288
Reinigungseids, teils griff man zu dem System und Sachsen abgesehen) und endlich in der Offent-
lichkeit und Mündlichkeit des Hauptverfahrens.
der ordentlichen und außerordentlichen (Verdachts-)
Strafen, teils huldigte man der Theorie, daß, da
die Folter weggefallen sei, auch das Verbot der
Verurteilung auf bloße Indizien hin gefallen sei,
so daß eine Lücke nicht bestände. Mit diesen Theo-
rien stand dann wieder die vorläufige Freisprechung
oder Freisprechung von der Instanz im Zusammen-
hang. Aus dieser Unsicherheit nahmen verschiedene
Landesgesetzgebungen Veranlassung, neue umfas-
sende Strasprozeßordnungen zu erlassen, die aber
zum Teil den gemeinrechtlichen Strafprozeß nur
in einer durch die Beseitigung der Folter bedingten
Gestalt neu kodifizierten. Dahin gehörte unter
anderem der Codex Maximilianeus iuris bava-
rici criminalis für Bayern (1751), die Consti-
tutio criminalis Theresiana (1768) wie die
Kriminalordnung Kaiser Josephs II. (1787) für
Osterreich und die preußische Kriminalordnung
von 1805.
6. Eine durchgreifende, auf hier ganz neuen
Prinzipien aufgebaute Umgestaltung des Straf-
prozesses wurde in Deutschland erst durch die Er-
eignisse des Jahrs 1848 veranlaßt. Aus den
Zeiten der französischen Fremdherrschaft war in
den linksrheinischen Gebietsteilen Preußens,
Bayerns und Hessens das Verfahren nach der
französischen Strasprozeßordnung von 1808 (Code
d’instruction criminelle) als partikulärer rhei-
nischer Strafprozeß erhalten geblieben. Die Ge-
schworenengerichte und die Offentlichkeit und
Mündlichkeit dieses Verfahrens waren auch in den
übrigen Teilen Deutschlands volkstümlich ge-
worden und hatten hier auf ihre Einführung ab-
zielende Reformbestrebungen hervorgerufen, die
indessen zunächst nur geringen legislativen Erfolg
hatten, wie in Württemberg 1843, Baden 1845
und Preußen 1846, hier aber nur für das Krimi-
nalgericht und Kammergericht in Berlin. Die
Bewegung des Jahrs 1848, die an die Stelle
der juristisch -sachlichen Erörterungen über die
Ausgestaltung des Prozesses politische Schlag-
wörter in den Vordergrund schob, verhalf diesen
Bestrebungen zum Durchbruch, und es entstanden
in sämtlichen deutschen Staaten — mit Ausnahme
Mecklenburgs und der beiden Lippe, wo der ge-
meine Strafprozeß bis zum Jahr 1879 in Gel-
tung blieb (vgl. unter II. 1.) — neue Straf-
prozeßgesetze, die, wenngleich sie im einzelnen
zahlreiche Verschiedenheiten aufwiesen, doch im
wesentlichen unter sich und mit dem französischen
Vorbild übereinstimmten und als partikuläres
Recht in Geltung kamen; daneben blieb in den
oben genannten linksrheinischen Gebietsteilen der
Code in Kraft. Die hauptsächlichsten Neuerungen
in betreff der äußern Gestaltung des Verfahrens
bestanden in der Einführung der Staatsanwall-
schaft mit einem gegenüber der französischen In-
stitution beschränkteren Berufskreise und modifi-
ziertem Anklagemonopol, ferner in der Einführung
der Geschworenengerichte (von Altenburg, Lübeck
Strafprozeß.
284
In mehreren Staaten wurde neben den Schwur-
gerichten in den Schöffengerichten eine neue Form
der Beteiligung des Laienelements an der Recht-
sprechung eingeführt, in denen Richter und Laien,
nicht wie in den Schwurgerichten getrennt, sondern
als einheitliches Kollegium die Funktionen des
erkennenden Strafgerichts auszuüben haben. Für
die innere Struktur des Prozesses war von höchster
Bedeutung, daß der Richter nicht mehr an die
bisherigen positiven Beweisregeln gebunden war,
sondern das Recht der freien Beweiswürdigung
hatte, was namentlich auch das Drängen auf ein
Geständnis des Beschuldigten überflüssig machte;
ferner die mit der Einführung der Staatsanwalt-
schaft bzw. der Mündlichkeit und Offentlichkeit
sich notwendig ergebende veränderte Stellung des
Beschuldigten im Verfahren. — Die hierher ge-
hörige preußische Gesetzgebung ist in den Ver-
ordnungen vom 2. Jan. 1849 (Organisations-=
gesetz) und vom 3. Jan. 1849 (Verfahrensord-
nung) nebst Zusatzgesetz vom 3. Mai 1852 und
einigen Ergänzungsgesetzen enthalten.
III. Der Reichsstrafprozeß. A. Entstehung
und Geltungsgebiet der Strafprozeßordnung.
Auf Grund des Art. 4, Nr 13 der Verfassung
für den Norddeutschen Bund hatten bereits 1868
Bundestag und Reichstag den Beschluß gefaßt,
das gerichtliche Verfahren einheitlich zu regeln.
Demzufolge ließ der Bundesrat Entwürfe zu einer
Zivilprozeßordnung und einer Strafprozeßord-
nung ausarbeiten und legte, nachdem er zweimal
Vorentwürfe zu der letzteren wesentlich abgeändert
hatte, beide nebst einem sie ergänzenden Entwurf
zu einem Gerichtsverfassungsgesetz (G.V. G.) dem
Reichstag im Nov. 1874 vor. Hier wurden sie
der üblichen Kommissionsberatung unterzogen, aus
der sie wiederum erheblich abgeändert hervor-
gingen. Der Reichstag trat in zweiter Lesung fast
in allem seiner Kommission bei. Die Differenzen
zwischen Bundesrat und Reichstag betrafen nicht
weniger als 32 Punkte. In Bezug auf 22 der-
selben gab der Bundesrat nach; in betreff der
übrigen kam zwischen ihm und dem Reichstag ein
Kompromiß (hauptsächlich über die Behandlung
der Preßsachen, Beschlagnahme von Briefen usw.,
Provokation des Verletzten auf gerichtliche Ent-
scheidung, über die Erhebung der öffentlichen
Klage u. a.) und damit das Gesetz zustande. Die
Strafprozeßordnung datiert vom 1. Febr. 1877
und hat Gesetzeskraft vom 1. Okt. 1879. Zu ihrer
Ergänzung dienen eine Anzahl von Reichs= und
Landesgesetzen; auch hat sie mehrfache, aber un-
erhebliche Abänderungen erfahren.
Bei Schaffung der Strafprozeßordnung hat
man sich nicht von dem Gedanken leiten lassen,
etwas absolut Neues bewerkstelligen zu wollen.
Man wollte im Gegenteil die Grundlagen, auf
denen die deutschen Strafprozeßgebungen der vor-
aufgegangenen letzten Jahrzehnte beruhten, nicht