285
verlassen. Anderseits war bei der Mannigfaltigkeit
ihrer Ausgestaltung nicht wohl daran zu denken,
eine derselben der Ausarbeitung zugrunde zu
legen. Das Ziel der Gesetzgebung mußte viel-
mehr sein, das Gemeinsame, soweit es sich bewährt
hatte, festzuhalten, im übrigen die Unterschiede im
Weg des Kompromisses auszugleichen. So mußte
zwar im allgemeinen eine von den bestehenden
Gesetzgebungen unabhängige, im ganzen neue
Strafprozeßordnung entstehen, in der jedoch „das,
was für das Gebiet des einen Staats als Neue-
rung erscheint, für das Gebiet eines andern
Staats keine solche" ist.
Das sachliche Geltungsgebiet der Straf-
prozeßordnung ist bereits oben (I. 1.) festgestellt;
auch ist dort durch Hinweis auf die Sondergerichte
das persönliche Geltungsgebiet umschrieben; räum-
lich umfaßt ihr Geltungsgebiet das ganze Deutsche
Rei
ich.
B. Die Prozeßsubjekte. 1. Die Straf-
gerichte (Zuständigkeit, Ausschließung und Ab-
lehnung des Richters usw.). Zur Ausübung der
Strafgerichtsbarkeit sind ausschließlich Staats-
gerichte berufen. Seit Inkrafttreten des Gerichts-
verfassungsgesetzes (1. Okt. 1879) ist jede Pri-
vatgerichtsbarkeit aufgehoben, Präsentationen für
Anstellungen sind abgeschafft, der geistlichen Ge-
richtsbarkeit ist die bürgerliche Wirkung genommen
und Ausnahmegerichte sind für unstatthaft erklärt
(vgl. oben I. 1. und G.V.G. §8 13—16). Ge-
richtsherr ist der Landesherr; in seinem Namen
werden die Urteile erlassen; das Reichsgericht er-
kennt „im Namen des Reichs“. Die Unabhängig-
keit der Gerichte ist grundsätzlich ausgesprochen
(G. V.G. 8§ 1; vgl. d. Art. Richter).
An der Ausübung der Strafgerichtsbarkeit sind
alle ordentlichen Gerichte beteiligt: Amtsgerichte,
Landgerichte, Oberlandesgerichte und Reichsgericht.
Wegen Verfassung und Besetzung derselben sowie
der bei den Amtsgerichten zu bildenden Schöffen-
gerichte und der bei den Landgerichten zusammen-
tretenden Schwurgerichte ist auf den Artikel Ge-
richtsverfassung zu verweisen.
Die Zuständigkeit eines Gerichts zu den
von ihm vorgenommenen Prozeßhandlungen bildet
die erste und oberste Voraussetzung für die Rechts-
beständigkeit eines Strafverfahrens. Daher bildet
die Verletzung dieses Grundsatzes stets eine Ver-
letzung des Gesetzes und damit stets Revision
(Str. P.O. 8 377, Nr 4).
Die sachliche Zuständigkeit der einzelnen
Gattung bestimmt das Gerichtsverfassungsgesetz.
Strafprozeß.
286
in erster Instanz, die Oberlandesgerichte nur in
höherer Instanz, die Strafkammern und das
Reichsgericht sowohl in erster als in höherer In-
stanz zuständig. Was die Zuständigkeit in erster
Instanz anlangt, so ist der französisch-rechtliche
Grundsatz, streng nach der Dreiteilung der straf-
baren Handlungen die Zuständigkeit zu verteilen,
nicht durchgeführt, indem den Schöffengerichten
neben den Übertretungen auch leichtere Vergehen,
den Strafkammern außer den übrigen Vergehen
auch leichtere Verbrechen und auch gewisse schwerere
Verbrechen sowie alle Verbrechen jugendlicher
Personen zur Aburteilung überwiesen sind; die
Schwurgerichte sind für alle den Landgerichten
nicht überwiesenen Verbrechen und in Bayern,
Württemberg auch für die Preßdelikte zuständig.
Das Reichsgericht ist in erster und letzter Instanz
zuständig in den Fällen des Hochverrats und des
Landesverrats, insofern diese Verbrechen gegen den
Kaiser oder das Reich gerichtet sind. — Die sach-
liche Zuständigkeit in höherer Instanz wird zu-
treffenden Orts unten erörtert werden. — Die
sachliche Zuständigkeit ist von dem Gericht in
jedem Stadium des Verfahrens von Amts wegen
zu prüfen.
Die örtliche Zuständigkeit eines Gerichts
(der Gerichtsstand) wird dadurch begründet, daß
die zu verfolgende strafbare Tat in dessen Bezirk
begangen worden ist, oder daß der Täter in dem
Bezirk seinen Wohnsitz hat, oder wenn keiner dieser
Gerichtsstände begründet ist, daß der Täter im
Bezirk ergriffen worden ist. Unter Umständen,
nämlich vor allem dann, wenn Handlung und
Erfolg örtlich auseinanderliegen, kann die Be-
stimmung des Gerichtsstands der begangenen Tat
auf Schwierigkeiten stoßen. Auch kann die Zu-
lassung dieses Gerichtsstands im unterstellten Fall
zu großen Unzuträglichkeiten führen und hat dazu
geführt, insofern als bei Preßdelikten nicht bloß
der Erscheinungsort z. B. einer Zeitung, sondern
auch jeder Ort, an den sie versandt wird, als
Ort der Begehung des Preßdelikts zu gelten hatte.
Nunmehr ist durch das Reichsgesetz vom 12. Juni
1902 den diesbezüglichen Beschwerden in der
Hauptsache abgeholfen. Für die Fälle des sog.
subjektiven Zusammenhangs von Strafsachen, also
Fälle, in denen an sich mehrere Gerichte neben-
einander zuständig sein würden, sind besondere
Vorschriften zur Lösung der Schwierigkeiten ge-
geben (Str. P. O. 8§8 12—16). — Die örtliche
Zuständigkeit muß das Gericht von Amts wegen
nur bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens, nach-
Hier ist nur folgendes zu bemerken. Schöffen= her nur auf den Einwand des Angeklagten prüfen.
gerichte und Schwurgerichte sind nur als erkennende Der Satz, daß unberechtigte Annahme örtlicher
Gerichte tätig; die für die Durchführung des Zuständigkeit stets einen Revisionsgrund abgebe,
Strafprozesses sonst erforderlichen Anordnungen erleidet hiernach die entsprechende Einschränkung.
und Entscheidungen ergehen dagegen von den Die Voraussetzungen für die Ausübung des
Strafkammern oder Senaten oder aber von Einzel= Richteramts bestimmt das Gerichtsverfassungsgesetz
personen (dem Amtsrichter, Untersuchungsrichter, (§§ 1—11; val. d. Art. Richter). Ein Richter,
Vorsitzenden der Strafkammer oder des Senats). der diesen Anforderungen nicht entspricht, ist zum
Die Schöffengerichte und Schwurgerichte sind nur Richteramt un fähig (inhabilis) und kraft Ge-