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dessen, was unser Recht unter mildernden Um-
ständen begriffen wissen will, muß mit Notwendig-
keit zu einer ungleichmäßigen Auffassung und
Anwendung der mildernden Umstände führen, die
als Willkürlichkeit in die äußere Erscheinung tritt
und als Ungerechtigkeit im einzelnen Fall emp-
funden wird. Dazu kommt dann noch, daß das
Gesetz bei einzelnen Delikten mildernde Umstände
als Strafherabsetzungsgründe gelten läßt, bei
andern nicht, während hier die nämlichen Um-
stände durchaus zutreffen können.
Auf den unbefriedigenden Zustand der Gesetz-
gebung über den Versuch ist oben bereits in An-
sehung eines bestimmten Punktes hingewiesen.
Während im allgemeinen der Standpunkt des
Gesetzes, daß der Versuch milder zu bestrafen ist
als das vollendete Verbrechen, zu billigen ist, ist
die Frage des untauglichen Versuchs, d. h. die
Frage, ob ein mit untauglichen Mitteln oder am
untauglichen Objekt vorgenommener Versuch zu
strafen ist, gesetzlicher Reglung dringend bedürftig.
Auch auf eine andere Behandlung der Teil-
nahme, des Zusammentreffens mehrerer strafbarer
Handlungen und des Rückfalls richten sich die
Revisionsbestrebungen. Für den Rückfall insbe-
sondere scheinen sie begründet. Der Rückfall gilt
im geltenden Recht nur für einzelne bestimmt be-
zeichnete Verbrechen als Strafschärfungsgrund
(z. B. Diebstahl, Raub, Hehlerei, Betrug) und
das nur dann, wenn es sich um ein gleiches oder
gleichartiges Verbrechen handelt. Nach beiden
Richtungen dürfte eine Anderung der Gesetzgebung
am Platz sein, und zwar daß auch der ungleich-
artige Rückfall unter härtere Strafe gestellt und
der Strafrahmen bei dem gleichartigen Rückfall
nach unten erweitert wird.
Sehr weit gehen die Revisionsforderungen in
Ansehung des Strafensystems. Auf das Verlangen
der Abschaffung der Todesstrafe, der Festungs-
haft, der kurzen Freiheitsstrafe und der letzteren
Ersetzung durch Zwangsarbeit ohne Einsperrung.
Ehrenstrafen, Prügelstrafe, ferner auf die Ein-
führung der bedingten Verurteilung oder bedingten
Begnadigung kann nur hingewiesen werden. Durch-
aus unbefriedigend ist auch der Zustand der Gesetz-
gebung in Ansehung der Geldstrafe, die bei ihrer
zeitigen Reglung namentlich dem Grundsatz, daß
die Strafe möglichst mit gleicher Schwere die
verschiedenen Verbrecher treffe, durchaus nicht ge-
recht wird. Die Schwierigkeiten in betreff ihrer
Reglung und richtigen Bemessung sind indessen
sehr große.
Unzählig endlich sind die Verbesserungen, die
für den besondern Teil des Strasgesetzbuchs ge-
sordert werden. Insbesondere ist in dieser Rich-
tung zweier Bestrebungen Erwähnung zu tun.
Die eine betrifft die Einarbeitung der sog. straf-
rechtlichen Nebengesetze und der sonstigen außer-
halb des Strafgesetzbuchs bestehenden strafrecht-
lichen Bestimmungen in das Strafgesetzbuch, auf
deren große Zahl bereits oben hingewiesen wurde.
Strafrecht.
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Die andere verlangt, daß in dem Strafgesetzbuch
nur das reine kriminelle Strafrecht Aufnahme
finde, das sog. polizeiliche und verwaltungsrecht-
liche aber ausgeschieden und abgesondert geregelt
werde. Es ist hier nicht der Ort, näher auf diese
Wünsche einzugehen und die Unmöglichkeit, sie zu
erfüllen, darzutun. Nur das mag bemerkt sein,
daß es an einem sichern und unangefochtenen
Begriff des polizeilichen Unrechts und einer klaren
Unterscheidung zwischen ihm und dem kriminellen
Unrecht fehlt, und daß schon aus diesem Grund
jene Scheidung vorzunehmen unmöglich ist.
Nicht auf eine bloße Revision unseres Straf-
gesetzbuchs, die, so zahlreich und in mancher Be-
ziehung grundsätzlich auch die Forderungen sein
mögen, doch immer keine grundstürzende sein soll,
vielmehr auf eine völlige, auf ganz neue Grund-
lagen aufgebaute Umgestaltung unseres Straf-
rechts zielen die kriminalanthropologische und die
kriminalsoziologische Schule (s. d. Art. Strafe und
Strafrechtstheorien). Vor allem erfordert deren
von dem bestehenden Recht völlig abweichende An-
schauung über die Zurechnungsfähigkeit (s. diesen
Art.) eine gänzliche Neugestaltung der allgemeinen
Bestimmungen des Strafgesetzbuchs auf ganz
neuer Grundlage.
Zu einer vollständigen neuen Bearbeitung
unseres Strafgesetzbuchs sind von dem Reichs-
justizamt bereits einleitende Schritte getan. Am
1. Mai 1906 trat auf seine Veranstaltung eine
Kommission von praktischen Juristen mit dem Auf-
trag zusammen, einen formulierten Vorentwurf zu
einem neuen deutschen Strafgesetzbuch nebst Be-
gründung auszuarbeiten. Die Kommission hat
diese Aufgabe erledigt. Die Arbeit gilt nicht als
amtliche; weder die einzelnen Bundesregierungen
noch das Reichsjustizamt haben zu ihren Resul-
taten amtlich Stellung genommen. Sie ist aber
der öffentlichen Beurteilung unterbreitet worden.
Der von der Kommission vorgelegte Entwurf will
in Anknüpfung an das historisch Gewordene das
allgemeine Strafrecht auf diejenige Stufe heben,
die nach den jetzt herrschenden Uberzeugungen als
die nächst höhere anzusehen ist, aber auf Neue-
rungen verzichten, die nicht erprobt sind. Er ver-
tritt deshalb auch nicht den Standpunkt einer
bestimmten wissenschaftlichen Nichtung und nimmt
namentlich in dem Streit der sog. modernen mit
der sog. klassischen Schule (vgl. d. Art. Strase und
Strafrechtstheorien) keine ausschließliche Stellung
ein. Im allgemeinen sleht er zwar auf dem Boden
der klassischen Schule, macht aber der modernen
Schule verschiedene Zugeständnisse, so z. B. in
Vorschlägen, die auf Einführung der sog. „be-
dingten Verurteilung“, bedingter Strafaufschub
genannt, und verschiedener sog. „sichernder Maß-
nahmen“ gerichtet sind, welche sich aus dem Ver-
gellungsgedanken allein nicht rechtfertigen lassen,
sondern auf Prävention abzielen. Der Entwurf
will sodann seine Bestimmungen elastischer ge-
stalten, als es das geltende Strafgesetzbuch getan