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aus sich heraus kaum die Möglichkeit sozialer Er-
ziehung wird. Dazu gehört neben dem fachlichen
Studium ein gut Teil Zeit den Korporations--
verpflichtungen.
3. So ist nirgends wie in Deutschland auf
Jahre hinaus Selbsthilfe nötig geworden.
Die Ansätze zu ihr liegen zerstreut zurück. Be-
sichtigungen und Vorträge hat es zum Teil schon
in den 1870er Jahren gegeben. Einige sozial-
wissenschaftliche Vereinigungen haben sich aus der
kathedersozialistischen Zeit herüber gerettet. Sozial=
charitative Vereinigungen auf katholischer Seite
sind im letzten Jahrzehnt gegründet worden. An
einer Reihe von Hochschulen mehrt sich die Vinzenz-
tätigkeit. In größeren Universitätsstädten gibt das
Jugendgericht Gelegenheit zur Mitarbeit. Be-
sondere Abteilungen der Freistudentenschaft, ebenso
wie Korporationen pflegen das Referat und die
Diskussion aus dem sozialen Gebiet. Die „Vereine
Deutscher Studenten" (V. D. St.) die katholischen
Korporationen, auch die Burschenschaften weisen
in steigender Zahl derartige Vorträge auf. Da-
neben stellen die studentischen Arbeiterunterrichts-
kurse, mit denen die technische Hochschule Char-
lottenburg 1901 einsetzte und die heute an un-
gefähr 25 Hochschulen 800 Studierende mit
10.000 Handarbeitenden in Verbindung bringen,
vielleicht die bedeutsamste und charakteristischste
sozialstudentische Selbsthilfe dar, die wir an deut-
schen Hochschulen besitzen.
4. Der Wert solcher Arbeiterunterrichts-
kurse besteht in der Berührung zwischen ideal-
gesinnter Jugend und strebsamen Handarbeitenden.
Des Lebens Ernst und Tüchtigkeit durchbricht hier
die Oberflächlichkeit einer künstlichen Romantik.
Man lernt sich kennen. Man achtet den Eifer
von Menschen, die nach des Tages Arbeit noch
Lust haben, sich unterrichten zu lassen. Der Ar-
beitende korrigiert sein Urteil über „den“ Stu-
denten, er unterscheidet, auch er lernt sehen und
achten. Der Weg zu dieser Achtung führt nicht
über die Bierbank, sondern über den Unterricht. In
Abendstunden findet man sich in Schulsälen zu
gemeinsamer Arbeit zusammen. Die Semester-
arbeit beschließt eine gemeinsame Wanderung oder
ein gemütliches Schlußfest. Sie unterbricht der
eine oder andere Vortrag, eine Museumsführung
oder ein Theaterbesuch. Wer sich im einzelnen
über dieses deutsche Arbeiterunterrichtswesen, dessen
Wurzeln in England, Dänemark, Schweden und
Norwegen liegen, unterrichten will, lese die viel-
fachen Berichte in der freistudentischen oder kor-
porativen studentischen Presse.
5. Derartige Semesterarbeit hat ihre Bedeu-
tung und verdient weiter entwickelt zu werden.
Es ist aber ebenso klar, daß sie allein einen wirk-
samen Weg sozialstudentischer Selbsthilfe nicht
ausmachen kann, wenn nicht die 4 bis 5 Monate
lange akademische Ferienzeit energisch mit
in den Dienst der Sache gestellt wird. Die Ferien-
zeit, in der mancher viel Zeit verbringt und für
Staatslexikon. V. 3. u. 4. Aufl.
Studententum, soziales.
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Anregung überaus dankbar wäre. Ihre Aus-
nutzung hat sich seit 1908 das oben genannte
„Sekretariat“ angelegen sein lassen, indem es für
diese eine systematische Zusammenstellung und Ent-
wicklung von Studien= und Arbeitsgelegenheiten
vornahm.
6. Zunächst ist das Besichtigungs= und
Vortragswesen ausgebaut worden. Am Ende
der Osterferien 1911 gab es bereits 193 So-
ziale Ferienvereinigungen, die sich die
Aufgabe stellten, die katholischen Studenten je
eines Kreises, Oberamts, Bezirksamts, Amts-
bezirks oder Bezirks in den Oster= und Herbst-
ferien zur Besichtigung sozialinteressierender Ein-
richtungen, Anlagen, Baulichkeiten usw. zu ver-
anlassen. Den Schluß einer Besichtigung bildet
durchgängig das Referat eines Praktikers über
irgend ein sozialstaatsbürgerliches Thema. So-
weit das Besichtigungswesen Schwierigkeiten be-
gegnet, wird das Vortragswesen seinerseits ge-
pflegt. Zum erstenmal ist auf diesem Weg eine
systematische Belehrung der studierenden Aka-
demiker über sozialpraktische Fragen durch Männer
der Praxis und Vertreter von Organisationen in
die Wege geleitet und ermöglicht worden. Ver-
anstaltungen von Ferienvereinigungen sind seit
Gründung der ersten im Jahr 1908 im ganzen
623 bis zum genannten Termin zustande ge-
kommen. Das bedeutet eine Bildungsbereicherung,
Lebendigmachung und Interessierung sondergleichen
und alles das auf dem früher völlig brachliegenden
Gebiet der Ferien. Daneben ist mancherorts auch
der Soziale Studienzirkel in den Ferien
gepflegt worden, der eine kleinere Gruppe von
Studenten unter sich oder um einen sozialen
Praktiker vereinte und in Durchsprechung eines
Buches elementare Grundsätze zu geben suchte.
7. Im Anschluß an die Ferienvereinigungen ist
weiter eine Annäherung der Studierenden an das
bisher fast völlig vernachlässigte und übersehene
örtliche soziale Vereinswesen angestrebt worden.
Studierende wurden zur beobachtenden Teilnahme
an Vereinssitzungen, an Beratungen und Dis-
kussionen gedrängt. In den Vereinen ergab sich
die eine oder andere Arbeitsmöglichkeit, durch welche
man sich nützlich machen konnte in Bibliothek-,
Wander-, Turn-, Vortrags= und Theaterwesen.
Es ist jedoch darauf gedrängt worden, in der
positiven Arbeit mehr ein Mittel der eignen
Schulung als eine Möglichkeit, andern zu geben,
zu sehen. Auch der Vinzenzgedanke, die Teil-
nahme an der Armenpflege, die Verwendung von
Studenten durch Jugendgerichte in den Heimat-
bezirken hat sich ebenso wie die Veranstaltung kleiner
Buch= und Bilderausstellungen, sowie besonderer
Volksbildungsabende in den Ferien durchgesetzt.
8. Eine erstaunlich schnelle Entwicklung haben
in den Ferien die sog. Heimatlichen Arbeiterkurse
genommen. Das „Sekretariat“ hat den in der
Universität, wie oben erwähnt, lebenden Gedanken
zum erstenmal in die Ferienzeit und die Heimat-
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