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hat, und somit dem Ermessen des Richters einen
größeren Spielraum gewähren, wie es dem Ent-
wicklungsgang der Gesetzgebung im allgemeinen
und der fast einstimmigen Forderung der Wissen-
schaft entspricht, ohne in das Gegenteil, die Ge-
währung zu großer Ungebundenheit an den Richter,
zu verfallen. Das gilt insbesondere für die Straf-
bemessung durch die Einführung eines Straf-
milderungsrechts in „besonders leichten Fällen“
bzw. einer Strafverstärkung in „besonders schweren
Fällen“. Im übrigen ist an der bisherigen Drei-
teilung der strafbaren Handlungen in Verbrechen,
Vergehen und Ubertretungen, sowie an dem bis-
herigen Strafensystem, wenngleich hier mit nicht
unerheblichen Veränderungen, festgehalten. —
Nachdem die Kritik sich über den Vorentwurf aus-
gesprochen, ist im Herbst 1910 eine neue Kom-
mission zusammenberufen worden, die nunmehr
einen demnächst dem Bundesrat vorzulegenden Ent-
wurf eines neuen Strafgesetzbuchs auszuarbeiten
betraut ist. «
Literatur. Die Enzyklopädien der Rechtswissen-
schaft von Birkmeyer u. v. Holtzendorff, speziell
in ersterer: Das S. von Karl Birkmeyer, in letz-
terer: Das S. von A. Geyer, ergänzt von Merkel.
Handbuch des deutschen S.s, in Einzelbeiträgen,
hrsg. von Fr. v. Holtzendorff, dgl. von v. Bar.
Berner, Lehrbuch des deutschen S.3s; Binding,
Handbuch des deutschen S.s; v. Liszt, Lehrbuch des
deutschen S.s. — Kommentare zum Reichsstraf-
gesetzbuch: Oppenhoff-Delius, Olshausen, Daude,
Dalcke. — Vorentwurf zu einem deutschen Straf-
gesetzbuch (1909); Köster, Reformfragen des S.3
(1903); Seuffert, Ein neues Strafgesetzbuch (1902).
— Goltdammers Archiv für gemeines deutsches u.
für preuß. S.; Zeitschrift für die gesamte Straf-
rechtswissenschaft; Mitteilungen der internationalen
kriminalistischen Vereinigung; Strafrechtliche Ab-
handlungen, hrsg. von (Bennecke u.) Beling.
[Wellstein.]
Strafvollzug s. Gefängniswesen (über De-
portation vgl. Art. Kolonien und Kolonialpolitik
Bd III, Sp. 314s).
Strandrecht s. Seerecht.
Straßenwesen s. Land- und Wasserstraßen.
Streik und Aussperrung. ll. Begriff-
liches und Allgemeines; II. Geschichte, Statistik,
Erfolge; III. Generalstreik; IV. Sittliche Beurtei-
lung der Streiks und Aussperrungen; V. Vorbeu-
gung und Schlichtung.)
I. Begriff und Allgemeines. Unter einem
Streik (vom englischen strike = schlagen) ver-
stehen wir das gleichzeitige und zeitweilige Ein-
stellen der Lohnarbeit seitens mehrerer Arbeiter in
der bestimmten Absicht, gewisse auf das Arbeits-
verhältnis bezügliche Forderungen durchzusetzen.
Unter Aussperrung (lockout) verstehen wir die
gleichzeitige und zeitweilige Entlassung mehrerer
oder aller Lohnarbeiter seitens eines oder verschie-
dener Unternehmer, in der bestimmten Absicht, die
Arbeiter zur Annahme der vom Unternehmer ge-
wollten Arbeitsbedingungen zu bewegen. — Wir
Strafvollzug — Streik ufw.
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gewöhnlich verstanden wird: als Ausstand der
Lohnarbeiter. Unter unsere Definition fallen nicht
die Beamtenstreiks und Arztestreiks, die wegen der
ganz verschiedenen sozialen und wirtschaftlichen
Stellung der Träger dieser Bewegungen auch ganz
anders zu beurteilen sind als Lohnarbeiterstreiks.
Es fallen aber auch aus dem Rahmen unserer De-
finition heraus die sog. Sympathiestreiks, die keine
wirtschaftliche Besserstellung der Streikenden selbst
bezwecken, sondern nur die Kampfstellung einer
andern im Streik befindlichen Gruppe stärken
sollen; ebenso die politischen Streiks, die zur Er-
ringung politischer Vorteile unternommen werden.
Wegen der großen Bedeutung jedoch, die den po-
litischen Streiks in der neueren sozialistischen
Literatur beigelegt wird, soll von ihnen in einem
besondern Punkt die Rede sein.
Streik und Aussperrung sind Mittel der wirt-
schaftlichen Selbsthilfe. Was sie aber von andern
derartigen Mitteln unterscheidet und ihr eigent-
liches Wesen ausmacht, ist das beiden zugrunde
liegende Hauptmotiv. Dies besteht darin, daß
die Streikenden bzw. Aussperrenden durch Zwang
die andere Partei nötigen wollen, auf ihre Wünsche
und Forderungen einzugehen. Eine Reihe von
Umständen, die von den Streikenden teils herbei-
geführt teils abgewartet und ausgenutzt werden,
soll den Arbeitgeber in eine ungünstige Lage
bringen, daß er sich schließlich den Arbeitern will-
fährig zeigt. Und genau so geht der Unternehmer
bei der Aussperrung vor. Wenn Clausewitz vom
Krieg sagt, er sei eine bloße Fortsetzung der Po-
litik mit andern Mitteln, und zwar ein Akt der
Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres
Willens zu zwingen, so kann man ein Ahnliches
von Streik und Aussperrung sagen. Die Be-
des Arbeitsverhältnisses, die sonst durch
Mittel geregelt werden, will die kämp-
zwangsweise von der andern, wider-
erzwingen.
Die speziellen Motive, die Streiks und
Aussperrungen veranlassen, betreffen die wirtschaft-
liche und soziale Lage der Kämpfenden. Beim
Streik stellen sie sich dar als die sog. Streikforde-
rungen und lassen sich unter drei Gesichtspunkten
gruppieren: Lohnfrage, Arbeitszeit, Arbeitsrecht.
Weitaus die meisten Streiks werden um den Lohn
geführt. Jedoch handelt es sich nicht immer um
die Lohnhöhe, auch die Art der Entlöhnung (Zeit-
oder Akkordlohn), Aufrechterhaltung, Einführung,
Anderung von nationalen oder lokalen Lohntarifen
spielen eine Rolle. Beschränkung der Arbeitszeit auf
ein bestimmtes Maß, Einschränkung bzw. höhere
Bewertung der Überzeitarbeit bilden meistens
den Inhalt der sog. Zeitforderungen. Das Ver-
langen der Arbeiter nach einer besseren Rechts-
stellung findet seinen Ausdruck in den verschieden-
sten Forderungen: Anerkennung des freien Koali-
tionsrechts, insbesondere Anerkennung der Arbeiter-
organisation als zuständiger Instanz für kollektive
fassen hier den Streik in dem Sinn auf, wie er Abmachungen, die das Arbeitsverhältnis betreffen;