Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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dessen, was unser Recht unter mildernden Um- 
ständen begriffen wissen will, muß mit Notwendig- 
keit zu einer ungleichmäßigen Auffassung und 
Anwendung der mildernden Umstände führen, die 
als Willkürlichkeit in die äußere Erscheinung tritt 
und als Ungerechtigkeit im einzelnen Fall emp- 
funden wird. Dazu kommt dann noch, daß das 
Gesetz bei einzelnen Delikten mildernde Umstände 
als Strafherabsetzungsgründe gelten läßt, bei 
andern nicht, während hier die nämlichen Um- 
stände durchaus zutreffen können. 
Auf den unbefriedigenden Zustand der Gesetz- 
gebung über den Versuch ist oben bereits in An- 
sehung eines bestimmten Punktes hingewiesen. 
Während im allgemeinen der Standpunkt des 
Gesetzes, daß der Versuch milder zu bestrafen ist 
als das vollendete Verbrechen, zu billigen ist, ist 
die Frage des untauglichen Versuchs, d. h. die 
Frage, ob ein mit untauglichen Mitteln oder am 
untauglichen Objekt vorgenommener Versuch zu 
strafen ist, gesetzlicher Reglung dringend bedürftig. 
Auch auf eine andere Behandlung der Teil- 
nahme, des Zusammentreffens mehrerer strafbarer 
Handlungen und des Rückfalls richten sich die 
Revisionsbestrebungen. Für den Rückfall insbe- 
sondere scheinen sie begründet. Der Rückfall gilt 
im geltenden Recht nur für einzelne bestimmt be- 
zeichnete Verbrechen als Strafschärfungsgrund 
(z. B. Diebstahl, Raub, Hehlerei, Betrug) und 
das nur dann, wenn es sich um ein gleiches oder 
gleichartiges Verbrechen handelt. Nach beiden 
Richtungen dürfte eine Anderung der Gesetzgebung 
am Platz sein, und zwar daß auch der ungleich- 
artige Rückfall unter härtere Strafe gestellt und 
der Strafrahmen bei dem gleichartigen Rückfall 
nach unten erweitert wird. 
Sehr weit gehen die Revisionsforderungen in 
Ansehung des Strafensystems. Auf das Verlangen 
der Abschaffung der Todesstrafe, der Festungs- 
haft, der kurzen Freiheitsstrafe und der letzteren 
Ersetzung durch Zwangsarbeit ohne Einsperrung. 
Ehrenstrafen, Prügelstrafe, ferner auf die Ein- 
führung der bedingten Verurteilung oder bedingten 
Begnadigung kann nur hingewiesen werden. Durch- 
aus unbefriedigend ist auch der Zustand der Gesetz- 
gebung in Ansehung der Geldstrafe, die bei ihrer 
zeitigen Reglung namentlich dem Grundsatz, daß 
die Strafe möglichst mit gleicher Schwere die 
verschiedenen Verbrecher treffe, durchaus nicht ge- 
recht wird. Die Schwierigkeiten in betreff ihrer 
Reglung und richtigen Bemessung sind indessen 
sehr große. 
Unzählig endlich sind die Verbesserungen, die 
für den besondern Teil des Strasgesetzbuchs ge- 
sordert werden. Insbesondere ist in dieser Rich- 
tung zweier Bestrebungen Erwähnung zu tun. 
Die eine betrifft die Einarbeitung der sog. straf- 
rechtlichen Nebengesetze und der sonstigen außer- 
halb des Strafgesetzbuchs bestehenden strafrecht- 
lichen Bestimmungen in das Strafgesetzbuch, auf 
deren große Zahl bereits oben hingewiesen wurde. 
Strafrecht. 
  
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Die andere verlangt, daß in dem Strafgesetzbuch 
nur das reine kriminelle Strafrecht Aufnahme 
finde, das sog. polizeiliche und verwaltungsrecht- 
liche aber ausgeschieden und abgesondert geregelt 
werde. Es ist hier nicht der Ort, näher auf diese 
Wünsche einzugehen und die Unmöglichkeit, sie zu 
erfüllen, darzutun. Nur das mag bemerkt sein, 
daß es an einem sichern und unangefochtenen 
Begriff des polizeilichen Unrechts und einer klaren 
Unterscheidung zwischen ihm und dem kriminellen 
Unrecht fehlt, und daß schon aus diesem Grund 
jene Scheidung vorzunehmen unmöglich ist. 
Nicht auf eine bloße Revision unseres Straf- 
gesetzbuchs, die, so zahlreich und in mancher Be- 
ziehung grundsätzlich auch die Forderungen sein 
mögen, doch immer keine grundstürzende sein soll, 
vielmehr auf eine völlige, auf ganz neue Grund- 
lagen aufgebaute Umgestaltung unseres Straf- 
rechts zielen die kriminalanthropologische und die 
kriminalsoziologische Schule (s. d. Art. Strafe und 
Strafrechtstheorien). Vor allem erfordert deren 
von dem bestehenden Recht völlig abweichende An- 
schauung über die Zurechnungsfähigkeit (s. diesen 
Art.) eine gänzliche Neugestaltung der allgemeinen 
Bestimmungen des Strafgesetzbuchs auf ganz 
neuer Grundlage. 
Zu einer vollständigen neuen Bearbeitung 
unseres Strafgesetzbuchs sind von dem Reichs- 
justizamt bereits einleitende Schritte getan. Am 
1. Mai 1906 trat auf seine Veranstaltung eine 
Kommission von praktischen Juristen mit dem Auf- 
trag zusammen, einen formulierten Vorentwurf zu 
einem neuen deutschen Strafgesetzbuch nebst Be- 
gründung auszuarbeiten. Die Kommission hat 
diese Aufgabe erledigt. Die Arbeit gilt nicht als 
amtliche; weder die einzelnen Bundesregierungen 
noch das Reichsjustizamt haben zu ihren Resul- 
taten amtlich Stellung genommen. Sie ist aber 
der öffentlichen Beurteilung unterbreitet worden. 
Der von der Kommission vorgelegte Entwurf will 
in Anknüpfung an das historisch Gewordene das 
allgemeine Strafrecht auf diejenige Stufe heben, 
die nach den jetzt herrschenden Uberzeugungen als 
die nächst höhere anzusehen ist, aber auf Neue- 
rungen verzichten, die nicht erprobt sind. Er ver- 
tritt deshalb auch nicht den Standpunkt einer 
bestimmten wissenschaftlichen Nichtung und nimmt 
namentlich in dem Streit der sog. modernen mit 
der sog. klassischen Schule (vgl. d. Art. Strase und 
Strafrechtstheorien) keine ausschließliche Stellung 
ein. Im allgemeinen sleht er zwar auf dem Boden 
der klassischen Schule, macht aber der modernen 
Schule verschiedene Zugeständnisse, so z. B. in 
Vorschlägen, die auf Einführung der sog. „be- 
dingten Verurteilung“, bedingter Strafaufschub 
genannt, und verschiedener sog. „sichernder Maß- 
nahmen“ gerichtet sind, welche sich aus dem Ver- 
gellungsgedanken allein nicht rechtfertigen lassen, 
sondern auf Prävention abzielen. Der Entwurf 
will sodann seine Bestimmungen elastischer ge- 
stalten, als es das geltende Strafgesetzbuch getan
	        
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