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gut getan, in gewissen katholischen Ländern ge-
setzlich anzuordnen, daß jenen, die dorthin ein-
wandern, die öffentliche Ausübung des einem
jeden eignen Kults gestattet sein solle. 79) Denn
es ist falsch, daß die bürgerliche Freiheit eines
jeden Kults und ebenso die allen erteilte volle
Macht, alle beliebigen Meinungen und Gedanken
laut und öffentlich bekannt zu machen, zur leich-
teren Verderbnis der Sitten und Gemüter der
Völker und zur Verbreitung der Pest des In-
differentismus führen. 80) Der römische Papst
kann und soll sich mit dem Fortschritt, dem Libe-
ralismus und der modernen Zivilisation versöhnen
und ausgleichen.
II. Antorität. Diese wird bestimmt durch
das Recht und die Amtsgewalt des Gesetzgebers
sowie durch die formell ausgesprochene oder aus
dem Gesetz selbst zu entnehmende Absicht desselben,
die Untergebenen zum Glauben und Gehorsam zu
verpflichten. Der Syllabus wurde aber vom
Staatssekretär Kardinal Antonelli zugleich mit
der Enzyklika „Quanta cura“ am 8. Dez. 1864
an alle Bischöfe versandt. Im Begleitschreiben
verweist der Kardinal auf die Rundschreiben und
Allokutionen des Papstes, in welchen die „in
unserer unseligen Zeit vorzugsweise verbreiteten
Irrtümer und falschen Lehren“ verboten und ver-
dammt werden. Da möglicherweise nicht alle diese
päpstlichen Kundgebungen zur Kenntnis sämt-
licher Oberhirten gelangt seien, so habe der Heilige
Vater beschlossen, daß ein Verzeichnis aller jener
Irrtümer angefertigt und allen Oberhirten zu-
gesendet werden solle, damit diese die sämtlichen
Irrtümer und verderblichen Lehren, welche von
ihm verworfen und verboten seien, vor ihren
Augen haben. Demgemäß habe der Heilige Vater
ihm den Auftrag erteilt, das erwähnte gedruckte
Verzeichnis zugleich mit der „andern Enzyklika“
zu versenden. Eine besondere Approbation des
Syllabus ist also nicht vorhanden. Dieser Mangel
wird auch nicht durch Verweisung auf die Enzyklika
ergänzt, denn es wird nur die gleichzeitige Ver-
sendung, nicht die innere Beziehung hervorgehoben.
Die Enzyklika erwähnt das Verzeichnis nirgends
und spricht nur über die in ihr selbst aufgezählten
Irrtümer ein feierliches Urteil aus: „Wir ver-
werfen, ächten und verdammen kraft unserer
Apostolischen Autorität alle und jede schlechten
Meinungen und Lehren, welche in diesem Schrei-
ben einzeln erwähnt wurden, und wollen, daß sie
von allen Kindern der katholischen Kirche als ver-
worfen, geächtet und verdammt angesehen werden
sollen." Zweifellos besteht nun zwischen den hier
verurleilten und im Syllabus verzeichneten Irr-
lehren eine große prinzipielle Verwandtschaft (ogl.
Sätze 19/28), aber doch weder im Umfang noch
in der Formulierung eine Identität. Sonst wäre
der Syllabus überhaupt überflüssig gewesen. Dem-
gemäß sind die Irrtümer in der Enzyklika für die
Beurteilung derer im Syllabus von Bedeutung,
aber die Autorität der Enzyklika kann nicht ohne
Syllabus.
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weiteres auf den Syllabus übertragen werden.
Die Enzyklika nennt, ohne Numerierung, 16 (12)
Irrtümer: 1) Die Behauptung des Naturalismus,
die beste Ordnung der öffentlichen Gesellschaft und
der welltliche Fortschritt fordern es durchaus, daß
die menschliche Gesellschaft ohne Rücksicht auf die
Religion oder wenigstens ohne Unterscheidung
zwischen wahren und falschen Religionen ein-
gerichtet und geleitet werde. 2) Das ist die beste
Staatseinrichtung, in welcher die Regierung die
Pflicht nicht anerkennt, durch gesetzliche Strafen
die Frevler gegen die katholische Religion zu züch-
tigen, außer wenn es die öffentliche Ruhe erfordert.
3) Gewissens= und Kutltusfreiheit ist ein allge-
meines Menschenrecht, das in jedem gut einge-
richteten Staat gesetzlich verkündigt und gewähr-
leistet sein muß; und die Bürger haben ein durch
keine kirchliche oder bürgerliche Autorität zu be-
schränkendes Recht auf die Freiheit, alle ihre
Meinungen in Worten wie in Druckschriften oder
auf eine andere Weise kundzugeben und zu ver-
öffentlichen. 4) Der durch die sog. öffentliche
Meinung oder sonstwie sich kundgebende Volks-
wille bildet das oberste, von jeder göttlichen und
menschlichen Autorität unabhängige Gesetz, und
in der Politik haben die vollendeten Tatsachen,
eben weil sie vollendet sind, rechtliche Gültigkeit.
5) Man muß den Bürgern und der Kirche die
Befugnis nehmen, offen aus christlicher Liebe
Almosen auszuteilen, und das Gesetz, welches
wegen der Verehrung Gottes an gewissen Tagen
knechtliche Arbeiten untersagt, abschaffen, weil jene
Befugnis und dieses Gesetz den Grundsätzen der
öffentlichen Wohlfahrt widersprechen. 6) Die häus-
liche Gesellschaft oder die Familie leitet ihre ganze
Existenzberechtigung vom bürgerlichen Recht her;
vom bürgerlichen Gesetz nur kommen daher und
sind abhängig alle Rechte der Eltern auf ihre
Kinder, vorzüglich das Recht des Unterrichts und
der Erziehung. 7) Dem Klerus muß als dem
Feind des wahren und ersprießlichen Fortschritts
in Wissenschaft und Zivilisation alle Sorge und
alles Amt für den Unterricht und die Erziehung
der Jugend genommen werden. 8) Die kirchlichen
Gesetze verpflichten nur dann im Gewissen, wenn
sie von der bürgerlichen Gewalt veröffentlicht
werden. 9) Die Erlasse und Dekrete der römischen
Päpste in religiösen und kirchlichen Angelegen-
heiten bedürfen der Bestätigung oder wenigstens
der Zustimmung der bürgerlichen Gewalt. 10) Die
Apostolischen Konstitutionen, welche die geheimen
Gesellschaften, ob dieselben nun ihre Mitglieder
eidlich zum Schweigen verpflichten oder nicht, ver-
bieten und deren Mitglieder und Begünstiger mit
dem Bann belegen, gelten dort nicht, wo die
weltliche Obrigkeit derartige Gesellschaften duldet.
11) Die vom Konzil von Trient und den römi-
schen Päpsten über jene verhängte Exkommuni-
kation, welche an dem Recht und dem Eigentum
der Kirche sich vergreifen und diese usurpieren,
unterscheidet nicht zwischen Dingen geistlicher