Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

363 
gut getan, in gewissen katholischen Ländern ge- 
setzlich anzuordnen, daß jenen, die dorthin ein- 
wandern, die öffentliche Ausübung des einem 
jeden eignen Kults gestattet sein solle. 79) Denn 
es ist falsch, daß die bürgerliche Freiheit eines 
jeden Kults und ebenso die allen erteilte volle 
Macht, alle beliebigen Meinungen und Gedanken 
laut und öffentlich bekannt zu machen, zur leich- 
teren Verderbnis der Sitten und Gemüter der 
Völker und zur Verbreitung der Pest des In- 
differentismus führen. 80) Der römische Papst 
kann und soll sich mit dem Fortschritt, dem Libe- 
ralismus und der modernen Zivilisation versöhnen 
und ausgleichen. 
II. Antorität. Diese wird bestimmt durch 
das Recht und die Amtsgewalt des Gesetzgebers 
sowie durch die formell ausgesprochene oder aus 
dem Gesetz selbst zu entnehmende Absicht desselben, 
die Untergebenen zum Glauben und Gehorsam zu 
verpflichten. Der Syllabus wurde aber vom 
Staatssekretär Kardinal Antonelli zugleich mit 
der Enzyklika „Quanta cura“ am 8. Dez. 1864 
an alle Bischöfe versandt. Im Begleitschreiben 
verweist der Kardinal auf die Rundschreiben und 
Allokutionen des Papstes, in welchen die „in 
unserer unseligen Zeit vorzugsweise verbreiteten 
Irrtümer und falschen Lehren“ verboten und ver- 
dammt werden. Da möglicherweise nicht alle diese 
päpstlichen Kundgebungen zur Kenntnis sämt- 
licher Oberhirten gelangt seien, so habe der Heilige 
Vater beschlossen, daß ein Verzeichnis aller jener 
Irrtümer angefertigt und allen Oberhirten zu- 
gesendet werden solle, damit diese die sämtlichen 
Irrtümer und verderblichen Lehren, welche von 
ihm verworfen und verboten seien, vor ihren 
Augen haben. Demgemäß habe der Heilige Vater 
ihm den Auftrag erteilt, das erwähnte gedruckte 
Verzeichnis zugleich mit der „andern Enzyklika“ 
zu versenden. Eine besondere Approbation des 
Syllabus ist also nicht vorhanden. Dieser Mangel 
wird auch nicht durch Verweisung auf die Enzyklika 
ergänzt, denn es wird nur die gleichzeitige Ver- 
sendung, nicht die innere Beziehung hervorgehoben. 
Die Enzyklika erwähnt das Verzeichnis nirgends 
und spricht nur über die in ihr selbst aufgezählten 
Irrtümer ein feierliches Urteil aus: „Wir ver- 
werfen, ächten und verdammen kraft unserer 
Apostolischen Autorität alle und jede schlechten 
Meinungen und Lehren, welche in diesem Schrei- 
ben einzeln erwähnt wurden, und wollen, daß sie 
von allen Kindern der katholischen Kirche als ver- 
worfen, geächtet und verdammt angesehen werden 
sollen." Zweifellos besteht nun zwischen den hier 
verurleilten und im Syllabus verzeichneten Irr- 
lehren eine große prinzipielle Verwandtschaft (ogl. 
Sätze 19/28), aber doch weder im Umfang noch 
in der Formulierung eine Identität. Sonst wäre 
der Syllabus überhaupt überflüssig gewesen. Dem- 
gemäß sind die Irrtümer in der Enzyklika für die 
Beurteilung derer im Syllabus von Bedeutung, 
aber die Autorität der Enzyklika kann nicht ohne 
Syllabus. 
  
364 
weiteres auf den Syllabus übertragen werden. 
Die Enzyklika nennt, ohne Numerierung, 16 (12) 
Irrtümer: 1) Die Behauptung des Naturalismus, 
die beste Ordnung der öffentlichen Gesellschaft und 
der welltliche Fortschritt fordern es durchaus, daß 
die menschliche Gesellschaft ohne Rücksicht auf die 
Religion oder wenigstens ohne Unterscheidung 
zwischen wahren und falschen Religionen ein- 
gerichtet und geleitet werde. 2) Das ist die beste 
Staatseinrichtung, in welcher die Regierung die 
Pflicht nicht anerkennt, durch gesetzliche Strafen 
die Frevler gegen die katholische Religion zu züch- 
tigen, außer wenn es die öffentliche Ruhe erfordert. 
3) Gewissens= und Kutltusfreiheit ist ein allge- 
meines Menschenrecht, das in jedem gut einge- 
richteten Staat gesetzlich verkündigt und gewähr- 
leistet sein muß; und die Bürger haben ein durch 
keine kirchliche oder bürgerliche Autorität zu be- 
schränkendes Recht auf die Freiheit, alle ihre 
Meinungen in Worten wie in Druckschriften oder 
auf eine andere Weise kundzugeben und zu ver- 
öffentlichen. 4) Der durch die sog. öffentliche 
Meinung oder sonstwie sich kundgebende Volks- 
wille bildet das oberste, von jeder göttlichen und 
menschlichen Autorität unabhängige Gesetz, und 
in der Politik haben die vollendeten Tatsachen, 
eben weil sie vollendet sind, rechtliche Gültigkeit. 
5) Man muß den Bürgern und der Kirche die 
Befugnis nehmen, offen aus christlicher Liebe 
Almosen auszuteilen, und das Gesetz, welches 
wegen der Verehrung Gottes an gewissen Tagen 
knechtliche Arbeiten untersagt, abschaffen, weil jene 
Befugnis und dieses Gesetz den Grundsätzen der 
öffentlichen Wohlfahrt widersprechen. 6) Die häus- 
liche Gesellschaft oder die Familie leitet ihre ganze 
Existenzberechtigung vom bürgerlichen Recht her; 
vom bürgerlichen Gesetz nur kommen daher und 
sind abhängig alle Rechte der Eltern auf ihre 
Kinder, vorzüglich das Recht des Unterrichts und 
der Erziehung. 7) Dem Klerus muß als dem 
Feind des wahren und ersprießlichen Fortschritts 
in Wissenschaft und Zivilisation alle Sorge und 
alles Amt für den Unterricht und die Erziehung 
der Jugend genommen werden. 8) Die kirchlichen 
Gesetze verpflichten nur dann im Gewissen, wenn 
sie von der bürgerlichen Gewalt veröffentlicht 
werden. 9) Die Erlasse und Dekrete der römischen 
Päpste in religiösen und kirchlichen Angelegen- 
heiten bedürfen der Bestätigung oder wenigstens 
der Zustimmung der bürgerlichen Gewalt. 10) Die 
Apostolischen Konstitutionen, welche die geheimen 
Gesellschaften, ob dieselben nun ihre Mitglieder 
eidlich zum Schweigen verpflichten oder nicht, ver- 
bieten und deren Mitglieder und Begünstiger mit 
dem Bann belegen, gelten dort nicht, wo die 
weltliche Obrigkeit derartige Gesellschaften duldet. 
11) Die vom Konzil von Trient und den römi- 
schen Päpsten über jene verhängte Exkommuni- 
kation, welche an dem Recht und dem Eigentum 
der Kirche sich vergreifen und diese usurpieren, 
unterscheidet nicht zwischen Dingen geistlicher
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.