Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

347 
wirkungsvollsten und heilsamsten, durch die Auto- 
rität der Gesetze vorzubeugen, um den Ausbruch 
des Übels durch rechtzeitige Beseitigung der Ur- 
sachen zu verhindern, die einen Konflikt zwischen 
Arbeitgebern und Arbeitnehmern herbeizuführen 
drohen.“ Indes der Schwerpunkt alles Strebens 
nach Beseitigung der Arbeitskonflikte ruht in dem 
teils von privaten Personen und freien Berufs- 
vereinigungen teils vom Staat ausgehenden 
Einigungs= und Schiedsverfahren. 
Die ersten derartigen Versuche traten in Eng- 
land auf. 1860 schuf der Fabrikant und spätere 
Minister Mundella für das Nottinghamer 
Strumpfwirkergewerbe ein Einigungsamt, worin 
sich Vertreter der Arbeitgeber und Arbeiter zu- 
sammenfanden, um auf dem Weg der Verhand- 
lung zu einem friedlichen Ausgleich zu gelangen. 
Rupert Kettle ergänzte dieses Verfahren (zunächst 
im Baugewerbe von Wolverhampton) durch Ein- 
führung eines unparteiischen Vorsitzenden, der im 
Fall, daß die Parteien sich nicht einigten, einen 
Schiedsspruch fällte, dem sich beide Parteien ge- 
mäß einer vorher eingegangenen vertragsmäßigen 
Verpflichtung unterwerfen mußten. Nach diesen 
beiden Grundtypen (Einigung und Schiedsspruch, 
Conciliation and arbitration) haben sich in Eng- 
land ganze Systeme von Vermittlungsinstitutionen 
ausgebildet, namentlich im Kohlenbergbau und in 
der Eisenindustrie. Diesen freien, aus dem Ge- 
werbe selbst herausgewachsenen Vermittlungs- 
ämtern gegenüber sind in England die auf gesetz- 
lichen Maßnahmen beruhenden Versuche als künst- 
liche Schöpfungen stets von geringer Bedeutung 
geblieben. — In Deutschland und in andern 
Ländern sind im Anschluß an die Arbeitstarif- 
verträge in der Regel Einrichtungen geschaffen, die 
nicht nur die Überwachung des Tarifs, sondern 
auch die Verhütung und Schlichtung aller größe- 
ren Interessenstreitigkeiten, der lokalen und der 
weiter greifenden, zur Aufgabe haben. Sie sind 
zwecks Einigung und Schiedsspruch den eng- 
lischen Typen vielfach nachgebildet, haben diese 
aber auch teilweise durch systematische und juristi- 
sche Durchbildung übertroffen. Am besten organi- 
siert ist das Einigungswesen im deutschen Buch- 
druckergewerbe. — Auch der Staat hat nicht 
unterlassen, öffentliche Einrichtungen zu schaffen, 
die offene Kämpfe hintanhalten und schlichten 
sollen. Die deutschen Gewerbegerichte entscheiden 
nicht nur ihrer ursprünglichen Bestimmung ge- 
mäß über Einzelstreitigkeiten, die sich aus dem 
Arbeitsvertrag leicht ergeben, sie können auch zur 
Schlichtung von allgemeinen Interessenstreitig- 
keiten angerufen werden und eine einigungs- und 
schiedsamtliche Wirksamkeit ausüben. Allerdings 
steht ihnen weder das Recht zum Erscheinungs- 
oder Verhandlungszwang, noch zur zwangsweisen 
Durchführung des Schiedsspruchs zu. Ihre bis- 
herige vermittelnde Tätigkeit hat keine glänzen- 
den Erfolge aufzuweisen, aber ein erheblicher 
Fortschritt ist nicht zu verkennen. Ahnliche Zwecke 
Streik usw. 
  
348 
werden auf gesetzlichem Weg zu erreichen gesucht 
in Frankreich, Italien, Belgien, Holland, Schwe- 
den, Norwegen, Dänemark und in verschiedenen 
Schweizer Kantonen. — Im Gegensatz zu den er- 
wähnten Institutionen hat man in Neuseeland und 
in den australischen Kolonien die kühne Neuerung 
gewagt, nicht nur die Verhandlung zu erzwingen, 
sondern auch den gefällten Schiedsspruch mit ver- 
bindlicher Kraft auszustatten. Die Bestimmungen 
des Schiedsgerichtshofs erhalten hier öffentliche 
Bedeutung und werden, indem die Staatsgewalt 
hohe Geld= und Gesängnisstrafen anwendet, 
zwingend für alle Mitglieder des Gewerbes, selbst 
für diejenigen, die an den geschlichteten Streitig- 
keiten nicht beteiligt waren. Eine gewisse Nach- 
ahmung des australischen Musters findet sich im 
Kanton Genf. Ein ähnliche Zwecke verfolgender 
Entwurf des Handelsministers Millerand wurde 
in Frankreich kein Gesetz. — Es kann hier nicht 
unsere Aufgabe sein, die verschiedenen Formen des 
Vermittlungswesens näher zu beschreiben und auf 
ihren sozialen Wert hin zu prüfen. Als Richt- 
linien für ihre Beurteilung mögen folgende 
Grundsätze dienen: Die erste und wichtigste Vor- 
bedingung für eine gedeihliche Vermittlungstätig- 
keit ist, daß beide Parteien, Unternehmer und Ar- 
beiter, in ihrer Gesamtheit von dem ehrlichen 
Willen beseelt sind, als gleichberechtigte Faktoren 
miteinander zu verhandeln und einen Interessen- 
ausgleich herbeizuführen. Dieser soziale Ver- 
ständigungswille ist das Geheimnis des Erfolgs, 
der belebende Geist im Einigungswesen. Ein 
weiteres Erfordernis ist die möglichst enge An- 
passung an die Besonderheiten des einzelnen Ge- 
werbes. Diese Forderung wird dadurch erfüllt, 
daß, abgesehen von dem unparteiischen Obmann, 
ausschließlich Fachmänner desselben Berufs an 
der versöhnenden und richterlichen Tätigkeit teil- 
nehmen. Weiterhin ist eine sorgfältige Rücksicht- 
nahme auf die verschiedenen lokalen Verhältnisse 
und die der Einzelbetriebe anzustreben. Die erste 
Stufe des Einigungsverfahrens hätte demgemäß 
am süglichsten der Arbeiterausschuß zu bilden, in 
welchem der Unternehmer mit den Vertretern seiner 
Arbeiterschaft kleine Anlässe zu Streitigkeiten prüft 
und beseitigt. Als höhere Instanz würde eine 
paritätisch zusammengesetzte örtliche Schlichtungs- 
kommission wirken, die schwierigere und den 
ganzen Bezirk angehende Streitfragen entscheidet. 
Darüber steht als letzte Berufungsinstanz das 
Einigungs- und Schiedsamt, das für das ganze 
Gewerbe oder einen größeren Bezirk zuständig ist 
und in wichtigen, das ganze Gewerbe betreffen- 
den, prinzipiellen Fragen das letzte Wort spricht. 
— Diie stärkste Gewähr für das segensreiche 
Wirken eines Einigungsamts bietet das Verständ- 
nis und Interesse innerhalb der beteiligten Kreise; 
diejenigen Institutionen werden daher die besten 
sein, die aus dem Verlangen der beiden Parteien 
eines Gewerbes heraus entstanden sind. Nach den 
bisher gemachten Erfahrungen vollzieht sich denn
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.