367
Hergenröther, daß die Verurteilungen des Sylla-
bus wahre iudicia dogmatica, wenn auch keine
regula fidei im strengen Sinn enthalten. Die
Geschichte der Entstehung des Syllabus zeigt, daß
die Absicht des Papstes zunächst auf eine allge-
meine Verurteilung der zeitgenössischen Irrtümer
gerichtet war. Schon bald nach dem Antritt seines
Pontifikats (1846) wurde Pius IX. der Gedanke
nahegelegt, nach dem Beispiel früherer Päpste,
Damasus, Innozenz II., Gregor XI., Martin V.,
Gregor XIII., Alexander VII., Innozenz XI.,
Klemens XlI., Pius VI. (vgl. Tosi a. a. O. 8 ff),
die hauptsächlichsten der damals verbreiteten Irr-
tümer über die Religion und die übernatürliche
Ordnung zusammenzustellen und zu verurteilen.
Zuerst scheint dieser Gedanke auf dem Provinzial-
konzil zu Spoleto (1849) zur Sprache gekommen
zu sein, an dem auch Leo XIII. als Erzbischof von
Perugia in hervorragender Weise teilnahm. Die
Dreiteilung der Irrtümer: gegen den Glauben, die
Autorität und das Eigentum (Collectio Lacensis
VI 743) kehrt im Eingang der Enzyklika „Quanta
cura“ wieder. In der Civilta cattolica 1851
wurde empfohlen, mit der Bulle über die unbefleckte
Empfängnis eine Verdammung der Irrtümer zu
verbinden. Pius IX. beauftragte im Jahr 1852
den Kardinal Fornari, eine Reihe von Bischöfen
und andern Gelehrten darüber zu befragen. Die
zur Vorbereitung für die Bulle über die unbefleckte
Empfängnis eingesetzte Kommission wurde nach
Vollendung dieser Aufgabe mit dem Studium
der modernen Irrtümer und der Ausarbeitung
eines Aktenstücks zu ihrer Verurteilung betraut.
Diese bestand bis zum Jahr 1860. Da am
23. Juli 1860 der Bischof Gerbet von Per-
pignan in einer Instruktion an seinen Klerus
85 moderne Irrtümer zusammengestellt hatte, so
befahl Pius IX., dieses Verzeichnis zur Grund-
lage des vorzubereitenden päpstlichen Erlasses zu
nehmen. Die neue Kommission begann im Jahr
1861 unter dem Vorsitz Caterinis ihre Arbeiten.
Anfangs nur fünfgliedrig wurde sie noch in dem-
selben Jahr erweitert. Die nunmehr zwölfgliedrige
Kommission bestand zur Hälfte aus Weltpriestern,
zur Hälfte aus Ordensgeistlichen; von diesen
waren Mitglieder zwei Benediktiner, ein Kapu-
ziner, ein Servit, ein Augustinerchorherr und ein
Jefuit (Perrone). Die Frucht der Arbeiten dieser
Kommission war ein Syllabus von 61 Thesen,
deren jede ihre theologische Zenfur beigesetzt er-
halten hatte. Pius IX. ließ diese Arbeit den im
Jahr 1862 in Rom versammelten Bischöfen vor-
legen und verwarf in der Allokution „Maxima
duidem“ (9. Juni 1862) im voraus die neuen
Thesen des genannten Verzeichnisses. Aber zur
Promulgation kam es nicht, und zwar wohl aus
folgendem Grunde. Im Okt. 1862 erfolgte
eine vorzeitige Veröffentlichung des ganzen Ver-
zeichnisses in einem kirchenfeindlichen Wochenblatt
in Turin (II Mediatore), die großes Aufsehen
erregte. Deshalb wollte Pius IX. den Plan in
Syllabus.
368
einer andern Form durchführen. Man kam auf
den Gedanken, ein Verzeichnis der modernen Irr-
tümer aus den bisherigen Akten Pius' IX. her-
zustellen. Pius IX. setzte zu diesem Zweck eine
neue Kommission ein, deren hervorragendstes Mit-
glied der Barnabit Bilio war. Ihr Werk war
der jetzige Syllabus von 80 Sätzen, ohne eine
besondere theologische Zensur, weil eben Pius IX.
in seinen Erlassen auch nur eine allgemeine Ver-
urteilung derselben ausgesprochen hatte. Ubrigens
sind von den im Fornarischen Fragebogen auf-
gestellten 28 Sätzen 22, von den im Jahr 1862
den Bischöfen zu Rom vorgelegten 61 Thesen 30
übernommen. Die Absicht war also zweifellos,
ein Verzeichnis der grassierenden Irrtümer herzu-
stellen und deren Verurteilung durch den Papst
ohne Angabe der besondern Note, also in globo,
auszusprechen. Die Wichtigkeit dieser Publikation
besteht demgemäß darin, daß die sonst in einer
fortlaufenden Allokution verloren gehenden Sätze
scharf formuliert herausgestellt sind und durch die
Vollständigkeit der Sammlung eine Gesamtdoktrin
für die katholische Weltanschauung geboten wird.
Es war eine Entscheidung der höchsten kirchlichen
Autorität beabsichtigt.
Die 1862 zu Rom versammelten Bischöfe haben
Pius IX. am 8. Juni zugestimmt. „Wir ver-
urteilen die Irrtümer, welche du verurteilt hast;
wir verabscheuen und verwerfen die neuen und
fremden Lehren, welche zum Schaden der Kirche
da und dort verbreitet werden; wir mißbilligen
und verdammen die Sakrilegien, Räubereien, Ver-
letzungen der kirchlichen Immunität und andere
Schandtaten, welche gegen die Kirche und den
Stuhl Petri begangen worden sind“ (Recueil
526). In der Allokution „Maxima quidem“
(9. Juni 1862) sagt Pius IX. zu den versammelten
Bischöfen: „Wir verwerfen und verdammen na-
mentlich alle die oben genannten Irrtümer, welche
nicht nur dem katholischen Glauben und der katho-
lischen Lehre, den göttlichen und kirchlichen Ge-
setzen, sondern auch dem ewigen und natürlichen
Gesetz, der natürlichen Gerechtigkeit und der ge-
sunden Vernunft durchaus widersprechen und aufs
höchste entgegen sind.“ Am 16. Juni 1867 er-
klärte Pius IX. vor den versammelten Bischöfen:
„Gott hat mich aufgestellt, um die Gesellschaft zu
leiten und zu erleuchten, um sie zu der Erkenninis
des Ubels zu befähigen, und offen dafür das Heil-
mittel zu bezeichnen. Um diese Pflicht zu erfüllen,
habe ich vor wenigen Jahren eine Erklärung,
welche eurem Andenken noch gegenwärtig ist, den
Syllabus, veröffentlicht. Diese Erklärung bekräf-
tige ich in eurer Gegenwart. Hinfort sollte sie die
Richtschnur all eurer Lehre sein. Die Erklärung,
welche ich veröffentlicht habe, wird diese Lichtsäule
(in der Wüste) sein.“ Erzbischof Manning be-
zeugt in seinem nach der Rückkehr vom Zentena-
rium veröffentlichten Hirtenbrief: „(Die in Rom
versammelten 500 Bischöfe) erneuerten vor dem
Grab des Apostels ihre Gesinnung, welche sie