Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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in dem Sinn zu betrachten sind, in welchem sie 
in den angegebenen lehramtlichen Kundgebungen 
des Papstes verstanden und verworfen werden, 
aber dies ist nicht die einzige verpflichtende 
Kraft des Syllabus. Die Aufstellung des Syl- 
labus ist selbstverständlich eine historische Tat- 
sache, aber dies gilt von jeder päpstlichen Kund- 
gebung, ohne daß man deshalb von einer zeit- 
geschichtlichen Tragweite im Gegensatz zu einer 
dogmatischen sprechen könnte. Denn auch der 
Syllabus ist, wie die Geschichte seiner Entstehung 
zeigt, keine Privatarbeit, wenn er auch den „Cha- 
rakter einer selbständigen dogmatischen Entschei- 
dung“ nicht besitzt. Die Quellenangabe schließt 
eine solche nicht aus, sondern zeigt die Kontinuität 
der lehrenden Autorität. Etwas absolut Neues 
kann es ja in der Kirche nicht geben. Bei der 
Deutung wird freilich das geschichtliche Moment, 
zumal bei historischen Sätzen (23. 34), mehr zu 
berücksichtigen sein, weil keine positiven Sätze ge- 
geben und keine Zensur beigefügt ist, so daß Sinn 
und Tragweite nach dem Qualifikationsgrund des 
verurteilten Irrtums erst näher zu bestimmen sind. 
Es wird allgemein angenommen, daß nicht der 
konträre, sondern der kontradiktorische Gegensatz 
die Lehre des Papstes am besten ausdrückt. Tosi, 
Schrader, Heiner haben deshalb die gegensätzliche 
Idee je formuliert und Tosi und Heiner haben 
außerdem eine gute Begründung gegeben. Daraus 
folgt aber nicht, daß der kontradiktorische Gegensatz 
als Glaubenslehre der Kirche anzusehen ist. Die 
Enzykliken Leos XlII. haben gezeigt, wie die 
wichtigen Fragen über Wissenschaft und Glaube, 
Kirche und Staat, Familie und Ehe, Christentum, 
Politik und Staatsverfassung nach den christ- 
lichen und katholischen Prinzipien zu beurteilen 
und auf die verschiedenen Verhältnisse anzuwenden 
sind. Dadurch haben die Sätze des Syllabus 
zwar nicht eine „feierliche Bestätigung“ (Rönneke 
a. a. O. 10), aber doch eine authentische Erklärung 
und sachliche Empfehlung erhalten (Schneider, 
Die fundamentale Glaubenslehre der katholischen 
Kirche, vorgelegt und gegen die modernen sozialen 
Irrtümer verteidigt von Papst Leo XIII. (1903) 
1 ff 123 ffh. 
III. Bedeutung. Die Bedeutung des Syl. 
labus beruht negativ in der Verurteilung der Irr- 
tümer der modernen Weltanschauung, welche zu 
allen Zeiten dieselbe ist und bleibt, aber den verschic- 
denen Verhältnissen und Bedürfnissen der Zeiten 
und Völker Rechnung zu tragen weiß. Die dog- 
matischen und siktlichen Grundlagen bleiben uner- 
schütterlich und unveränderlich, aber die Anwendung 
gestaltet sich verschieden. Da nun der Syllabus 
gegen die modernen Irrtümer gerichtet ist, so zeigt 
er, welche Stellung der gläubige Katholik gegen 
diese einzunehmen und was er von der modernen 
Kultur als berechtigtes Element zu der Betätigung 
und Verteidigung seiner Weltanschauung auf- 
nehmen kann. Diese Beurteilung ist heute leichter 
als beim Erscheinen des Syllabus, weil das Vati- 
Syllabus. 
  
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canum und Leo XIII. die grundsätzliche Stellung 
und die praktische Haltung der Kirche zu der mo- 
dernen Gesellschaft genau bestimmt und erklärt 
haben. Als moderne Irrtümer, welche Pius IX. 
verurteilte, wurden schon vor Erscheinen des Syl- 
labus bezeichnet: Irrtümer gegen den Glauben: 
Rationalismus, Pantheismus, Atheismus, reli- 
giöser Indifferentismus, Verweltlichung des Sa- 
kraments der Ehe; Irrtümer gegen die Moral: 
Materialismus, Naturalismus, Kommunismus, 
Faustrecht, Ungehorsam, Revolution, Leugnung 
der göttlichen und kirchlichen Gebote; Irrtümer 
in der Ordnung der Freiheit und des Rechts: 
Gewissensfreiheit, Religions- und Kultusfreiheit, 
Indifferentismus, Toleranz, Freiheit der Wissen- 
schaft, der Rede, der Presse, Recht der Revolution, 
Trennung von Staat und Kirche, Schule und 
Kirche. Der Syllabus entspricht insofern dieser 
Aufzählung, als er die Irrtümer gegen den Glau- 
ben (1/18) und die Moral (56/64), welche die 
Grundlagen des religiösen und sittlichen Lebens 
untergraben, in ihren verschiedenen Fassungen 
verurteilt, dann aber die konkreten Mächte, in 
welchen dieselben geschichtlich zur Auswirkung 
kommen, an sich und in ihrem gegenseitigen Ver- 
hältnis ins Auge faßt und die Irrtümer über die 
Kirche und ihre Rechte (19/38), über die bürger- 
liche Gesellschaft und ihre Beziehungen zur Kirche 
(39/55), über die Ehe (65/74), den Kirchenstaat 
(75/76) und den modernen religiösen Liberalis- 
mus (77/80) verwirft. Da die Einzelnoten nicht 
angegeben sind, so ist die verschiedene Art der 
Zensur erst durch die theologische und geschichtliche 
Untersuchung herauszustellen. Nicht alle Sätze 
sind häretisch, wenn auch das „notantur“"“ — 
„verworfen werden“ an der Spitze steht und Graf 
Berlinghieri 1865 seine Schrift „Die 80 Häresien“ 
betitelt hat und von Pius IX. belobt wurde, denn 
Nota ist in diesem Kontext identisch mit Zensur; 
eine solche ist aber schon durch „verwegen“, „irr- 
tümlich“", „dem Irrtum nahe“ ausgesprochen. Als 
geringste Note wird „gegen die gesunde Lehre ver- 
stoßend“ angegeben. Dabei ist auf die Form zu 
achten und die exklusive Erklärung zu vermeiden. 
Die Sätze über den modernen Unglauben, den 
Materialismus und Rationalismus, den Indiffe- 
rentismus und Latitudinarismus sollen nicht etwa 
nur der „künstliche Pulverdampf sein, hinter wel- 
chem die feindselige taktische Aufstellung gegen die 
besten Errungenschaften des auf den Grundsätzen 
der Resormation stehenden modernen Staats= und 
Kulturlebens genommen wird“ (Nönneke a. a. O. 
Vul), sondern sollen die Wurzel aller Übel des 
modernen Lebens im Staat und in der Gesell- 
schaft bloßlegen, die Leugnung des Übernatür- 
lichen und die Erhebung der Vernunft zum 
alleinigen Prinzip (1. 3). Davon wird der Pro- 
testantismus nur insoweit getroffen, als er in der 
modernen Theologie (Hegel, Strauß, Baur) diesen 
Geist sich angeeignet hat (Schneider a. a. O. 114 ff). 
Das Eindringen des Rationalismus in die katho-
	        
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