371
in dem Sinn zu betrachten sind, in welchem sie
in den angegebenen lehramtlichen Kundgebungen
des Papstes verstanden und verworfen werden,
aber dies ist nicht die einzige verpflichtende
Kraft des Syllabus. Die Aufstellung des Syl-
labus ist selbstverständlich eine historische Tat-
sache, aber dies gilt von jeder päpstlichen Kund-
gebung, ohne daß man deshalb von einer zeit-
geschichtlichen Tragweite im Gegensatz zu einer
dogmatischen sprechen könnte. Denn auch der
Syllabus ist, wie die Geschichte seiner Entstehung
zeigt, keine Privatarbeit, wenn er auch den „Cha-
rakter einer selbständigen dogmatischen Entschei-
dung“ nicht besitzt. Die Quellenangabe schließt
eine solche nicht aus, sondern zeigt die Kontinuität
der lehrenden Autorität. Etwas absolut Neues
kann es ja in der Kirche nicht geben. Bei der
Deutung wird freilich das geschichtliche Moment,
zumal bei historischen Sätzen (23. 34), mehr zu
berücksichtigen sein, weil keine positiven Sätze ge-
geben und keine Zensur beigefügt ist, so daß Sinn
und Tragweite nach dem Qualifikationsgrund des
verurteilten Irrtums erst näher zu bestimmen sind.
Es wird allgemein angenommen, daß nicht der
konträre, sondern der kontradiktorische Gegensatz
die Lehre des Papstes am besten ausdrückt. Tosi,
Schrader, Heiner haben deshalb die gegensätzliche
Idee je formuliert und Tosi und Heiner haben
außerdem eine gute Begründung gegeben. Daraus
folgt aber nicht, daß der kontradiktorische Gegensatz
als Glaubenslehre der Kirche anzusehen ist. Die
Enzykliken Leos XlII. haben gezeigt, wie die
wichtigen Fragen über Wissenschaft und Glaube,
Kirche und Staat, Familie und Ehe, Christentum,
Politik und Staatsverfassung nach den christ-
lichen und katholischen Prinzipien zu beurteilen
und auf die verschiedenen Verhältnisse anzuwenden
sind. Dadurch haben die Sätze des Syllabus
zwar nicht eine „feierliche Bestätigung“ (Rönneke
a. a. O. 10), aber doch eine authentische Erklärung
und sachliche Empfehlung erhalten (Schneider,
Die fundamentale Glaubenslehre der katholischen
Kirche, vorgelegt und gegen die modernen sozialen
Irrtümer verteidigt von Papst Leo XIII. (1903)
1 ff 123 ffh.
III. Bedeutung. Die Bedeutung des Syl.
labus beruht negativ in der Verurteilung der Irr-
tümer der modernen Weltanschauung, welche zu
allen Zeiten dieselbe ist und bleibt, aber den verschic-
denen Verhältnissen und Bedürfnissen der Zeiten
und Völker Rechnung zu tragen weiß. Die dog-
matischen und siktlichen Grundlagen bleiben uner-
schütterlich und unveränderlich, aber die Anwendung
gestaltet sich verschieden. Da nun der Syllabus
gegen die modernen Irrtümer gerichtet ist, so zeigt
er, welche Stellung der gläubige Katholik gegen
diese einzunehmen und was er von der modernen
Kultur als berechtigtes Element zu der Betätigung
und Verteidigung seiner Weltanschauung auf-
nehmen kann. Diese Beurteilung ist heute leichter
als beim Erscheinen des Syllabus, weil das Vati-
Syllabus.
372
canum und Leo XIII. die grundsätzliche Stellung
und die praktische Haltung der Kirche zu der mo-
dernen Gesellschaft genau bestimmt und erklärt
haben. Als moderne Irrtümer, welche Pius IX.
verurteilte, wurden schon vor Erscheinen des Syl-
labus bezeichnet: Irrtümer gegen den Glauben:
Rationalismus, Pantheismus, Atheismus, reli-
giöser Indifferentismus, Verweltlichung des Sa-
kraments der Ehe; Irrtümer gegen die Moral:
Materialismus, Naturalismus, Kommunismus,
Faustrecht, Ungehorsam, Revolution, Leugnung
der göttlichen und kirchlichen Gebote; Irrtümer
in der Ordnung der Freiheit und des Rechts:
Gewissensfreiheit, Religions- und Kultusfreiheit,
Indifferentismus, Toleranz, Freiheit der Wissen-
schaft, der Rede, der Presse, Recht der Revolution,
Trennung von Staat und Kirche, Schule und
Kirche. Der Syllabus entspricht insofern dieser
Aufzählung, als er die Irrtümer gegen den Glau-
ben (1/18) und die Moral (56/64), welche die
Grundlagen des religiösen und sittlichen Lebens
untergraben, in ihren verschiedenen Fassungen
verurteilt, dann aber die konkreten Mächte, in
welchen dieselben geschichtlich zur Auswirkung
kommen, an sich und in ihrem gegenseitigen Ver-
hältnis ins Auge faßt und die Irrtümer über die
Kirche und ihre Rechte (19/38), über die bürger-
liche Gesellschaft und ihre Beziehungen zur Kirche
(39/55), über die Ehe (65/74), den Kirchenstaat
(75/76) und den modernen religiösen Liberalis-
mus (77/80) verwirft. Da die Einzelnoten nicht
angegeben sind, so ist die verschiedene Art der
Zensur erst durch die theologische und geschichtliche
Untersuchung herauszustellen. Nicht alle Sätze
sind häretisch, wenn auch das „notantur“"“ —
„verworfen werden“ an der Spitze steht und Graf
Berlinghieri 1865 seine Schrift „Die 80 Häresien“
betitelt hat und von Pius IX. belobt wurde, denn
Nota ist in diesem Kontext identisch mit Zensur;
eine solche ist aber schon durch „verwegen“, „irr-
tümlich“", „dem Irrtum nahe“ ausgesprochen. Als
geringste Note wird „gegen die gesunde Lehre ver-
stoßend“ angegeben. Dabei ist auf die Form zu
achten und die exklusive Erklärung zu vermeiden.
Die Sätze über den modernen Unglauben, den
Materialismus und Rationalismus, den Indiffe-
rentismus und Latitudinarismus sollen nicht etwa
nur der „künstliche Pulverdampf sein, hinter wel-
chem die feindselige taktische Aufstellung gegen die
besten Errungenschaften des auf den Grundsätzen
der Resormation stehenden modernen Staats= und
Kulturlebens genommen wird“ (Nönneke a. a. O.
Vul), sondern sollen die Wurzel aller Übel des
modernen Lebens im Staat und in der Gesell-
schaft bloßlegen, die Leugnung des Übernatür-
lichen und die Erhebung der Vernunft zum
alleinigen Prinzip (1. 3). Davon wird der Pro-
testantismus nur insoweit getroffen, als er in der
modernen Theologie (Hegel, Strauß, Baur) diesen
Geist sich angeeignet hat (Schneider a. a. O. 114 ff).
Das Eindringen des Rationalismus in die katho-