Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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über die Höchstgrenze hinausgehenden und darum 
ungerechten Lohn nicht durchsetzen, dafür sorgt im 
allgemeinen die höhere Machtstellung des Unter- 
nehmers, wenigstens in der Großindustrie. Und 
so können die Arbeiter auch auf andern Gebieten 
weitgehende Forderungen stellen, wofern sie inner- 
halb des von seiten des Arbeitgebers Erfüllbaren 
sich halten. Freilich dürfen sie nicht, um diese 
Forderungen durchzusetzen, vor Ablauf der ver- 
tragsmäßig ausbedungenen Frist das Arbeitsver- 
hältnis lösen; das wäre, da der Vertrag nichts 
Ungerechtes enthält, Kontraktbruch. Wenn sie 
aber nach Ablauf der Kündigungsfrist die Arbeit 
gemeinsam niederlegen, um den Unternehmer für 
ihre Wünsche zugänglich zu machen, so ist das 
kein unberechtigtes oder unerlaubtes Mittel. — 
Das allen Menschen ganz allgemein durch Natur- 
gesetz obliegende Arbeitsgebot verpflichtet die Ar- 
beiter nicht zu dieser bestimmten, bisher von ihnen 
ausgeübten Arbeit; und es ist gar nicht aus- 
geschlossen, daß sie sich während des Streiks ander- 
weitige Beschäftigung suchen. Zudem scheint mit 
dem allgemeinen Arbeitsgebot eine nur zeitweilige 
Arbeitsunterbrechung, die lediglich zur Verbesse- 
rung des Arbeitsverhältnisses unternommen wird, 
wohl vereinbar. Ein Recht auf Ausnützung des 
Kapitaleigentums wird nicht verletzt, weil ein 
solches unabhängig vom Arbeitskontrakt nicht vor- 
handen ist; wohl ist die Befugnis des Arbeit- 
gebers zur Kapitalausnutzung anzuerkennen, aber 
kein Recht im eigentlichen Sinn. 
Der Gewinnverlust des Unternehmers und der 
vielleicht noch obendrein entstehende positive Scha- 
den hat allerdings seine Ursache in dem Ausstand. 
Aber die Ausständigen sind durch keinerlei Rechts- 
pflichten gehalten, diesen Schaden zu verhüten, und 
anderseits haben sie, wie bei einem gerechten 
Streik vorausgesetzt wird, wichtige Gründe genug, 
diesen Schaden als Mittel zur Erreichung ihres 
Zwecks entstehen zu lassen. Die Gerechtigkeit 
gegenüber dem Arbeitgeber wird also nicht ver- 
letzt. Ist aber ebenso auch das Gebot der Liebe 
gewahrt? Die christliche Nächstenliebe verpflichtet 
zu einer Tat der Hilfeleistung nur, wenn eine 
wirkliche Notlage, und zwar eine bedeutende Not- 
lage (gravis necessitas) des Nächsten vorliegt, 
durch die es ihm unmöglich geworden ist, sich 
selbst das zum Leben Notwendige zu beschaffen. 
Daß nun infolge des Streiks eine derartige Not- 
lage des Arbeitgebers vorliegt, kann allgemein 
nicht behauptet werden. Die Nächstenliebe legt 
daher auch den streikenden Arbeitern im allge- 
meinen keine besondern Pflichten gegen den Arbeit- 
geber auf. Eine Notlage der Arbeitgeber kann 
aber in gewissen Fällen vorliegen: wenn z. B. 
kleine Handwerksmeister, die nicht kapitalkräftig 
sind und selbst einen schweren Konkurrenzkampf 
gegen die Großbetriebe zu bestehen haben, infolge 
eines Streiks vor den geschäftlichen Ruin gesiellt 
sind. In einem solchen Fall müßte die christliche 
Nächstenliebe die Arbeiter bewegen, vom Streik 
Streik usw. 
  
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abzustehen oder in den Streikforderungen wenig- 
stens herabzugehen. — Aber fügt nicht aus dem 
Grund jeder Streik dem Arbeitgeber ein Unrecht 
zu, weil Zwang gegen ihn angewendet wird, indem 
die Arbeiter durch Herbeiführung einer Notlage 
ihn zu gewissen Entschließungen zwingen? Hier 
läge ein Unrecht vor, wenn jeder Zwang, jedes 
gewaltsame Vorgehen ungerecht und unerlaubt 
wäre. Ein solches ist aber sicher erlaubt, wenn 
zur Erreichung eines an sich billigen Zwecks 
andere gütliche Mittel versagen. Daher, und auch 
aus andern praktischen Gründen ist es Pflicht der 
Arbeiter, zunächst durch Vorstelligwerden, Ver- 
handlungen, Vermittlung dritter Personen beim 
Arbeitgeber ihre Zwecke zu erreichen; erst wenn 
alle diese Mittel versagen, dürfen sie Nötigung 
anwenden und in den Ausstand treten, der stets, 
wie der Krieg, die ultima ratio sein soll. 
Das früher schon geschilderte Vorgehen der 
streikenden Arbeiter gegen die Arbeitswilligen oder 
Streikbrecher unterliegt naturgemäß auch der sitt- 
lichen Beurteilung. Daß die Arbeiter im Inter- 
esse des Streikerfolgs ernstlich bemüht sind, alle 
Arbeitskräfte von den in Frage kommenden Be- 
trieben fernzuhalten, ist sehr wohl begreiflich. Sie 
tun auch an und für sich nichts Unrechtes, solang 
sie keine gewaltsamen Mittel zur Anwendung 
bringen. Sie dürfen also Streikposten aufstellen, 
die ankommende Ersatzarbeiter von der gegen- 
wärtigen Lage in Kenntnis setzen und sie in durch- 
aus ruhiger, jede Belästigung und Drohung aus- 
schließender Form von der Streikarbeit abzuhalten 
suchen. Sie können unter dem Hinweis auf 
Klassensolidarität die Betriebe bekannt geben, über 
die seitens der Arbeiter die Sperre verhängt ist. 
Die Gewerkschaften können die Arbeitswilligen in 
ihren Reihen aus der Organisation ausschließen 
und ihnen die üblichen gewerkschaftlichen Vorteile 
entziehen. Durch alles dies wird keine Pflicht 
gegenüber den Arbeitsgenossen verletzt, im all- 
gemeinen auch keine Pflicht der Liebe. Allerdings 
wäre es mit dem Gebot der Liebe nicht vereinbar, 
wenn auch Arbeiter von der Arbeit zurückgehalten 
würden, denen wegen hartbedrängter persönlicher 
Lage oder wegen besonders drückender Familien- 
sorgen der Lohnverlust von einigen Tagen schon 
sehr fühlbar werden müßte, oder Arbeiter, die 
infolge der Teilnahme am Streik auf bedeutende 
Vorteile verzichten müßten. Vollends ins Unrecht 
setzen sich die Streikenden, wenn sie durch physische 
Gewalt, mündlicheodeer schriftlicheernste Drohungen 
Arbeiter von der Arbeit fernzuhalten suchen. Solche 
ungerechte Mittel werden auch durch einen an sich 
erlaubten Zweck nicht zu gerechten. 
Fast jeder Streik greist in seinen Wirkungen 
über die unmittelbar davon Betroffenen hinaus. 
Auch ein kleiner Einzelstreik kann in irgendeiner 
Richtung auf die Lohn= und Preisgestaltung, auf 
die Fortentwicklung eines Gewerbes einwirken. 
Und erst die großen Massenstreiks bringen er- 
fahrungsmäßig Störungen und Schwankungen
	        
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