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und Kirche verlangt, wie sie in den Vereinigten
Staaten Amerikas durchgeführt ist. Diese For-
derung ist im Syllabus verworfen, weil sie im
Widerspruch steht mit der ganzen geschichtlichen
Entwicklung, mit den feierlichen Verträgen und
Verfassungen der katholischen Staaten und der
religiös-sittlichen Aufgabe des Staats, welche nur
im Verein mit der Kirche gelöst werden kann
(Schneider a. a. O. 93 ff). Daß sie unter
ganz andern Verhältnissen anerkannt werden kann,
zeigt die katholische Kirche in Nordamerika (a. a. O.
133 ff). Insbesondere sind die Ehe und Fa-
milie für Kirche und Staat als Grundlage einer
geordneten Gesellschaft gleich wichtig. Die Kirche
hat durch zahlreiche Bestimmungen und Be-
dingungen das sittliche Leben der durch die Leiden-
schaften bedrohten Gläubigen zu heben gesucht und
gewußt und muß gegenüber den Bestrebungen zur
Entchristlichung der Ehe und Familie für sich das
Recht in Anspruch nehmen, den sakramentalen Cha-
rakter der Ehe und die Konsequenzen hieraus zu
wahren, wenn sie auch über die bürgerlichen und
rechtlichen Folgen den Staat entscheiden läßt und
manches unter veränderten Verhältnissen toleriert,
was sie in früheren Zeiten zurückgewiesen hat
(Scherer, Handb. des Kirchenrechts II/(18921 89.
105. 109. 205 ff; Schneider a. a. O. 232 ffj.
Bedenkt man, daß der „Fortschritt, der Liberalis-
mus und die moderne Zivilisation“ prinzipiell in
schroffem Gegensatz zu der katholischen Kirche, der
geoffenbarten Religion mit ihren Lehren und
Satzungen stehen und auf die kirchliche Gemein=
schaft einen staatlichen Zwang ausüben wollen,
und daß die Vertreter derselben, wie Nuytz (Turin)
und Vigil (Lima), im Namen der Gewissensfreiheit
und des Staatsabsolutismus die Kirche in ihrem
äußern Bestand (Kirchenstaat) und ihrer Ver-
fassung und Lehre mit allen Mitteln der Wissen-
schaft bekämpften, so begreift man die allgemeine
Verurteilung dieses freiheitsfeindlichen, antikirch-
lichen und antireligiösen „heutigen“ Liberalismus
und die Weigerung der Kirche, sich mit dieser
Kultur auszusöhnen. Die wahre Kultur, welche
Syllabus.
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IV. Wirktung. Die Wirkungen des Syllabus
waren gewaltig für Freund und Feind. Er wurde
von den einen als ein epochemachendes Manifest
des Papstes begrüßt, durch welches die Katholiken
zu rechter Zeit gegen die Bestrebungen religiöser
und sittlicher Auflösung eine klare und bestimmte
Grundlage für ihr gesamtes Kämpfen und Leben
erhielten (Tosi a. a. O. 2 ff), von manchen
Katholiken wurde er zwar mit einigen Befürch-
tungen ausgenommen, aber doch als Weg-
weiser anerkannt, dagegen von den Gegnern der
Kirche als ein förmliches Absageschreiben des
Papstes an die moderne Kultur verurteilt. Ruß-
land gestattete die Veröffentlichung der Enzyklika
und des Syllabus nicht. Auch Napoleon III.
ließ durch ein Zirkular seines Kultusministers
vom 1. Jan. 1865 allen Bischöfen Frankreichs
die Veröffentlichung verbieten. Das gleiche ge-
schah seitens des Königs Viktor Emmanuel
am 8. Jan. 1865 für die ihm damals unter-
worfenen Landesteile Italiens. Die Bischöfe bei-
der Länder antworteten mit Protesten, und der
ganze Klerus schloß sich ihnen an. Die liberalen
Protestanten legten Verwahrung gegen den Syl-
labus und andere päpstliche Aktenstücke ein. So
eine Protestantendersammlung am 31. Mai 1869
). zu Worms „insonderheit gegen die in der päpst-
lichen Enzyklika vom 8. Dez. 1864 und in dem
damit verbundenen Syllabus ausgesprochenen
staatsverderblichen und kulturwidrigen Grund-
sätze“, der Vorsitzende des protestantischen Pre-
digervereins zu Genf in einem Aufruf „an alle
evangelischen Christen“ (Coll. Lac. VII 1130.
1133). Zwar hat das valikanische Konzil die
Befürchtungen des französischen Kultusministers
(ebd. VII 1153 ff 1166) und des bayrischen
Ministerpräsidenten Fürsten Hohenlohe, welcher
in einem Rundschreiben zum voraus dagegen pro-
testierte (ebd. VII 1199), sowie des Professors Döl-
linger (Janus), daß der Syllabus dogmatisiert
werde, nicht erfüllt, aber doch wurden die Beschlüsse
des Konzils als Bestätigung (8/11. 14. 15. 18.
26. 33. 45/48) aufgefaßt und verwertet. Auch
neben den physischen und technischen Fortschritten der „Janus“ klagt (S. 265), daß die Autorität
auch die Kräfte des Glaubens und der Sitte gelten
des Syllabus seit 1870 gestiegen sei. Ins-
läßt und ein höheres Ziel der Menschheit aner= besondere hat sich auch Fürst Bismarck am
kennt, ist nicht nur nicht verurteilt, sondern wurde 30. Juni 1871 dahin geäußert, daß durch die
von jeher auch von der Kirche gefördert und ver- Beschlüsse des Konzils die Beziehungen zwischen
wendet. In diesem Sinn wurde der Liberalismus der katholischen Kirche und der Staatsgewalt
auch von Leo XlIII. verurteilt. Es kann sich also wesentlich berührt worden seien und in dem auf
nicht um eine Wiederherstellung der mittelalter= dem Konzil endgültig festgestellten „Syllabus“
lichen Kirche in allen ihren Beziehungen handeln,
sondern nur um eine Wahrung der unvergäng-
lichen Rechte, welche unter veränderten Verhält-
nissen andere Formen annehmen, aber nicht eigen-
mächtig verworfen werden können. Der Glaubens-=
zwang mit allen seinen Folgen ist ausgeschlossen,
aber das Recht der Kirche als einer selbständigen
Gesellschaft bleibt (Schneider a. a. O. 13 ff 124 ff
224 ff 351 ff). Vgl. die Art. Kirche und Staat,
Bekenntnisfreiheit, Parität, Toleranz.
über die Irrtümer unserer Zeit in religiöser, poli-
tischer und sozialer Beziehung Auffassungen und
Lehren enthalten seien, deren ernste Durchführung
seitens der katholischen Kirche zu einer Erschütte-
rungaller weltlichen Staatsgewalt unbedingt führen
müsse (Coll. Lac. VII 1611). Der „Kulturkampf“
hat aber gezeigt, daß es sich um wesentliche Rechte
der Kirche handelte, welche die Staatsgewalt nicht
ohne eigne Schädigung angreifen kann. Er hat
gerade dazu beigetragen, die Stellung der katho-