zur Erpressung der Ge-
ständnisse, und das um so leichter, als in der
Folter ein geeigneter Ersatz für die früheren Gottes-
urteile erblickt wurde. Gegen Ende des Mittel-
alters war die Rezeption vollendet. Das An-
klageverfahren blieb daneben zwar formell noch
bestehen und galt auch als die Regel, aber tat-
sächlich wurde es von dem Inquisitionsverfahren
vollständig in den Hintergrund gedrängt. Immer-
hin mußte aber doch schon das rein sormelle Neben-
einanderbestehen der beiden von so durchaus ver-
schiedenen Prinzipien getragenen Verfahrensarten
in den von keiner starken Zentralgewalt in An-
sehung der Rechtspflege geleiteten zahllosen Ter-
ritorien sowie die Möglichkeit, sich vorkommenden-
salls auf das eine oder andere der im Konflikt
befindlichen Rechte berufen zu können, zu einer
„heillosen“ Entartung der gesamten Strafrechts-
pflege führen. Gestützt durch die Lehre, daß bei
besonders schweren Verbrechen der Richter an ge-
setzliche Schranken überhaupt nicht gebunden sei,