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lassen. Erst allmählich werden solche Übeltaten
auch als eine Störung des gemeinen Friedens
aller angesehen; dann tritt neben die Selbsthilfe
und Blutrache und später an die Stelle derselben
das staatliche Strafrecht.
#3. Diesen Entwicklungsgang hat im allgemeinen
auch das römische Strafrecht genommen. Landes-
verrat und Tötung eines Stammesgenossen (per-
duellio und parricidium) sind die ersten im alt-
römischen Strafrecht als gemeine Verbrechen be-
trachtete Ubeltaten. Daneben werden schon zur
Königszeit Mißhandlungen der Eltern, Verletzung
der Heiligtümer, Vergehungen gegen Acker und
Felder (z. B. Grenzsteinverrückung), Brandstif-
tung u. a. mit öffentlicher Strafe bedroht. Als
Strafe steht neben der Todesstrafe und Wieder-
vergeltung (Talion) die Ausstoßung aus der reli-
giösen Gemeinschaft, die Verfluchung und Preis-
gabe des Frevlers an die Privatrache jedes Bürgers
im Vordergrund. Aus der hieraus sich ergebenden
Rätlichkeit der Flucht entstand dann die auch dem
späteren römischen Recht eigentümlich gebliebene
Befugnis des Verbrechers, durch Selbstverbannung
sich jeder staatlichen Bestrafung entziehen zu können.
Allmählich erst wird das Strafrecht auch auf andere
nach unsern heutigen Anschauungen als strafbar
anzusehende Handlungen erstreckt. Das geschieht
aber stets bloß gelegentlich und meist veranlaßt
durch die Uberhandnahme von Vergehungen der
betreffenden Art. Die Form dafür ist ein Spezial-
gesetz, in welchem neben der Feststellung der den
Tatbestand des Verbrechens ausmachenden Merk-
male zugleich das Verfahren vor der quagestio
(vogl. d. Art. Strafprozeß) geregelt wird. In
weitem Umfang blieben die Angriffe auf die per-
sönlichen Lebensinteressen (Privatdelikte im Gegen-
satz zu den öffentlichen Delikten) der Verfolgung
von seiten des Verletzten im Weg der auf Geld-
strafe gerichteten Pönalklage vor den Zivilgerich-
ten überlassen. Dem römischen Strafrecht eigen-
tümlich ist das Vorherrschen des subjektiven Ele-
ments in der Behandlungsweise der Verbrechen.
Der verbrecherische Wille ist das Hauptaugenmerk
des Rechts; daher die strenge Bestrafung des Ver-
suchs, dergestalt, daß nach manchen Gesetzen der
irgendwie tatsächlich hervorgetretene verbrecherische
Wille schon wie das vollendete Verbrechen bestraft
wird. Aber äußerlich wie innerlich stellt sich das
römische Strafrecht infolge der Entstehungsart der
einzelnen Gesetze als ein zusammenhang= und
Strafrecht.
spstemloses Recht dar, das hinter dem römischen
Zivilrecht weit zurücksteht. 1
4. Ganz abweichend von dem vorerwähnten
Prinzip zieht das germanische Strafrecht die
subjektive Seite des Verbrechens gar nicht in Be- 1
tracht. Es sieht nicht auf die innere Schuld, son-
dern nur auf den äußern Erfolg. Demgemäß
straft es den Versuch gar nicht oder nur ganz
milde, die bloß kulpose Schädigung aber schwer
je nach dem Erfolg. Das hängt mit dem ihm
eigentümlichen Kompositionensystem zusammen.
T
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Anfänglich erblickte es, wie alle Rechte, nur aus-
nahmsweise, und zwar fast nur, wenn es sich um
militärische Verbrechen handelte, das Gemein-
wesen durch eine Ubeltat mitverletzt; zunächst sah
es in einer solchen nur einen Angriff auf den ein-
zelnen, den dieser und seine Sippe durch Privat-
rache, Fehde, zu ahnden berechtigt und verpflichtet
ist. Wollte der Verletzte auf die Privatrache ver-
zichten, so konnte er die ihm zur Privatfühne zu-
stehende compositio oder Buße von den Volks-
gerichten fordern. Über die Höhe dieser compo-
sitio bestanden in den Volksrechten Taxen, die
oft so genau waren, daß „man die gesetzlichen
Bußen für Verletzungen nach der Länge, Breite
und Tiefe der Wunden berechnen kann“. Bei
einem solchen System mußte die innere Schuld, der
verbrecherische Wille, vollständig in den Hinter-
grund treten. Neben der compositio mußte der
Verbrecher auch an das Gemeinwesen zur öffent-
lichen Sühne das Friedensgeld, das sog. Frecum
oder die Wedde zahlen. Der Fortschritt im Straf-
recht in der Richtung, daß im Verbrechen mehr
und mehr eine Verletzung des gemeinen Friedens
aller zu erblicken ist, macht sich darin geltend, daß
allmählich die Rechtsbücher die Wedde stärker be-
tonen und die private Buße zurücktreten lassen.
5. Im völligen Gegensatz hierzu steht wieder
das kanonische Strafrecht. Während das ger-
manische Strafrecht nur die äußere Seite des Ver-
brechens erfaßte, wendete das kanonische Recht sein
Augenmerk gerade der innern Seite zu. Der in
ihm verkörperte sittliche Geist des Christentums
faßte das Verbrechen von dem Gesichtspunkt der
Sünde gegen Gott auf, und mit Notwendigkeit
mußte das kanonische Recht demnach hauptsächlich
auf den verbrecherischen Willen sehen. Es tut das
auch, und zwar mit einer Konsequenz, die offen-
sichtlich zu weit geht. So heißt es z. B. in can. 29
de poenit.: Wenn du nur aus Furcht einen
Diebstahl unterlässest, so hast du ihn dennoch
innerlich begangen. Immerhin liegt hierin aber
gegenüber der rohen germanischen Auffassung die
Aufstellung eines richtigen Prinzips. Es ergeben
sich aber auch außerdem noch unmittelbar aus der
kirchlichen Auffassung gewaltige Fortschritte auf
strafrechtlichem Gebiet. Zunächst ist im kanonischen
Strafrecht kein Raum mehr für die dem germa-
nischen Recht eigne privatrechtliche Behandlung
des Verbrechens; da ja eine Verfehlung gegen
Gott vorliegt, so muß sie auch als eine solche ge-
sühnt werden. Es tritt öffentliche Sühne ein, aber
Sühne im Geist der Kirche, und die Kirche will
nicht, daß der Sünder sterbe, sondern daß er lebe,
bereue und sich bessere; infolgedessen tritt an die
Stelle der Abzahlung die bessernde Pönitenz.
Blutige Strafen, Todesstrafe und Verstümme-
lungen werden von der Kirche verabscheut. Und
endlich folgt aus der kirchlichen Auffassung des
Verbrechens als Verfehlung vor Gott, vor dem
alle Menschen gleich sind, die vom kanonischen
Recht ebenfalls in starkem Gegensatz zum germa-