Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Reinigungseids, teils griff man zu dem System und Sachsen abgesehen) und endlich in der Offent- 
lichkeit und Mündlichkeit des Hauptverfahrens. 
der ordentlichen und außerordentlichen (Verdachts-) 
Strafen, teils huldigte man der Theorie, daß, da 
die Folter weggefallen sei, auch das Verbot der 
Verurteilung auf bloße Indizien hin gefallen sei, 
so daß eine Lücke nicht bestände. Mit diesen Theo- 
rien stand dann wieder die vorläufige Freisprechung 
oder Freisprechung von der Instanz im Zusammen- 
hang. Aus dieser Unsicherheit nahmen verschiedene 
Landesgesetzgebungen Veranlassung, neue umfas- 
sende Strasprozeßordnungen zu erlassen, die aber 
zum Teil den gemeinrechtlichen Strafprozeß nur 
in einer durch die Beseitigung der Folter bedingten 
Gestalt neu kodifizierten. Dahin gehörte unter 
anderem der Codex Maximilianeus iuris bava- 
rici criminalis für Bayern (1751), die Consti- 
tutio criminalis Theresiana (1768) wie die 
Kriminalordnung Kaiser Josephs II. (1787) für 
Osterreich und die preußische Kriminalordnung 
von 1805. 
6. Eine durchgreifende, auf hier ganz neuen 
Prinzipien aufgebaute Umgestaltung des Straf- 
prozesses wurde in Deutschland erst durch die Er- 
eignisse des Jahrs 1848 veranlaßt. Aus den 
Zeiten der französischen Fremdherrschaft war in 
den linksrheinischen Gebietsteilen Preußens, 
Bayerns und Hessens das Verfahren nach der 
französischen Strasprozeßordnung von 1808 (Code 
d’instruction criminelle) als partikulärer rhei- 
nischer Strafprozeß erhalten geblieben. Die Ge- 
schworenengerichte und die Offentlichkeit und 
Mündlichkeit dieses Verfahrens waren auch in den 
übrigen Teilen Deutschlands volkstümlich ge- 
worden und hatten hier auf ihre Einführung ab- 
zielende Reformbestrebungen hervorgerufen, die 
indessen zunächst nur geringen legislativen Erfolg 
hatten, wie in Württemberg 1843, Baden 1845 
und Preußen 1846, hier aber nur für das Krimi- 
nalgericht und Kammergericht in Berlin. Die 
Bewegung des Jahrs 1848, die an die Stelle 
der juristisch -sachlichen Erörterungen über die 
Ausgestaltung des Prozesses politische Schlag- 
wörter in den Vordergrund schob, verhalf diesen 
Bestrebungen zum Durchbruch, und es entstanden 
in sämtlichen deutschen Staaten — mit Ausnahme 
Mecklenburgs und der beiden Lippe, wo der ge- 
meine Strafprozeß bis zum Jahr 1879 in Gel- 
tung blieb (vgl. unter II. 1.) — neue Straf- 
prozeßgesetze, die, wenngleich sie im einzelnen 
zahlreiche Verschiedenheiten aufwiesen, doch im 
wesentlichen unter sich und mit dem französischen 
Vorbild übereinstimmten und als partikuläres 
Recht in Geltung kamen; daneben blieb in den 
oben genannten linksrheinischen Gebietsteilen der 
Code in Kraft. Die hauptsächlichsten Neuerungen 
in betreff der äußern Gestaltung des Verfahrens 
bestanden in der Einführung der Staatsanwall- 
schaft mit einem gegenüber der französischen In- 
stitution beschränkteren Berufskreise und modifi- 
ziertem Anklagemonopol, ferner in der Einführung 
der Geschworenengerichte (von Altenburg, Lübeck 
  
Strafprozeß. 
  
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In mehreren Staaten wurde neben den Schwur- 
gerichten in den Schöffengerichten eine neue Form 
der Beteiligung des Laienelements an der Recht- 
sprechung eingeführt, in denen Richter und Laien, 
nicht wie in den Schwurgerichten getrennt, sondern 
als einheitliches Kollegium die Funktionen des 
erkennenden Strafgerichts auszuüben haben. Für 
die innere Struktur des Prozesses war von höchster 
Bedeutung, daß der Richter nicht mehr an die 
bisherigen positiven Beweisregeln gebunden war, 
sondern das Recht der freien Beweiswürdigung 
hatte, was namentlich auch das Drängen auf ein 
Geständnis des Beschuldigten überflüssig machte; 
ferner die mit der Einführung der Staatsanwalt- 
schaft bzw. der Mündlichkeit und Offentlichkeit 
sich notwendig ergebende veränderte Stellung des 
Beschuldigten im Verfahren. — Die hierher ge- 
hörige preußische Gesetzgebung ist in den Ver- 
ordnungen vom 2. Jan. 1849 (Organisations-= 
gesetz) und vom 3. Jan. 1849 (Verfahrensord- 
nung) nebst Zusatzgesetz vom 3. Mai 1852 und 
einigen Ergänzungsgesetzen enthalten. 
III. Der Reichsstrafprozeß. A. Entstehung 
und Geltungsgebiet der Strafprozeßordnung. 
Auf Grund des Art. 4, Nr 13 der Verfassung 
für den Norddeutschen Bund hatten bereits 1868 
Bundestag und Reichstag den Beschluß gefaßt, 
das gerichtliche Verfahren einheitlich zu regeln. 
Demzufolge ließ der Bundesrat Entwürfe zu einer 
Zivilprozeßordnung und einer Strafprozeßord- 
nung ausarbeiten und legte, nachdem er zweimal 
Vorentwürfe zu der letzteren wesentlich abgeändert 
hatte, beide nebst einem sie ergänzenden Entwurf 
zu einem Gerichtsverfassungsgesetz (G.V. G.) dem 
Reichstag im Nov. 1874 vor. Hier wurden sie 
der üblichen Kommissionsberatung unterzogen, aus 
der sie wiederum erheblich abgeändert hervor- 
gingen. Der Reichstag trat in zweiter Lesung fast 
in allem seiner Kommission bei. Die Differenzen 
zwischen Bundesrat und Reichstag betrafen nicht 
weniger als 32 Punkte. In Bezug auf 22 der- 
selben gab der Bundesrat nach; in betreff der 
übrigen kam zwischen ihm und dem Reichstag ein 
Kompromiß (hauptsächlich über die Behandlung 
der Preßsachen, Beschlagnahme von Briefen usw., 
Provokation des Verletzten auf gerichtliche Ent- 
scheidung, über die Erhebung der öffentlichen 
Klage u. a.) und damit das Gesetz zustande. Die 
Strafprozeßordnung datiert vom 1. Febr. 1877 
und hat Gesetzeskraft vom 1. Okt. 1879. Zu ihrer 
Ergänzung dienen eine Anzahl von Reichs= und 
Landesgesetzen; auch hat sie mehrfache, aber un- 
erhebliche Abänderungen erfahren. 
Bei Schaffung der Strafprozeßordnung hat 
man sich nicht von dem Gedanken leiten lassen, 
etwas absolut Neues bewerkstelligen zu wollen. 
Man wollte im Gegenteil die Grundlagen, auf 
denen die deutschen Strafprozeßgebungen der vor- 
aufgegangenen letzten Jahrzehnte beruhten, nicht
	        
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