Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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hat, und somit dem Ermessen des Richters einen 
größeren Spielraum gewähren, wie es dem Ent- 
wicklungsgang der Gesetzgebung im allgemeinen 
und der fast einstimmigen Forderung der Wissen- 
schaft entspricht, ohne in das Gegenteil, die Ge- 
währung zu großer Ungebundenheit an den Richter, 
zu verfallen. Das gilt insbesondere für die Straf- 
bemessung durch die Einführung eines Straf- 
milderungsrechts in „besonders leichten Fällen“ 
bzw. einer Strafverstärkung in „besonders schweren 
Fällen“. Im übrigen ist an der bisherigen Drei- 
teilung der strafbaren Handlungen in Verbrechen, 
Vergehen und Ubertretungen, sowie an dem bis- 
herigen Strafensystem, wenngleich hier mit nicht 
unerheblichen Veränderungen, festgehalten. — 
Nachdem die Kritik sich über den Vorentwurf aus- 
gesprochen, ist im Herbst 1910 eine neue Kom- 
mission zusammenberufen worden, die nunmehr 
einen demnächst dem Bundesrat vorzulegenden Ent- 
wurf eines neuen Strafgesetzbuchs auszuarbeiten 
betraut ist. « 
Literatur. Die Enzyklopädien der Rechtswissen- 
schaft von Birkmeyer u. v. Holtzendorff, speziell 
in ersterer: Das S. von Karl Birkmeyer, in letz- 
terer: Das S. von A. Geyer, ergänzt von Merkel. 
Handbuch des deutschen S.s, in Einzelbeiträgen, 
hrsg. von Fr. v. Holtzendorff, dgl. von v. Bar. 
Berner, Lehrbuch des deutschen S.3s; Binding, 
Handbuch des deutschen S.s; v. Liszt, Lehrbuch des 
deutschen S.s. — Kommentare zum Reichsstraf- 
gesetzbuch: Oppenhoff-Delius, Olshausen, Daude, 
Dalcke. — Vorentwurf zu einem deutschen Straf- 
gesetzbuch (1909); Köster, Reformfragen des S.3 
(1903); Seuffert, Ein neues Strafgesetzbuch (1902). 
— Goltdammers Archiv für gemeines deutsches u. 
für preuß. S.; Zeitschrift für die gesamte Straf- 
rechtswissenschaft; Mitteilungen der internationalen 
kriminalistischen Vereinigung; Strafrechtliche Ab- 
handlungen, hrsg. von (Bennecke u.) Beling. 
[Wellstein.] 
Strafvollzug s. Gefängniswesen (über De- 
portation vgl. Art. Kolonien und Kolonialpolitik 
Bd III, Sp. 314s). 
Strandrecht s. Seerecht. 
Straßenwesen s. Land- und Wasserstraßen. 
Streik und Aussperrung. ll. Begriff- 
liches und Allgemeines; II. Geschichte, Statistik, 
Erfolge; III. Generalstreik; IV. Sittliche Beurtei- 
lung der Streiks und Aussperrungen; V. Vorbeu- 
gung und Schlichtung.) 
I. Begriff und Allgemeines. Unter einem 
Streik (vom englischen strike = schlagen) ver- 
stehen wir das gleichzeitige und zeitweilige Ein- 
stellen der Lohnarbeit seitens mehrerer Arbeiter in 
der bestimmten Absicht, gewisse auf das Arbeits- 
verhältnis bezügliche Forderungen durchzusetzen. 
Unter Aussperrung (lockout) verstehen wir die 
gleichzeitige und zeitweilige Entlassung mehrerer 
oder aller Lohnarbeiter seitens eines oder verschie- 
dener Unternehmer, in der bestimmten Absicht, die 
Arbeiter zur Annahme der vom Unternehmer ge- 
wollten Arbeitsbedingungen zu bewegen. — Wir 
Strafvollzug — Streik ufw. 
  
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gewöhnlich verstanden wird: als Ausstand der 
Lohnarbeiter. Unter unsere Definition fallen nicht 
die Beamtenstreiks und Arztestreiks, die wegen der 
ganz verschiedenen sozialen und wirtschaftlichen 
Stellung der Träger dieser Bewegungen auch ganz 
anders zu beurteilen sind als Lohnarbeiterstreiks. 
Es fallen aber auch aus dem Rahmen unserer De- 
finition heraus die sog. Sympathiestreiks, die keine 
wirtschaftliche Besserstellung der Streikenden selbst 
bezwecken, sondern nur die Kampfstellung einer 
andern im Streik befindlichen Gruppe stärken 
sollen; ebenso die politischen Streiks, die zur Er- 
ringung politischer Vorteile unternommen werden. 
Wegen der großen Bedeutung jedoch, die den po- 
litischen Streiks in der neueren sozialistischen 
Literatur beigelegt wird, soll von ihnen in einem 
besondern Punkt die Rede sein. 
Streik und Aussperrung sind Mittel der wirt- 
schaftlichen Selbsthilfe. Was sie aber von andern 
derartigen Mitteln unterscheidet und ihr eigent- 
liches Wesen ausmacht, ist das beiden zugrunde 
liegende Hauptmotiv. Dies besteht darin, daß 
die Streikenden bzw. Aussperrenden durch Zwang 
die andere Partei nötigen wollen, auf ihre Wünsche 
und Forderungen einzugehen. Eine Reihe von 
Umständen, die von den Streikenden teils herbei- 
geführt teils abgewartet und ausgenutzt werden, 
soll den Arbeitgeber in eine ungünstige Lage 
bringen, daß er sich schließlich den Arbeitern will- 
fährig zeigt. Und genau so geht der Unternehmer 
bei der Aussperrung vor. Wenn Clausewitz vom 
Krieg sagt, er sei eine bloße Fortsetzung der Po- 
litik mit andern Mitteln, und zwar ein Akt der 
Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres 
Willens zu zwingen, so kann man ein Ahnliches 
von Streik und Aussperrung sagen. Die Be- 
des Arbeitsverhältnisses, die sonst durch 
Mittel geregelt werden, will die kämp- 
zwangsweise von der andern, wider- 
erzwingen. 
Die speziellen Motive, die Streiks und 
Aussperrungen veranlassen, betreffen die wirtschaft- 
liche und soziale Lage der Kämpfenden. Beim 
Streik stellen sie sich dar als die sog. Streikforde- 
rungen und lassen sich unter drei Gesichtspunkten 
gruppieren: Lohnfrage, Arbeitszeit, Arbeitsrecht. 
Weitaus die meisten Streiks werden um den Lohn 
geführt. Jedoch handelt es sich nicht immer um 
die Lohnhöhe, auch die Art der Entlöhnung (Zeit- 
oder Akkordlohn), Aufrechterhaltung, Einführung, 
Anderung von nationalen oder lokalen Lohntarifen 
spielen eine Rolle. Beschränkung der Arbeitszeit auf 
ein bestimmtes Maß, Einschränkung bzw. höhere 
Bewertung der Überzeitarbeit bilden meistens 
den Inhalt der sog. Zeitforderungen. Das Ver- 
langen der Arbeiter nach einer besseren Rechts- 
stellung findet seinen Ausdruck in den verschieden- 
sten Forderungen: Anerkennung des freien Koali- 
tionsrechts, insbesondere Anerkennung der Arbeiter- 
organisation als zuständiger Instanz für kollektive 
  
   
   
fassen hier den Streik in dem Sinn auf, wie er Abmachungen, die das Arbeitsverhältnis betreffen;
	        
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