Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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strafgerichtlichen Verfolgung) durch Beschluß des 
Gerichts erfolgen. Ergeben sich keine Bedenken, 
so wird die Voruntersuchung durch den Unter- 
suchungsrichter eröffnet. 
Die Voruntersuchung hat den Zweck, insoweit 
Beweise zu sammeln, als erforderlich ist, um eine 
Entscheidung darüber zu begründen, ob das Haupt- 
verfahren zu eröffnen oder der Angeschuldigte außer 
Verfolgung zu setzen sei. Nur ausnahmsweise 
kann der Untersuchungsrichter darüber hinaus Be- 
weise erheben, und zwar nur solche, welche für die 
Verteidigung erforderlich erscheinen oder deren 
Verlust für die Hauptverhandlung zu besorgen 
steht. Innerhalb dieser Grenzen ist der Unter- 
suchungsrichter, der auf die Dauer des Geschäfts- 
ahrs im voraus bestellt wird (durch besondern 
Beschluß kann die Führung einer Voruntersuchung 
einem Amtsrichter übertragen werden; bei dem 
Reichsgericht wird der Untersuchungsrichter für 
jede einzelne Strafsache bestellt), vollständig selb- 
ständig. Seine Aufgabe ist, unparteiisch den 
Zweck des Strafverfahrens zu sichern, d. h. die 
Wahrheit zu ermitteln, im einzelnen also, den 
Spuren des Täters nachzugehen, Zeugen, Sach- 
verständige zu vernehmen und die Ergebnisse zu 
gerichtlichem Protokoll zu beurkunden. Was den 
Angeschuldigten selbst anlangt, somuß seine Ver- 
nehmung stattfinden, auch wenn sie im Vorver- 
fahren bereits stattgehabt hat. Daß der Unter- 
suchungsrichter die Verpflichtung hat, alles, was 
zur Beseitigung der gegen den Beschuldigten vor- 
liegenden Verdachtsgründe dienen kann, ebenfalls 
zu beachten, braucht nicht nochmals betont zu 
werden. Zu diesem Zweck ist es unerläßlich, daß 
dem Beschuldigten Kenntnisnahme gewisser Pro- 
zeßvorgänge (Partei-Offentlichkeit) ermöglicht und 
Gelegenheit gegeben wird, sich zu verteidigen und 
Anträge zu stellen. Die Tätigkeit des Unter- 
suchungsrichters ist also im wesentlichen diejenige, 
welche auch der Richter im gemeinrechtlichen In- 
quisitionsprozeß hatte, nur daß der Untersuchungs- 
richter nicht formell mit der endgültigen Entschei- 
dung befaßt wird; in Inzidententscheidungen da- 
gegen seine Unparteilichkeit zu bewähren, fehlt es 
ihm nicht an Gelegenheit. In Bezug auf diese 
Entscheidungen steht er vollständig frei; er ist 
einerseits nicht als Abgeordneter des Gerichts auf- 
zufassen, der unter des letzteren allgemeiner Leitung 
und Aufsicht zu handeln habe, anderseits ist er 
nicht einmal berechtigt, die Entscheidung des Ge- 
richts über ihm zweifelhafte Fragen einzuholen 
mit der Wirkung, daß diese Entscheidung an 
Stelle seiner eignen hinausgeht. Nur gewisse 
Gegenstände sind auch während des Laufs einer 
Voruntersuchung der Beschlußfassung des Gerichts 
vorbehalten; im übrigen kommt die letztere nur in 
Frage auf Grund von Einzelbeschwerden gegen 
Verfügungen des Untersuchungsrichters. — Auch 
darin ähnelt die Voruntersuchung dem gemein- 
rechtlichen Inquisitionsverfahren, daß sie nicht 
öffentlich und schriftlich geführt wird. 
  
  
Strafprozeß. 
  
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Erachtet der Untersuchungsrichter den Zweck 
der Voruntersuchung für erreicht, so schließt er 
dieselbe, benachrichtigt dann den Angeschuldigten 
und übersendet die Akten der Staatsanwaltschaft 
zur Stellung ihrer Anträge. 
2. Das Hauptverfahren. Auch nach 
Schluß der Voruntersuchung muß die Staats- 
anwaltschaft, wenn sie die Eröffnung des Haupt- 
verfahrens beabsichtigt, ebenso wie in dem Fall, 
daß eine Voruntersuchung nicht stattgefunden, eine 
Anklageschrift einreichen. Es wird die Anklage- 
schrift dem Angeschuldigten zur Erklärung zu- 
gestellt, und darauf beschließt das Gericht — je 
nachdem es schöffengerichtliche oder land= und 
schwurgerichtliche oder reichsgerichtliche Sachen 
sind, der Amtsrichter, eine Strafkammer des Land- 
gerichts oder der erste Senat des Reichsgerichts —, 
ob das Hauptverfahren zu eröffnen oder der An- 
geschuldigte außer Verfolgung zu setzen sei, oder 
ob das Verfahren vorläufig einzustellen sei, letz- 
teres z. B. wegen eingetretener Geisteskrankheit 
des Angeschuldigten. Für Schöffengerichtssachen 
kommen unter gewissen Voraussetzungen Verein- 
fachungen vor. 
Wenn der Angeschuldigte „hinreichend ver- 
dächtig“ erscheint, so beschließt das Gericht die 
Eröffnung des Hauptverfahrens mittels eines for- 
mellen Beschlusses, aus dem die dem Angeklagten 
zur Last gelegte Tat unter Hervorhebung ihrer 
gesetzlichen Merkmale und des anzuwendenden 
Strafgesetzes hervorgehen und welcher das Gericht 
bezeichnen muß, vor dem die Hauptverhandlung 
stattfinden soll. Diesen Beschluß kann der An- 
geklagte nicht anfechten; gegen den die Eröffnung 
ablehnenden Beschluß kann die Staatsanwaltschaft 
Beschwerde einlegen. Ist einmal die Eröffnung 
des Hauptverfahrens durch einen nicht mehr an- 
fechtbaren Beschluß abgelehnt, so kann die Klage 
nur auf Grund neuer Tatsachen und Beweis- 
mittel wieder ausgenommen werden. 
Nunmehr ist die Hauptverhandlung vorzu- 
bereiten. Der Vorsitzende des Gerichts setzt den 
Termin dafür an, die Staatsanwaltschaft ladet 
den Angeklagten und die Zeugen usw. und schafft 
die sonstigen Beweismittel herbei. Auf etwaige 
Anträge des Angeklagten ladet der Vorsitzende 
weitere Zeugen usw. Lehnt der letztere solche An- 
träge ab, so kann der Angeklagte selbständig Be- 
weismittel herbeischaffen, wozu er auch ohnehin 
berechtigt ist. 
Die nun folgende Hauptverhandlung ist 
der Hauptbestandteil nicht bloß des Hauptver- 
fahrens, sondern des ganzen Strafprozesses; 
alles, was bis dahin geschehen, ist nur Vorberei- 
tung; in der Hauptverhandlung fällt die Ent- 
scheidung. Die Einführung der Hauptverhand- 
lung ist das Hauptergebnis der Reformen des 
vorigen Jahrhunderts; sie bringt die Grundsätze 
der Offentlichkeit, Mündlichkeit und Unmittelbar- 
keit zur Durchführung. Sie ist nicht eine rekapi- 
tulierende Schluß erhandlung, so daß sie in
	        
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