Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Forum und übte endlich in Konkurrenz mit den 
weltlichen Gerichten die Strafgerichtsbarkeit über 
Laien in Ansehung der delicta mixta (Sakri- 
legium, Meineid, Ehebruch u. dgl.). — Das Ver- 
fahren (vor dem Bischof) schloß sich durchaus an 
den römischen Anklageprozeß an. Es wurde nur 
auf Anklage eingeleitet, und der Ankläger hatte 
den Beweis zu führen. Auch das Beweissystem 
war dem des römischen Prozesses entsprechend, 
unter Ausschluß von Reinigungseid, Gottesurteil, 
Zweikampf und Tortur. 
Daneben und unabhängig davon entwickelte 
sich, namentlich in den fränkischen Reichen, vor 
den bischöflichen Sendgerichten ein besonderes 
Verfahren. Auf seinen gewöhnlich alljährlich 
unternommenen Visitationsreisen in seiner Diözese 
suchte der Bischof im allgemeinen auch die Zu- 
stände des Sprengels kennen zu lernen. Auf die 
an bestellte Vertrauenspersonen gerichteten Fragen 
über vorgekommene Verbrechen genügte deren eid- 
liche Erklärung, daß jemand durch ein allgemein 
verbreitetes Gerücht eines bestimmten Verbrechens 
beschuldigt werde (infamatio, diffamatio), um 
ein Verfahren einzuleiten, „als ob das Gerücht 
die Anklage erhoben hätte“. Unter Innozenz III. 
(gest. 1216) kam die Ausbildung dieses Verfahrens 
zum Abschluß. Nach seiner Anordnung mußte 
auf die infamatio hin eine Untersuchung (inqui- 
sitio) über Bestehen, Inhalt und Begründetheit 
des Gerüchts angestellt werden. Dem Untersuchen- 
den lag die Pflicht ob, die materielle Wahrheit zu 
erforschen, zu welchem Zweck er durch materielle 
Beweismittel (Zeugen, Sachverständige, Urkunden, 
Augenschein) in geheimem Verfahren Tatsachen 
feststellen sollte, aus denen er die innere Über- 
zeugung von der Schuld oder Nichtschuld zu ge- 
winnen vermöge. Auf Grund dieses Materials 
wurde die Beschuldigung formuliert. In dem 
nunmehr folgenden Hauptverfahren mußte der 
Beschuldigte anwesend sein (nisi se per contu- 
maciam absentaverit). Die Namen und Aus- 
sagen der Zeugen und das Ergebnis der sonst er- 
hobenen Beweise mußten ihm behufs Geltend- 
machung seiner Einwendungen bekannt gegeben 
werden. Jede Art der Verteidigung stand ihm 
frei; reichte die Verteidigung nicht aus, so mußte 
sich der Beschuldigte, germanischer Rechtssitte zu- 
folge, durch Eid reinigen, wobei Eideshelser nicht 
zugezogen wurden. Durch Ableistung des Eides 
wurde der Verdacht völlig beseitigt, durch Ver- 
weigerung bestätigt. Die Folter war dem Ver- 
fahren unbekannt. — Im Lauf der Zeit wurde 
an Stelle der infamatio die einfache Anzeige 
(denuntiatio) für die Einleitung des Verfahrens 
für ausreichend erachtet. 
Dieser kanonische Strafprozeß, in der letzteren 
Gestalt auch Anquisitionsprozeß genannt — 
durchaus zu unterscheiden von dem Verfahren der 
politischen Inquisition (vgl. diesen Art.) —, 
enthielt gegenüber dem weltlichen Prozeß seiner 
Zeit zwei großartige Fortschritte: einmal das 
Strafprozeß. 
  
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Prinzip, daß es im Interesse der öffentlichen 
Wohlfahrt und Rechtsordnung die Aufgabe des 
Strafprozesses sei, nach Möglichkeit die materielle 
Wahrheit festzustellen, ein Prinzip, das „nie 
wieder verloren gegangen ist und nicht verloren 
gehen kann, solange das europäische Staaten- 
sostem seine jetzige Weltstellung behält“; sodann 
den „noch wichtigeren“ Vorteil, daß er das ger- 
manische Beweissystem beseitigte und dem römischen 
Bahn brach. Das schützt ihn natürlich nicht vor 
Verunglimpfungen aller Art, zum Teil auch von 
seiten solcher, bei welchen Kenntnis der Dinge 
vorausgesetzt werden muß. 
5. Schon in der zweiten Hälfte des 13. Jahrh. 
fand dieser kanonische Inquisitionsprozeß — neben 
dem Anklageprozeß — bei den weltlichen Gerichten 
Italiens Anwendung, allerdings nicht in seiner 
reinen Gestalt, sondern, beeinflußt von Praktikern 
wie Durantis und Gandinus (gest. 1300), mit 
römischen Einrichtungen versetzt, namentlich der 
Tortur zur Erpressung von Geständnissen. In 
Deutschland konnte das germanische Verfahren für 
die komplizierter gewordenen Verhältnisse des 
späteren Mittelalters nicht genügen. An An- 
klägern fehlte es, und öffentliche Ankläger wurden 
nicht bestellt. Unter dem Einfluß der von den 
italienischen Rechtsschulen heimkehrenden Juristen 
war sodann die Überzeugung allgemein geworden, 
daß das rohe, rein formelle germanische Beweis- 
system unhaltbar sei. Man verlangte statt der 
früheren Eideshelfer wirkliche Zeugen in Bezug 
auf die Tat. Als Hauptbeweismittel aber sah man 
das Geständnis an. So stieß die Einführung des 
kanonischen Inquisitionsverfahrens auch bei den 
weltlichen Gerichten Deutschlands auf keine Schwie- 
rigkeiten; die Rezeplion desselben vollzog sich in 
derselben Art und Weise wie die des römisch- 
kanonischen Privatrechts, wie schon angedeutet, 
durch die Praxis der Juristen. Aber die Rezep- 
tion erfolgte auch mit den italienischen Zutaten, 
namentlich der Folter zur Erpressung der Ge- 
ständnisse, und das um so leichter, als in der 
Folter ein geeigneter Ersatz für die früheren Gottes- 
urteile erblickt wurde. Gegen Ende des Mittel- 
alters war die Rezeption vollendet. Das An- 
klageverfahren blieb daneben zwar formell noch 
bestehen und galt auch als die Regel, aber tat- 
sächlich wurde es von dem Inquisitionsverfahren 
vollständig in den Hintergrund gedrängt. Immer- 
hin mußte aber doch schon das rein sormelle Neben- 
einanderbestehen der beiden von so durchaus ver- 
schiedenen Prinzipien getragenen Verfahrensarten 
in den von keiner starken Zentralgewalt in An- 
sehung der Rechtspflege geleiteten zahllosen Ter- 
ritorien sowie die Möglichkeit, sich vorkommenden- 
salls auf das eine oder andere der im Konflikt 
befindlichen Rechte berufen zu können, zu einer 
„heillosen“ Entartung der gesamten Strafrechts- 
pflege führen. Gestützt durch die Lehre, daß bei 
besonders schweren Verbrechen der Richter an ge- 
setzliche Schranken überhaupt nicht gebunden sei,
	        
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