Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Grenzen, so üben sich alle, Männer und Frauen, 
fortwährend in den Künsten des Kriegs. Mit den 
Wissenschaften beschäftigen die Utopier sich fleißig. 
Alle Kinder genießen obligatorischen Unterricht 
durch Angestellte des Staats. Namentlich steht bei 
ihnen die Astronomie im Flor. In der Moral 
neigen sie zum Eudämonismus, denn die Be- 
dingungen des Glücks zu ermitteln ist ihre vor- 
nehmste Untersuchung. Kranke werden in öffent- 
lichen Hospitälern verpflegt; unheilbare Kranke 
können, wenn die Priester es billigen und dazu 
raten, sich selbst das Leben nehmen. Die Staats- 
form Utopiens ist republikanisch. Je 30 Familien 
wählen jährlich einen Phylarchen; je zehn von 
diesen einen Protophylarchen, und alle Phylarchen 
miteinander wählen den Prinzeps, der sein Amt 
auf Lebenszeit bekleidet. Mit ihm und einigen 
Phylarchen bilden die Protophylarchen den Senat. 
Gesetze haben die Utopier nur wenige und miß- 
billigen deren Unmasse bei andern Völkern. Sie 
halten es für ungerecht, daß die Bürger durch diese 
Gesetze, die sie unmöglich alle kennen können, ver- 
pflichtet seien. Verbrecher strafen sie gewöhnlich 
damit, daß sie diese zu Sklaven machen, was auch 
die Kriegsgefangenen trifft, wenn diese mit den 
Waffen in der Hand gefangen werden; doch be- 
steht auch die Todesstrafe. Bei den Utopiern 
herrscht volle Religionsfreiheit. Verboten ist nur, 
daß jemand die Unsterblichkeit der Seele und die 
göttliche Vorsehung leugne. Es gibt Priester und 
Priesterinnen, die in geheimer Abstimmung ge- 
wählt werden, das größte Ansehen genießen und 
nie zur Verantwortung gezogen werden können. 
Die Tempel sind wenig zahlreich, aber prachtvoll. 
Die öffentlichen Gebete sind so allgemein gehalten, 
daß jeder sie beten kann, möge er was immer für 
eine religiöse Ansicht haben. Die besondern My- 
sterien feiert jeder in seiner Familie. Das göttliche 
Wesen nennen sie nach allgemeiner UÜbereinkunft 
Mythras. 
Ob Thomas Morus wirklich die Durchführung 
des kommunistischen Prinzips in dieser Allgemein- 
heit für möglich gehalten hat, steht dahin. Sicher 
ist, daß es seinen persönlichen Wünschen nicht ent- 
sprach, wie ja auch seine religiösen Anschauungen 
— er war ein tieffrommer Katholik und einer der 
vornehmsten Verteidiger des päpstlichen Supre- 
mats — ganz anders geartet waren als die seines 
utopistischen Staatsgebildes. Was er mit seinem 
Staatsroman bezweckte, war wohl lediglich, zu 
zeigen, daß das Glück eines Volks nicht in der 
Förderung der individuellen Habgier und Träg- 
heit beruhe, deren sich die englischen Edelleute (von 
ihm müßige Drohnen genannt) zu seiner Zeit 
schuldig machten, sondern in der Unterordnung 
znter die Gesetze der Vernunft und der Gerechtig- 
ei 
Gleich der Utopia und großenteils von dieser 
beeinflußt sind auch fast alle späteren Staats- 
romane von kommunistischen Tendenzen getragen. 
So die in Form eines Dialogs abgefaßte Schrift 
Staatsromane. 
  
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Civitas solis vel de reipublicae idea dialogus 
Posticus. Interlocutores: Hospitalarius ma- 
Snus et nautarum gubernator Genuensis ho- 
Sspes (Utrecht 1620; deutsch zuletzt von Wessely 
1900) des italienischen Dominikaners Thomas 
Campanella (1568/1639). Dieser „Sonnen- 
staat“ geht in Bezug auf Exzentrizitäten noch über 
die Utopia hinaus. In ihm erzählt ein genuesischer 
Seefahrer, er sei im Indischen Ozean auf der 
Insel Tagrobane gelandet und dort auf eine Ebene 
gelangt, die genau unter dem Aquator liegt. Dort 
sei er zur Sonnenstadt geführt worden. Diese, auf 
einem Hügel gelegen, besteht aus sieben ineinander 
geschachtelten Kreisen, die durch palastähnliche Ge- 
bäude gebildet werden, an denen ringsum Säulen- 
gänge entlang laufen. In der Mitte jeder Seite 
befindet sich ein großes Tor, von dem die vier ein- 
zigen Radialstraßen auslaufen. Auf dem Hügel 
in der Mitte erhebt sich der Tempel mit mächtiger 
Kuppel: nicht Bilder, nicht Schmuck finden sich 
in ihm, nur sieben Leuchter mit den Namen der 
sieben Planeten, und zwei Glocken, worauf Himmel 
und Erde abgebildet sind. Die Regierung dieses 
Sonnenstaats führt ein Priesterfürst, der Sol 
genannt wird. Unter ihm stehen drei weltliche 
Beamte: Poa, Sia und Mor (von Potestas, 
Sapientia und Amor) für Krieg, für Wissenschaft 
und alles, was Erzeugung und Ernährung be- 
trifft. Alle vier können nur freiwillig zurücktreten, 
wenn sie selbst einen tüchtigeren bezeichnen. Im 
Sonnenstaat herrscht nicht bloß Güter= sondern 
auch Weibergemeinschaft. Eigne Wohnung, eigne 
Weiber und eigne Kinder zu haben, gilt den So- 
lariern als die Wurzel alles Ubels. Dem Minister 
Mor stehen eine Reihe männlicher und weiblicher 
Beamten, namentlich der magister generationis 
zur Seite. Diese suchen die Paare aus und führen 
sie zu glückverheißender Stunde, wobei die Astro- 
logen raten müssen, zusammen. Die Kinder werden, 
sobald sie entwöhnt sind, dem Staat übergeben 
und sowohl Knaben wie Mädchen in körperlichen 
Ubungen und mechanischen Künsten erzogen. Im 
Unterricht werden Mathematik und Naturwissen- 
schaften bevorzugt. Das Gemeinschaftsleben der 
Bürger des Sonnenstaats ist aufs genaueste ge- 
regelt. Landbau, Arbeit in den Werkstätten, krie- 
gerische Ubungen wechseln miteinander ab. Jeder 
arbeitet nur vier Stunden; die Produkte werden 
in gemeinsame Vorratshäuser abgeliefert. Auch 
die Mahlzeiten sind gemeinsam. Weingenuß wird 
verschmäht. Der Rest des Tages ist heiterem Spiel 
und geistiger Ausbildung gewidmet. Überall findet 
die strengste Leitung durch die Beamten statt, die 
zugleich Beichtväter sind. Jedes Jahr findet eine 
Ohrenbeichte statt, von unten herauf bis zu dem 
obersten Beamten, und in die Kuppel des Tempels 
hinauf wird dann ein Priester gezogen, der lange 
Zeit dort oben schwebt und die Sühne der Gott- 
heit herabbringt. 
Doa dieser „Sonnenstaat“ stellenweise mit un- 
glaublichem Zynismus abgefaßt war, erschien zu
	        
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