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über die Höchstgrenze hinausgehenden und darum
ungerechten Lohn nicht durchsetzen, dafür sorgt im
allgemeinen die höhere Machtstellung des Unter-
nehmers, wenigstens in der Großindustrie. Und
so können die Arbeiter auch auf andern Gebieten
weitgehende Forderungen stellen, wofern sie inner-
halb des von seiten des Arbeitgebers Erfüllbaren
sich halten. Freilich dürfen sie nicht, um diese
Forderungen durchzusetzen, vor Ablauf der ver-
tragsmäßig ausbedungenen Frist das Arbeitsver-
hältnis lösen; das wäre, da der Vertrag nichts
Ungerechtes enthält, Kontraktbruch. Wenn sie
aber nach Ablauf der Kündigungsfrist die Arbeit
gemeinsam niederlegen, um den Unternehmer für
ihre Wünsche zugänglich zu machen, so ist das
kein unberechtigtes oder unerlaubtes Mittel. —
Das allen Menschen ganz allgemein durch Natur-
gesetz obliegende Arbeitsgebot verpflichtet die Ar-
beiter nicht zu dieser bestimmten, bisher von ihnen
ausgeübten Arbeit; und es ist gar nicht aus-
geschlossen, daß sie sich während des Streiks ander-
weitige Beschäftigung suchen. Zudem scheint mit
dem allgemeinen Arbeitsgebot eine nur zeitweilige
Arbeitsunterbrechung, die lediglich zur Verbesse-
rung des Arbeitsverhältnisses unternommen wird,
wohl vereinbar. Ein Recht auf Ausnützung des
Kapitaleigentums wird nicht verletzt, weil ein
solches unabhängig vom Arbeitskontrakt nicht vor-
handen ist; wohl ist die Befugnis des Arbeit-
gebers zur Kapitalausnutzung anzuerkennen, aber
kein Recht im eigentlichen Sinn.
Der Gewinnverlust des Unternehmers und der
vielleicht noch obendrein entstehende positive Scha-
den hat allerdings seine Ursache in dem Ausstand.
Aber die Ausständigen sind durch keinerlei Rechts-
pflichten gehalten, diesen Schaden zu verhüten, und
anderseits haben sie, wie bei einem gerechten
Streik vorausgesetzt wird, wichtige Gründe genug,
diesen Schaden als Mittel zur Erreichung ihres
Zwecks entstehen zu lassen. Die Gerechtigkeit
gegenüber dem Arbeitgeber wird also nicht ver-
letzt. Ist aber ebenso auch das Gebot der Liebe
gewahrt? Die christliche Nächstenliebe verpflichtet
zu einer Tat der Hilfeleistung nur, wenn eine
wirkliche Notlage, und zwar eine bedeutende Not-
lage (gravis necessitas) des Nächsten vorliegt,
durch die es ihm unmöglich geworden ist, sich
selbst das zum Leben Notwendige zu beschaffen.
Daß nun infolge des Streiks eine derartige Not-
lage des Arbeitgebers vorliegt, kann allgemein
nicht behauptet werden. Die Nächstenliebe legt
daher auch den streikenden Arbeitern im allge-
meinen keine besondern Pflichten gegen den Arbeit-
geber auf. Eine Notlage der Arbeitgeber kann
aber in gewissen Fällen vorliegen: wenn z. B.
kleine Handwerksmeister, die nicht kapitalkräftig
sind und selbst einen schweren Konkurrenzkampf
gegen die Großbetriebe zu bestehen haben, infolge
eines Streiks vor den geschäftlichen Ruin gesiellt
sind. In einem solchen Fall müßte die christliche
Nächstenliebe die Arbeiter bewegen, vom Streik
Streik usw.
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abzustehen oder in den Streikforderungen wenig-
stens herabzugehen. — Aber fügt nicht aus dem
Grund jeder Streik dem Arbeitgeber ein Unrecht
zu, weil Zwang gegen ihn angewendet wird, indem
die Arbeiter durch Herbeiführung einer Notlage
ihn zu gewissen Entschließungen zwingen? Hier
läge ein Unrecht vor, wenn jeder Zwang, jedes
gewaltsame Vorgehen ungerecht und unerlaubt
wäre. Ein solches ist aber sicher erlaubt, wenn
zur Erreichung eines an sich billigen Zwecks
andere gütliche Mittel versagen. Daher, und auch
aus andern praktischen Gründen ist es Pflicht der
Arbeiter, zunächst durch Vorstelligwerden, Ver-
handlungen, Vermittlung dritter Personen beim
Arbeitgeber ihre Zwecke zu erreichen; erst wenn
alle diese Mittel versagen, dürfen sie Nötigung
anwenden und in den Ausstand treten, der stets,
wie der Krieg, die ultima ratio sein soll.
Das früher schon geschilderte Vorgehen der
streikenden Arbeiter gegen die Arbeitswilligen oder
Streikbrecher unterliegt naturgemäß auch der sitt-
lichen Beurteilung. Daß die Arbeiter im Inter-
esse des Streikerfolgs ernstlich bemüht sind, alle
Arbeitskräfte von den in Frage kommenden Be-
trieben fernzuhalten, ist sehr wohl begreiflich. Sie
tun auch an und für sich nichts Unrechtes, solang
sie keine gewaltsamen Mittel zur Anwendung
bringen. Sie dürfen also Streikposten aufstellen,
die ankommende Ersatzarbeiter von der gegen-
wärtigen Lage in Kenntnis setzen und sie in durch-
aus ruhiger, jede Belästigung und Drohung aus-
schließender Form von der Streikarbeit abzuhalten
suchen. Sie können unter dem Hinweis auf
Klassensolidarität die Betriebe bekannt geben, über
die seitens der Arbeiter die Sperre verhängt ist.
Die Gewerkschaften können die Arbeitswilligen in
ihren Reihen aus der Organisation ausschließen
und ihnen die üblichen gewerkschaftlichen Vorteile
entziehen. Durch alles dies wird keine Pflicht
gegenüber den Arbeitsgenossen verletzt, im all-
gemeinen auch keine Pflicht der Liebe. Allerdings
wäre es mit dem Gebot der Liebe nicht vereinbar,
wenn auch Arbeiter von der Arbeit zurückgehalten
würden, denen wegen hartbedrängter persönlicher
Lage oder wegen besonders drückender Familien-
sorgen der Lohnverlust von einigen Tagen schon
sehr fühlbar werden müßte, oder Arbeiter, die
infolge der Teilnahme am Streik auf bedeutende
Vorteile verzichten müßten. Vollends ins Unrecht
setzen sich die Streikenden, wenn sie durch physische
Gewalt, mündlicheodeer schriftlicheernste Drohungen
Arbeiter von der Arbeit fernzuhalten suchen. Solche
ungerechte Mittel werden auch durch einen an sich
erlaubten Zweck nicht zu gerechten.
Fast jeder Streik greist in seinen Wirkungen
über die unmittelbar davon Betroffenen hinaus.
Auch ein kleiner Einzelstreik kann in irgendeiner
Richtung auf die Lohn= und Preisgestaltung, auf
die Fortentwicklung eines Gewerbes einwirken.
Und erst die großen Massenstreiks bringen er-
fahrungsmäßig Störungen und Schwankungen