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Grenzen, so üben sich alle, Männer und Frauen,
fortwährend in den Künsten des Kriegs. Mit den
Wissenschaften beschäftigen die Utopier sich fleißig.
Alle Kinder genießen obligatorischen Unterricht
durch Angestellte des Staats. Namentlich steht bei
ihnen die Astronomie im Flor. In der Moral
neigen sie zum Eudämonismus, denn die Be-
dingungen des Glücks zu ermitteln ist ihre vor-
nehmste Untersuchung. Kranke werden in öffent-
lichen Hospitälern verpflegt; unheilbare Kranke
können, wenn die Priester es billigen und dazu
raten, sich selbst das Leben nehmen. Die Staats-
form Utopiens ist republikanisch. Je 30 Familien
wählen jährlich einen Phylarchen; je zehn von
diesen einen Protophylarchen, und alle Phylarchen
miteinander wählen den Prinzeps, der sein Amt
auf Lebenszeit bekleidet. Mit ihm und einigen
Phylarchen bilden die Protophylarchen den Senat.
Gesetze haben die Utopier nur wenige und miß-
billigen deren Unmasse bei andern Völkern. Sie
halten es für ungerecht, daß die Bürger durch diese
Gesetze, die sie unmöglich alle kennen können, ver-
pflichtet seien. Verbrecher strafen sie gewöhnlich
damit, daß sie diese zu Sklaven machen, was auch
die Kriegsgefangenen trifft, wenn diese mit den
Waffen in der Hand gefangen werden; doch be-
steht auch die Todesstrafe. Bei den Utopiern
herrscht volle Religionsfreiheit. Verboten ist nur,
daß jemand die Unsterblichkeit der Seele und die
göttliche Vorsehung leugne. Es gibt Priester und
Priesterinnen, die in geheimer Abstimmung ge-
wählt werden, das größte Ansehen genießen und
nie zur Verantwortung gezogen werden können.
Die Tempel sind wenig zahlreich, aber prachtvoll.
Die öffentlichen Gebete sind so allgemein gehalten,
daß jeder sie beten kann, möge er was immer für
eine religiöse Ansicht haben. Die besondern My-
sterien feiert jeder in seiner Familie. Das göttliche
Wesen nennen sie nach allgemeiner UÜbereinkunft
Mythras.
Ob Thomas Morus wirklich die Durchführung
des kommunistischen Prinzips in dieser Allgemein-
heit für möglich gehalten hat, steht dahin. Sicher
ist, daß es seinen persönlichen Wünschen nicht ent-
sprach, wie ja auch seine religiösen Anschauungen
— er war ein tieffrommer Katholik und einer der
vornehmsten Verteidiger des päpstlichen Supre-
mats — ganz anders geartet waren als die seines
utopistischen Staatsgebildes. Was er mit seinem
Staatsroman bezweckte, war wohl lediglich, zu
zeigen, daß das Glück eines Volks nicht in der
Förderung der individuellen Habgier und Träg-
heit beruhe, deren sich die englischen Edelleute (von
ihm müßige Drohnen genannt) zu seiner Zeit
schuldig machten, sondern in der Unterordnung
znter die Gesetze der Vernunft und der Gerechtig-
ei
Gleich der Utopia und großenteils von dieser
beeinflußt sind auch fast alle späteren Staats-
romane von kommunistischen Tendenzen getragen.
So die in Form eines Dialogs abgefaßte Schrift
Staatsromane.
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Civitas solis vel de reipublicae idea dialogus
Posticus. Interlocutores: Hospitalarius ma-
Snus et nautarum gubernator Genuensis ho-
Sspes (Utrecht 1620; deutsch zuletzt von Wessely
1900) des italienischen Dominikaners Thomas
Campanella (1568/1639). Dieser „Sonnen-
staat“ geht in Bezug auf Exzentrizitäten noch über
die Utopia hinaus. In ihm erzählt ein genuesischer
Seefahrer, er sei im Indischen Ozean auf der
Insel Tagrobane gelandet und dort auf eine Ebene
gelangt, die genau unter dem Aquator liegt. Dort
sei er zur Sonnenstadt geführt worden. Diese, auf
einem Hügel gelegen, besteht aus sieben ineinander
geschachtelten Kreisen, die durch palastähnliche Ge-
bäude gebildet werden, an denen ringsum Säulen-
gänge entlang laufen. In der Mitte jeder Seite
befindet sich ein großes Tor, von dem die vier ein-
zigen Radialstraßen auslaufen. Auf dem Hügel
in der Mitte erhebt sich der Tempel mit mächtiger
Kuppel: nicht Bilder, nicht Schmuck finden sich
in ihm, nur sieben Leuchter mit den Namen der
sieben Planeten, und zwei Glocken, worauf Himmel
und Erde abgebildet sind. Die Regierung dieses
Sonnenstaats führt ein Priesterfürst, der Sol
genannt wird. Unter ihm stehen drei weltliche
Beamte: Poa, Sia und Mor (von Potestas,
Sapientia und Amor) für Krieg, für Wissenschaft
und alles, was Erzeugung und Ernährung be-
trifft. Alle vier können nur freiwillig zurücktreten,
wenn sie selbst einen tüchtigeren bezeichnen. Im
Sonnenstaat herrscht nicht bloß Güter= sondern
auch Weibergemeinschaft. Eigne Wohnung, eigne
Weiber und eigne Kinder zu haben, gilt den So-
lariern als die Wurzel alles Ubels. Dem Minister
Mor stehen eine Reihe männlicher und weiblicher
Beamten, namentlich der magister generationis
zur Seite. Diese suchen die Paare aus und führen
sie zu glückverheißender Stunde, wobei die Astro-
logen raten müssen, zusammen. Die Kinder werden,
sobald sie entwöhnt sind, dem Staat übergeben
und sowohl Knaben wie Mädchen in körperlichen
Ubungen und mechanischen Künsten erzogen. Im
Unterricht werden Mathematik und Naturwissen-
schaften bevorzugt. Das Gemeinschaftsleben der
Bürger des Sonnenstaats ist aufs genaueste ge-
regelt. Landbau, Arbeit in den Werkstätten, krie-
gerische Ubungen wechseln miteinander ab. Jeder
arbeitet nur vier Stunden; die Produkte werden
in gemeinsame Vorratshäuser abgeliefert. Auch
die Mahlzeiten sind gemeinsam. Weingenuß wird
verschmäht. Der Rest des Tages ist heiterem Spiel
und geistiger Ausbildung gewidmet. Überall findet
die strengste Leitung durch die Beamten statt, die
zugleich Beichtväter sind. Jedes Jahr findet eine
Ohrenbeichte statt, von unten herauf bis zu dem
obersten Beamten, und in die Kuppel des Tempels
hinauf wird dann ein Priester gezogen, der lange
Zeit dort oben schwebt und die Sühne der Gott-
heit herabbringt.
Doa dieser „Sonnenstaat“ stellenweise mit un-
glaublichem Zynismus abgefaßt war, erschien zu