Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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verlassen. Anderseits war bei der Mannigfaltigkeit 
ihrer Ausgestaltung nicht wohl daran zu denken, 
eine derselben der Ausarbeitung zugrunde zu 
legen. Das Ziel der Gesetzgebung mußte viel- 
mehr sein, das Gemeinsame, soweit es sich bewährt 
hatte, festzuhalten, im übrigen die Unterschiede im 
Weg des Kompromisses auszugleichen. So mußte 
zwar im allgemeinen eine von den bestehenden 
Gesetzgebungen unabhängige, im ganzen neue 
Strafprozeßordnung entstehen, in der jedoch „das, 
was für das Gebiet des einen Staats als Neue- 
rung erscheint, für das Gebiet eines andern 
Staats keine solche" ist. 
Das sachliche Geltungsgebiet der Straf- 
prozeßordnung ist bereits oben (I. 1.) festgestellt; 
auch ist dort durch Hinweis auf die Sondergerichte 
das persönliche Geltungsgebiet umschrieben; räum- 
lich umfaßt ihr Geltungsgebiet das ganze Deutsche 
Rei 
ich. 
B. Die Prozeßsubjekte. 1. Die Straf- 
gerichte (Zuständigkeit, Ausschließung und Ab- 
lehnung des Richters usw.). Zur Ausübung der 
Strafgerichtsbarkeit sind ausschließlich Staats- 
gerichte berufen. Seit Inkrafttreten des Gerichts- 
verfassungsgesetzes (1. Okt. 1879) ist jede Pri- 
vatgerichtsbarkeit aufgehoben, Präsentationen für 
Anstellungen sind abgeschafft, der geistlichen Ge- 
richtsbarkeit ist die bürgerliche Wirkung genommen 
und Ausnahmegerichte sind für unstatthaft erklärt 
(vgl. oben I. 1. und G.V.G. §8 13—16). Ge- 
richtsherr ist der Landesherr; in seinem Namen 
werden die Urteile erlassen; das Reichsgericht er- 
kennt „im Namen des Reichs“. Die Unabhängig- 
keit der Gerichte ist grundsätzlich ausgesprochen 
(G. V.G. 8§ 1; vgl. d. Art. Richter). 
An der Ausübung der Strafgerichtsbarkeit sind 
alle ordentlichen Gerichte beteiligt: Amtsgerichte, 
Landgerichte, Oberlandesgerichte und Reichsgericht. 
Wegen Verfassung und Besetzung derselben sowie 
der bei den Amtsgerichten zu bildenden Schöffen- 
gerichte und der bei den Landgerichten zusammen- 
tretenden Schwurgerichte ist auf den Artikel Ge- 
richtsverfassung zu verweisen. 
Die Zuständigkeit eines Gerichts zu den 
von ihm vorgenommenen Prozeßhandlungen bildet 
die erste und oberste Voraussetzung für die Rechts- 
beständigkeit eines Strafverfahrens. Daher bildet 
die Verletzung dieses Grundsatzes stets eine Ver- 
letzung des Gesetzes und damit stets Revision 
(Str. P.O. 8 377, Nr 4). 
Die sachliche Zuständigkeit der einzelnen 
Gattung bestimmt das Gerichtsverfassungsgesetz. 
Strafprozeß. 
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in erster Instanz, die Oberlandesgerichte nur in 
höherer Instanz, die Strafkammern und das 
Reichsgericht sowohl in erster als in höherer In- 
stanz zuständig. Was die Zuständigkeit in erster 
Instanz anlangt, so ist der französisch-rechtliche 
Grundsatz, streng nach der Dreiteilung der straf- 
baren Handlungen die Zuständigkeit zu verteilen, 
nicht durchgeführt, indem den Schöffengerichten 
neben den Übertretungen auch leichtere Vergehen, 
den Strafkammern außer den übrigen Vergehen 
auch leichtere Verbrechen und auch gewisse schwerere 
Verbrechen sowie alle Verbrechen jugendlicher 
Personen zur Aburteilung überwiesen sind; die 
Schwurgerichte sind für alle den Landgerichten 
nicht überwiesenen Verbrechen und in Bayern, 
Württemberg auch für die Preßdelikte zuständig. 
Das Reichsgericht ist in erster und letzter Instanz 
zuständig in den Fällen des Hochverrats und des 
Landesverrats, insofern diese Verbrechen gegen den 
Kaiser oder das Reich gerichtet sind. — Die sach- 
liche Zuständigkeit in höherer Instanz wird zu- 
treffenden Orts unten erörtert werden. — Die 
sachliche Zuständigkeit ist von dem Gericht in 
jedem Stadium des Verfahrens von Amts wegen 
zu prüfen. 
Die örtliche Zuständigkeit eines Gerichts 
(der Gerichtsstand) wird dadurch begründet, daß 
die zu verfolgende strafbare Tat in dessen Bezirk 
begangen worden ist, oder daß der Täter in dem 
Bezirk seinen Wohnsitz hat, oder wenn keiner dieser 
Gerichtsstände begründet ist, daß der Täter im 
Bezirk ergriffen worden ist. Unter Umständen, 
nämlich vor allem dann, wenn Handlung und 
Erfolg örtlich auseinanderliegen, kann die Be- 
stimmung des Gerichtsstands der begangenen Tat 
auf Schwierigkeiten stoßen. Auch kann die Zu- 
lassung dieses Gerichtsstands im unterstellten Fall 
zu großen Unzuträglichkeiten führen und hat dazu 
geführt, insofern als bei Preßdelikten nicht bloß 
der Erscheinungsort z. B. einer Zeitung, sondern 
auch jeder Ort, an den sie versandt wird, als 
Ort der Begehung des Preßdelikts zu gelten hatte. 
Nunmehr ist durch das Reichsgesetz vom 12. Juni 
1902 den diesbezüglichen Beschwerden in der 
Hauptsache abgeholfen. Für die Fälle des sog. 
subjektiven Zusammenhangs von Strafsachen, also 
Fälle, in denen an sich mehrere Gerichte neben- 
einander zuständig sein würden, sind besondere 
Vorschriften zur Lösung der Schwierigkeiten ge- 
geben (Str. P. O. 8§8 12—16). — Die örtliche 
Zuständigkeit muß das Gericht von Amts wegen 
  
nur bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens, nach- 
Hier ist nur folgendes zu bemerken. Schöffen= her nur auf den Einwand des Angeklagten prüfen. 
gerichte und Schwurgerichte sind nur als erkennende Der Satz, daß unberechtigte Annahme örtlicher 
Gerichte tätig; die für die Durchführung des Zuständigkeit stets einen Revisionsgrund abgebe, 
Strafprozesses sonst erforderlichen Anordnungen erleidet hiernach die entsprechende Einschränkung. 
und Entscheidungen ergehen dagegen von den Die Voraussetzungen für die Ausübung des 
Strafkammern oder Senaten oder aber von Einzel= Richteramts bestimmt das Gerichtsverfassungsgesetz 
personen (dem Amtsrichter, Untersuchungsrichter, (§§ 1—11; val. d. Art. Richter). Ein Richter, 
Vorsitzenden der Strafkammer oder des Senats). der diesen Anforderungen nicht entspricht, ist zum 
Die Schöffengerichte und Schwurgerichte sind nur Richteramt un fähig (inhabilis) und kraft Ge-
	        
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