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bereits einzeln in Mitte ihrer Herde zu den vom
Papst erlassenen Aussprüchen gegeben hatten.
Die Enzyklika „Quanta cura“ und der Syl-
labus ... sind von ihnen aufgenommen worden
als ein Ausfluß des höchsten Lehramts der Kirche
durch die Person ihres Hauptes, welches durch
den besondern Beistand des Heiligen Geistes vor
Irrtum bewahrt wird. Sie fügten keineswegs
Gewißheit demjenigen hinzu, was schon unfehl-
bar“ (s. Schneemann, Die kirchliche Lehrgewalt
118680 21 f). Diese Zustimmung des Episkopats
verändert das Wesen des Syllabus allerdings
nicht, zeigt aber, wie man denselben nach den
Intentionen und den Aussprüchen des Papstes
beurteilte. Vor dem vatikanischen Konzil wurden
Stimmen laut, daß man die Enzyklika „Quanta
cura“ und den Syllabus dogmatisieren oder doch
den Verhandlungen zugrunde legen soll (Coll.
Lac. VII 1019). Dies geschah aber nicht. Daß
einzelne Thesen in die Begründung verwoben
wurden, kann um so weniger auffallen, als auch
die Enzykliken Pius' IX. reichlich verwertet wur-
den. In dem Schema über die Kirche waren
besonders die Sätze von der sichtbaren Gesellschaft
verwendet (ebd. VII 567 ff). Indirekt bezieht sich
Leo XIII., „Inscrutabili“ (21. April 1878),
auf den Syllabus, wenn er zur Verwerfung der
Irrlehren auffordert: „Mit Bezug darauf haben
die römischen Päpste, Unsere Vorgänger, und zu-
letzt Pius IX., zumal im Konzil vom Vatikan, es
nie vernachlässigt, allemal, wenn es notwendig
war, die Irrtümer zu verwerfen, welche in die
Kirche Gottes einzudringen drohten, und dieselben
mit kirchlichen Zensuren zu belegen. Wir folgen
Unsern Vorgängern, gehen den gleichen Weg wie
sie und bestätigen und erneuern alle diese Ver-
urteilungen, die vom Apostolischen Stuhl aus-
gegangen sind“ (Leonis Papae XIII Allocu-
tiones etc. 1 [Brügge 1887)] 11). Am 27. Juli
1884 schrieb er an Bischof Dubert von Perigueux:
„Die von diesem Heiligen Stuhl ausgehenden
Unterweisungen, welche im Syllabus und andern
offiziellen Aktenstücken Unseres Vorgängers wie in
Unsern eignen Enzykliken enthalten sind, tun den
Gläubigen auf klare Weise kund, welches ihre
Gesinnungen und ihr Wandel in den schwierigen
Lagen der Zeiten und Dinge sein müssen"“ (ebd.
II 78). In der Enzyklika „Immortale Dei“
(1. Nov. 1885) weist er auf den Besehl Pius' IX.
hin, die Irrtümer zusammenzustellen, um den Ka-
tholiken eine Norm zu geben (ebd. II 160). End-
lich sei noch das Urteil des Kardinal-Erzbischofs
Fischer beigefügt. Er bemerkt in seinem Pastoral=
schreiben vom 19. März 1903: „Es ist am Platz,
an dieser Stelle auch den, Syllabus der Irrtümer"
zu erwähnen, welchen vor etwa 40 Jahren Pius IX.
verfaßt hat, der gleichsam der Probierstein dieser
Zeit ist, durch den unterschieden wird, was mit
der katholischen Wahrheit übereinstimmt oder ihr
widerspricht. Es ist in der Tat zu bedauern, daß
namentlich neuestens sich katholische Schriftsteller
Syllabus.
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gefunden haben, die, um nicht etwas von ihren
vorgefaßten Meinungen abziehen zu müssen, die
Kraft und Autorität dieses sehr wichtigen Doku-
ments verwegen zu vermindern oder zu beseitigen
gewagt haben.“ Aus all dem folgt, daß dem
Syllabus eine hohe Lehrautorität zukommt, aber
nicht der Charakter einer Kathedralentscheidung.
Zwar haben letzteres manche Theologen ange-
nommen (Rieß, Eine Vorfrage über die Ver-
pflichtung (1865 95 ff; Schneemann a. a. O.
21ff; Schrader, Der Papst und die modernen
Ideen. 2. Hft: Die Enzyklika vom 8. Dez. 1864
[„18661 42f; Scheeben, Handbuch der katholi-
schen Dogmatik 1/(18731 229; Rinaldi, II valore
del Sillabo (1888 7 ff; Kardinal Mazella, De
religione et ecclesia Rom 11892)] Nr 1052,
Note). Andere aber sind gegen eine Kathedral-
entscheidung (Feßler, Wahre und falsche Unfehl-
barkeit ([I1871) 58f; Bischof Rudigier von Linz,
vgl. dessen Leben von Meindl 1 (18911 623;
Tosi a. a. O. 11 ff; Hergenröther, vgl. oben;
Frins, Kirchenlexikon XI2 1019 ff; Heiner, Der
Syllabus in ultramontaner und antiultramon-
taner Beleuchtung 1905] 11 ff; Choupin, Valeur
des décisions doctrinales et disciplinaires du
Saint-Siege (Par. 1907] 121 ). Wohl lassen
sich keine absolut sichern Kriterien für das Vor-
handensein einer Kathedralentscheidung angeben,
aber nach den Normen des Vaticanums muß doch
die Absicht aus der Form und Mdresse erkennbar
sein, wie es z. B. bei der Dogmatisierung der
unbefleckten Empfängnis Marias der Fall ist. Die
ganze Form, die Art der Veröffentlichung, die
Beziehung auf die Dokumente, welche gegen be-
sondere geschichtliche Erscheinungen in Staat und
Kirche, in Wissenschaft und Moral gerichtet waren,
sprechen dafür, daß eine zu einem Glaubensakt
verpflichtende Kathedralentscheidung beim Syl-
labus nicht beabsichtigt war, aber jedenfalls eine
die Katholiken, je nach der Deutung der einzelnen,
nicht besonders theologisch zensurierten Thesen
auch zu innerlichem Gehorsam (Syll. 22. Pesch,
Theologische Zeitfragen (1900)] 34 ff) verpflich-
tende Doktrin des allgemeinen Lehramts aufgestellt
werden wollte. Durch die Unterscheidung zwischen
den dogmatischen Urteilen, welche bestimmte Sätze
zur Aufnahme vorschreiben, und jenen, die es nur
in weiterem Sinn sind, indem sie im allgemeinen
gewisse Sätze verwerfen, sucht Hergenröther den
Gegensatz auszugleichen. Die geschichtliche Ver-
anlassung, welche besonders in der Stellung Sar-
diniens zum Kirchenstaat und in der Verletzung
der konkordatsmäßig zugestandenen Rechte der
Kirche in den südamerikanischen Republiken zu
suchen ist, genügt nicht im geringsten, um die Trag-
weite des Dokuments auf die Zeitgeschichte zu be-
chränken (Ehrhard, Der Katholizismus und das
20. Jahrh. im Licht der kirchlichen Entwicklung der
Neuzeit (121902)] 260 ff. Etwas anders in der
zweiten Schrift: Liberaler Katholizismus [1902]
151 ff). Richtig ist, daß diese Sätze als Irrtümer
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