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ziele dieser Entwürfe sind folgende: Als Gerichte
erster Instanz sollen labgesehen von dem Reichs-
gericht, das nicht berührt wird) 1) Schwurgerichte
in ihrer bisherigen Gestalt, 2) die Strafkammern
in der Hauptverhandlung in der Besetzung mit
zwei Berufsrichtern und drei Schöffen, 3) die
Amtsgerichte, und zwar für die kleinsten Sachen
in der Besetzung mit dem Amtsrichter allein, im
übrigen in der Hauptverhandlung mit einem
Richter und zwei Schöffen (unter Wegfall der Be-
zeichnung „Schöffengericht“) fungieren. Es soll
nicht bloß gegen die Urteile der Amtsgerichte, son-
dern auch gegen die der Strafkammern Berufung
zugelassen sein. Zur Entscheidung über diese ist
die Mitwirkung von Laien nicht in Aussicht ge-
nommen; es sollen vielmehr als Gerichte zweiter
Instanz entscheiden 1) die mit drei Berufsrichtern
besetzte Strafkammer über Berufungen gegen die
von den Amtsgerichten mit oder ohne Schöffen
erlassenen Urteile, 2) die mit fünf Berufsrichtern
besetzten Berufungssenate über Berufungen gegen
die von den Strafkammern in erster Instanz er-
lassenen Urteile. Die Berufungssenate sollen nicht
bei den Oberlandesgerichten, sondern wie auch die
Berufungskammern bei den Landgerichten gebildet
werden. Den Landesjustizverwaltungen ist dabei
nachgelassen, zu den Berufungssenaten zwei Mit-
glieder des übergeordneten Oberlandesgerichts ab-
zuordnen. Die sachliche Zuständigkeit der Schwur-
gerichte und Strafkammern soll eingeschränkt, die
der Amtsgerichte dagegen erweitert, namentlich
die Zuständigkeit des ohne Schöffen verhandelnden
Amtsrichters auf sämtliche Ubertretungen und eine
Anzahl geringerer Vergehen festgestellt werden.
In Bezug auf das Legalitätsprinzip werden Ein-
schränkungen nach zwei Richtungen vorgeschlagen.
Einmal soll der unbedingte Zwang zur Verfol-
gung durch den Staatsanwalt überhaupt beseitigt
werden bei Delikten, die in jugendlichem Alter
(von 12 bis 18 Jahren) begangen werden, wenn
Erziehungs= und Besserungsmaßregeln der Be-
strafung vorzuziehen sind, und sodann, wenn auch
nicht ganz unbeschränkt, in Sachen, die vor den
Amtsgerichten ohne Schöffen zu verhandeln sind,
sofern die Verfolgung des Verdächtigen wegen
Geringfügigkeit der Verfehlung nicht geboten er-
scheint. Mittelbar wird außerdem der Verfolgungs-
zwang durch eine Ausdehnung des HKreises der
Privatklagedelikte, z. B. auf Hausfriedensbruch,
gefährliche Körperverletzung, eingeschränkt. Einen
wesentlichen Punkt der Reform bildet die Besser-
stellung des Beschuldigten und des Verteidigers.
Auch ist die Anwendung der Untersuchungshaft
erschwert, indem der Kreis der Sachen, in denen
die Haft nur wegen Fluchtgefahr und nur unter
erschwerten Voraussetzungen verhängt werden darf,
erweitert ist. Dazu wird durch besondere Vor-
schriften darauf hingewirkt, daß der Fluchtverdacht
einer gründlichen Prüfung und Begründung nicht
entbehrt. Um zu vermeiden, daß ein Zeuge in
schwere Konflikte mit andern Pflichten gerät, sind
Strafprozeß.
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Vorschläge gemacht, welche die bestehende Pflicht
zur Ablegung des Zeugnisses, zur Beeidigung
desselben und das bei unberechtigter Verweigerung
des Zeugnisses eintretende Zwangsverfahren mil-
dern. Namentlich wird dem Redakteur, Verleger
und Drucker einer periodischen Druckschrift sowie
dem technischen Personal unter gewissen Voraus-
setzungen ein weitgehendes Recht zur Zeugnis-
verweigerung eingeräumt. Um das Übermaß der
Eidesleistungen einzuschränken und die Bedeutung
des Eides zu heben, werden die Fälle vermehrt, in
denen ein Zeuge unbeeidigt bleiben kann, und wird
im allgemeinen dem Ermessen des Richters in Be-
zug auf die Zeugenvereidigung ein weiter Spiel-
raum eröffnet, auch statt des Voreides der Nacheid
vorgeschlagen. Besondere Vorschriften sollen die
Beschleunigung des Verfahrens im allgemeinen
herbeiführen und in bestimmten Fällen ein eigens
konstruiertes sog. schleuniges Verfahren ermög-
lichen. Denselben Zweck verfolgt die Ausdehnung
des Strafbefehlsverfahrens. Endlich sind ein-
gehende Vorschriften über das Verfahren gegen
Jugendliche (im Alter von 12 bis 18 Jahren)
dem Zweck gewidmet, die Jugendlichen möglichst
vor den mit einem Strafverfahren verbundenen
Schäden zu bewahren. Deswegen ist, wie oben
bemerkt, in Bezug auf sie das Legalitätsprinzip
eingeschränkt und der Staatsanwalt angewiesen,
zutreffendenfalls die Sache an die Vormundschafts-
behörde abzugeben. Aber auch wenn die Staats-
anwaltschaft Anklage erhebt, soll der Richter unter
der gleichen Voraussetzung wie oben die Sache
ebenfalls noch an die Vormundschaftsbehörde ab-
geben können, statt zur Strafe zu verurteilen. Für
die Verhandlung gegen Jugendliche aber sollen
bei den Amtsgerichten besondere Abteilungen
(Jugendgerichte) gebildet werden, deren Zustän-
digkeit eine recht ausgedehnte sein soll. — Die
Gesetzentwürfe haben der unbestreitbaren Fort-
schritte wegen, die sie enthalten, neben absprechen-
den Kritiken im einzelnen, im allgemeinen eine
gute Aufnahme in der Offentlichkeit und in den
Verhandlungen des Reichstags gefunden. Im
letzteren haben sie eine eingehende Kommissions-
beratung und in dieser manche bedeutsame Ande-
rung erfahren. Die Verhandlungen des Reichs-
tagsplenums haben noch nicht stattgefunden, so
daß angesichts der mannigfachen Streitpunkte
zwischen Bundesratsvorlage und Kommissions-
beschlüssen über das Zustandekommen der Reform
zurzeit noch nichts Bestimmtes vorausgesagt wer-
den kann.
Literatur. Die Enzyklopädien der Rechtswissen-
schaft von Birkmeyer (S.recht von v. Lilienthal)
u. v. Holtzendorff (Strafprozeß von John); die
Kommentare der S.ordnung von Daude u. Löwe;
die Lehrbücher: Bennecke, Lehrbuch des deutschen
Reichsstrafprozeßrechts; Glaser, Handbuch des Ses;
Rintelen, Der S. Zahlreiche Aufsätze über einzelne
einschlägige Fragen, namentlich auch in betreff der
Reformierung des S.es enthalten die Deutsche
Juristenzeitung (Berlin, Liebmann) Goltdam-